Im Schatten des Ukrainekriegs und seiner außergewöhnlichen medialen Aufmerksamkeit rückt der Konflikt über Nordkoreas Atomambitionen derzeit in den Hintergrund. Seit Jahren treibt die Regierung in Pjöngjang ihr Programm kontinuierlich voran. Nach zahlreichen Raketentests zu Beginn dieses Jahres verabschiedete nach Angaben der englischsprachigen staatlichen Nachrichtenagentur KCNA vom 8. September der Oberste Volkskongress ein Gesetz „Über die Politik der Nuklearstreitkräfte der Demokratischen Volksrepublik Koreas“. Bemerkenswert an diesem Gesetz ist vor allem, dass im Konfliktfalle, falls sich Nordkorea angegriffen fühlt, Staatschef Kim Jong-un einen Atomschlag „automatisch und unmittelbar“ befehlen kann, „um feindliche Kräfte zu vernichten“.
Beachtenswert ist nicht, dass der Diktator mit quasi unbegrenzter Machtfülle ausgestattet wird. Das war auch bislang auf allen relevanten innen- und außenpolitischen Feldern der Fall. Zwar heißt es im Gesetz, Atomwaffen sollten der Abschreckung dienen, aber aufhorchen lassen muss die Ankündigung, möglicherweise zu einem nuklearen Erstschlag auszuholen, um die Existenz der nordkoreanischen Gesellschaft oder auch des Regimes zu sichern. Denn anders ist die Formulierung „automatisch und unmittelbar“ kaum zu interpretieren.
Was will Nordkorea mit der Verabschiedung dieses Gesetzes erreichen? Erklärt es sich unwiderruflich zur Nuklearmacht oder gibt es doch noch Spielraum für Verhandlungen? Nach Einschätzung der New York Times, die sich auf offizielle Nachrichtenquellen in Pjöngjang beruft, gebe es nach Aussagen Kim Jong-uns „absolut keine Denuklearisierung, keine Verhandlung und keine Trumpfkarten“, die bei Abrüstungsgesprächen ausgespielt werden könnten. Ist das Gesetz eine Reaktion auf die großen Militärmanöver Südkoreas und der USA, bei denen Ende August 28 000 US-Soldaten eingesetzt wurden? Treibt die Regierung die Sorge um, dass die Versuche der USA, in Asien Militärallianzen mit Australien, Japan und Südkorea gegen China zu schmieden, auch Nordkorea sicherheitspolitisch bedrohen könnten? Im August nannte Pjöngjang diese militärische Kooperation „einen gefährlichen Auftakt zur Schaffung einer asiatischen NATO“. Will sich das Land mit diesem Gesetz international wieder ins Gespräch bringen? Denn nach wie vor ist Nordkorea weitgehend isoliert und ächzt unter den harten UN-Wirtschaftssanktionen, die wegen des Atomprogramms verhängt wurden.
Oder ist es ein Mittel zur Auseinandersetzung mit Südkorea? Über die wirklichen Ziele darf angesichts der Intransparenz der nordkoreanischen Politik spekuliert werden. Als Yoon Suk-yeol im März dieses Jahres Präsident von Südkorea wurde, erwarteten viele Beobachter, er würde eine konfrontative Politik gegenüber dem Nachbarn im Norden verfolgen, so wie er es im Wahlkampf als „Falke“ betont hatte. Die südkoreanische Politik hat seit Jahrzehnten mehrfach hin- und hergeschwankt zwischen Konfrontation mit starken Streitkräften zur Abschreckung des Nordens und der sogenannten „Sonnenscheinpolitik“, die auf friedliches Miteinander, Denuklearisierung und wirtschaftliche Anreize setzte. Interessanterweise machte Yoon Suk-yeol schon zu Beginn seiner Amtszeit ein Angebot an den Norden: „Wenn Nordkorea wirklich einen Prozess zur vollständigen Denuklearisierung einleitet, sind wir bereit, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, um einen kühnen Plan vorzulegen, der die nordkoreanische Wirtschaft erheblich stärken und die Lebensqualität seiner Bevölkerung verbessern wird.“
Nach wie vor ist Nordkorea weitgehend isoliert und ächzt unter den harten UN-Wirtschaftssanktionen.
Die Antwort aus Pjöngjang kam prompt: Kim Yo-jong, die Schwester des Staatschefs, wies den Vorschlag Südkoreas barsch zurück und erteilte Präsident Yoon den Rat, „das Maul zu halten“. Sie hatte auf frühere Avancen aus dem Süden ähnlich drastisch reagiert und beispielsweise im Frühjahr 2021 die Kommunikationszentrale an der innerkoreanischen Grenze in die Luft sprengen lassen. Spätestens seit dem Scheitern der sogenannten Sechs-Parteien-Verhandlungen zwischen den USA, China, Russland, Japan sowie Nord- und Südkorea Ende der 2000er Jahre und der Machtübernahme Kim Jong-uns im Jahr 2011 hat Nordkorea nie ernsthaft über die vollständige Aufgabe des Nuklearprogramms verhandelt. Genau dies war Trumps Missverständnis nach seinen Treffen mit Kim. Langjährige Beobachter hatten auch jetzt nichts anderes erwartet. Man ist geneigt, das Albert Einstein nachgesagte Bonmot zu verwenden: Es ist Wahnsinn, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.
Ist eine Rückkehr Nordkoreas ohne Atomwaffen in die internationale Gemeinschaft überhaupt noch möglich? Was sind die Alternativen zu der seit Jahren festgefahrenen Situation? Sieht man sich die Erfahrungen anderer Länder mit Atomprogrammen außerhalb des Atomwaffensperrvertrags an, dann verheißen die Reaktionen Nordkoreas nichts Gutes. Mehrere alternative Optionen sind zumindest denkbar.
Das Ukrainemodell: Nach fundamentalen politischen Umwälzungen, dem Ende der Sowjetunion, gab die Ukraine 1994 ihre Atomwaffen ab, nachdem in einem Vertrag (Budapester Memorandum) Russland, Großbritannien und die USA der Ukraine Sicherheitsgarantien gaben. Wieviel derartige Garantien wert sind, zeigt Russlands Überfall. Ähnlich wie die Ukraine gab Südafrika 1991, kurz vor dem Ende der Apartheid, sein Atomprogramm auf, zerstörte seine sechs Kernwaffen und trat dem Atomwaffensperrvertrag bei. Mit Sicherheit wird sich Nordkorea auf Sicherheitsgarantien, wie sie der Ukraine gegeben wurden, nicht verlassen. Im Falle Nordkoreas auf eine ähnliche Reaktion wie in der Ukraine oder in Südafrika zu setzen, heißt, auf einen Regimewechsel zu hoffen. Nur bei großem Optimismus über grundlegende potentielle gesellschaftliche Veränderungen in Nordkorea scheint die Einhegung des Atomprogramms möglich.
Das Israelmodell: Israel verfügt über circa 90 Atomsprengköpfe. Doch sämtliche israelische Regierungen haben bislang eine Politik des „neither confirm, nor deny“ verfolgt. Sie äußern sich nicht zu ihrem Atomwaffenarsenal. Nordkoreas Regierung verhält sich völlig anders und betont immer wieder die Notwendigkeit und Effektivität ihrer Nuklearwaffen.
Das Libyenmodell: Die Regierung Gaddafi gab 2003 ihr Atomprogramm auf und verzichtete auf die Entwicklung von Atomwaffen. Die Libyen zugesagte Normalisierung der internationalen Beziehungen blieb jedoch aus. Seit der internationalen Militärintervention 2011 und dem Sturz Gaddafis herrscht Chaos im Land. Libyen wird in Nordkorea als abschreckendes Beispiel interpretiert.
Libyen wird in Nordkorea als abschreckendes Beispiel interpretiert.
Das Iranmodell: Der Vertrag mit dem Iran von 2015 ist ein hervorragendes Beispiel für die Möglichkeiten zur Einhegung von Nuklearprogrammen. Bekanntermaßen hielten sich die USA aber nicht an diesen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag und kündigten ihn 2018. Bis heute sind die Versuche, den Vertrag wiederzubeleben, nicht zu einem Ergebnis gekommen. Auch die Problematik des Iranabkommens wird in Nordkorea als Negativerfahrung wahrgenommen.
Das Indienmodell: Indien ist nicht Mitglied des Atomwaffensperrvertrags und kritisiert diesen Vertrag als unfair. De facto ist das Land aber als Nuklearmacht anerkannt und international gibt es keine Bemühungen, Indien zur Abrüstung der rund 150 Atomsprengköpfe zu drängen. Genau dieses Modell schwebt der nordkoreanischen Regierung vor. Sie möchte als De-facto-Atommacht anerkannt werden. Deshalb betont sie auch in dem neuen Atomwaffengesetz mehrfach, dass sich „die DPRK, als verantwortlicher Nuklearstaat“ gegen jede Form von Krieg, „einschließlich Nuklearkrieg“ wehrt. Im Gegensatz zu Indien ist Nordkorea aber kein international geachtetes demokratisches Land.
Im Gegenteil: Nordkorea ist isoliert und fühlt sich in die Ecke gedrängt. Es betrachtet daher seine Nuklearwaffen – wie es im neuen Gesetz heißt – „als mächtiges Mittel zur Verteidigung seiner Souveränität, der territorialen Integrität und den fundamentalen Interessen des Staates, einen Krieg auf der koreanischen Halbinsel und der nordöstlichen Region Asiens zu verhindern und strategische Stabilität in der Welt zu sichern“. Nordkorea bezeichnet sich selbst und sein Atomprogramm also als stabilisierenden Faktor. Die Atomwaffen betrachtet das Regime Kim Jong-un als seine Lebensversicherung.
Möglicherweise muss die internationale Gemeinschaft schmerzhafte Kompromisse eingehen, um den weiteren Ausbau zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen. Auch der mit dem Iran über viele Jahre ausgehandelte Vertrag von 2015 hatte erhebliche Mängel, trotzdem bot er zumindest die Chance, Irans Atomambitionen zu verhindern. Die Chancen, Nordkorea zur Aufgabe der Kernwaffen zu bewegen, sind hingegen äußerst gering – weil das Regime sehr viel zu verlieren hat.