Aufgrund von Gewaltausschreitungen in Myanmar flohen in den vergangenen Tagen mehr als 120 000 Rohingyas über die Grenze nach Bangladesch. Wie kam es zu dieser Situation?

Ende August eskalierte die Lage im nördlichen Rakhine-Staat an der Grenze zu Bangladesch. Die Rohingya sind eine muslimische, ethnische Minderheit. Obwohl viele der 1,1 Millionen Rohingyas bereits seit Generationen in Myanmar leben, werden sie von der burmesischen Regierung nicht als Staatsangehörige anerkannt. Für die Regierung genauso wie für die meisten buddhistischen Burmesen gelten sie als eine Gruppe von muslimischen Einwanderern. Als Folge der systematischen Diskriminierung werden Rohingyas von staatlichen Dienstleistungen und Bildungseinrichtungen ausgeschlossen. Sie können sich nicht frei bewegen. Die jahrzehntelange Marginalisierung der Rohingyas und der dahinterstehende historische Konflikt wurzeln in der Zeit der britischen Kolonialverwaltung. Seither kommt es immer wieder zu Ausschreitungen, wie auch im vergangenen Monat.

Am 25. August überfiel die bisher kaum bekannte extremistische Gruppe „Arakan Rohingya Salvation Army“ (ARSA) in einer koordinierten Aktion circa 30 Polizei- und Grenzschutzposten der burmesischen Regierung und läutete damit ein neues Kapitel der Gewalt zwischen den Rohingya und der buddhistischen Mehrheitsgesellschaft ein. Die burmesischen Streitkräfte, die auch nach der demokratischen Öffnung des Landes viele Fäden in der Hand halten, reagierten wie auch 2016 mit einer „antiterroristischen“ Militäroperation. Dieses Mal jedoch wesentlich brutaler. Die Lage ist unübersichtlich. Bei den Auseinandersetzungen starben bisher 400 Menschen. Viele Geflohene berichteten von Luftangriffen, Tötungen und Gewaltausschreitungen. Zahlreiche Dörfer sollen abgebrannt sein, vieles spricht für vorsätzliche Brandstiftung.

Es wird von der größten Fluchtbewegung seit Beginn des Konflikts gesprochen. Wie groß ist das Ausmaß?

Innerhalb nur weniger Tage überquerten 123 000 Menschen die Grenze. Internationale Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass die Zahl Geflüchteter weiter steigen wird. Pro Tag versuchen bis zu 30 000 Menschen nach Bangladesch zu kommen. Die tatsächliche Zahl ist unklar. Hilfsorganisation sowie das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen im Rakhine Staat mussten ihre Arbeit einstellen, teils aufgrund der fragilen Sicherheitslage, teils weil die burmesische Regierung den gesamten Norden von Rakhine für den Zugang der internationalen Organisationen gesperrt hat.

Bangladesch sieht zunehmend neben seiner wirtschaftlichen Entwicklung auch die öffentliche Sicherheit in Gefahr.

Bangladeschs Geschichte kennt größere Fluchtbewegungen der Rohingyas. In den Jahren 1978 und 1991 flohen jeweils um die 200 000 und 250 000 Rohingyas in das überwiegend muslimische Land. Beide Male einigten sich Myanmar und Bangladesch auf eine Rücksiedlung, die für die Mehrheit der Geflüchteten erfolgreich vollzogen wurde. Doch die prekäre Lage der Rohingyas in Myanmar blieb unverändert und auch in den darauffolgenden Jahren waren immer wieder Menschen nicht zuletzt aufgrund von Perspektivlosigkeit zur Flucht über die Grenze gezwungen. Andere muslimische Länder wie etwa Malaysia oder Indonesien waren nur selten das Ziel. Zuletzt flohen 2016 innerhalb weniger Monate nach Ausschreitungen zwischen der burmesischen Armee und der ARSA circa 90 000 Menschen nach Bangladesch.

Wie ist die Lage in Bangladesch? Sind Spannungen zu befürchten?

Anfang des Jahres legte die bangladeschische Regierung einen Plan zur Umsiedlung der im Land lebenden Rohingyas auf eine entlegene Insel im Golf von Bengalen vor. Viele Experten deuteten die Ankündigung eher als Abschreckungsmaßnahme als einen realisierbaren Plan. Andere wiederum verstanden das vermeintliche Vorhaben als einen internationalen Hilferuf des am dichtesten besiedelten Landes der Welt. Dieser Hilferuf ist nun lauter geworden. Für Bangladesch steht fest, dass Myanmar sowie andere Länder ihrer Verantwortung schnell gerecht werden müssen.

Nach Angaben des UNHCR leben in den Flüchtlingscamps in der Küstenstadt Cox Bazar 32 000 dokumentierte Flüchtlinge und bis zu eine halbe Million nicht dokumentierte Flüchtlinge. Mit Blick auf die letzten Ausschreitungen in Myanmar ist die Zahl noch einmal drastisch gestiegen. Die Lage in den Camps war bereits zuvor prekär. Personelle Kapazitäten und Ressourcen sind nun voll erschöpft. Die Belastungsgrenze ist in allen Camps mehr als erreicht. Der anhaltende Monsunregen erschwert die Lage drastisch. Die Regierung hat bereits angekündigt, neue Camps einzurichten und bestehende auszuweiten. Denn nicht zuletzt aufgrund der eigenen Flucht- und Vertreibungserfahrungen während des Unabhängigkeitskrieges in den 1970er Jahren zeigt sich die bangladeschische Bevölkerung überwiegend solidarisch mit den geflüchteten Rohingyas. Zahlreiche Bangladeschies meldeten sich insbesondere auf den sozialen Medien zu Wort und riefen zur Solidarität auf. Die bangladeschische Regierung sieht aber zunehmend neben seiner wirtschaftlichen Entwicklung auch die öffentliche Sicherheit in Gefahr. Rohingyas könnten sich mit extremistischen Gruppierungen zusammenschließen und die ohnehin angespannte Sicherheitslage im Land weiter gefährden.

Auch die burmesische Regierung sieht ihre Bevölkerung in Gefahr. Was steckt dahinter?  

 „Der Terrorismus ist in Rakhine angekommen“ – mit diesen Worten wandte sich die Staatsrätin Aung San Suu Kyi an die Bevölkerung nach den jüngsten ARSA-Angriffen. Seitdem befindet sich die öffentliche Stimmung in der burmesischen, dominant buddhistisch geprägten Öffentlichkeit im Verteidigungsmodus. Die globale Entrüstungswelle über das militärische Vorgehen in Rakhine, die sich in den sozialen Medien der islamischen Welt entwickelt hat, stärkt das Gefühl vieler Burmesen, vorschnell verurteilt worden zu sein – ohne einen Blick auf den historischen Hintergrund der Auseinandersetzung. Die vermeintlichen transnationalen islamistischen Verbindungen von ARSA – der Anführer der Gruppe ist in Pakistan geboren und soll in Saudi Arabien aufgewaschen sein – und ihre Berufung auf den Unabhängigkeitskampf der Rohingya erhärten das Gefühl der burmesischen Mehrheitsgesellschaft, in einer „belagerten Festung“ zu sein. Tatsächlich berichtet die internationale Presse kaum über die nicht-muslimischen Opfer der Gewalt. So sind etwa 12 000 buddhistische Arakanesen aus Rakhine in innere Gebiete geflohen und finden nun Unterkunft in Klöstern und Schulen. Die Staatsrätin Aung San Suu Kyi vermeidet derweil öffentliche Kritik am populären Militärkurs, um ihre fragile Unterstützerbasis, die sie für ihre historischen Reformvorhaben bitter braucht, nicht zu gefährden.

Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres warnt von einer humanitären Katastrophe. Der Papst hat bereits seinen Besuch in die beiden Länder für Ende des Jahres angekündigt. Kann der Einbezug der internationalen Gemeinschaft zur Lösung beitragen?

Zunächst geht es um dringende Maßnahmen zur Linderung des menschlichen Leids insbesondere in den Flüchtlingscamps in Bangladesch. Dort muss nun schnell zusätzliche Finanzierung bewilligt und ausreichend Kapazität für die Geflüchteten geschaffen werden. Täglich kommt eine fünfstellige Zahl von Rohingyas in Bangladesch an. Das Schicksal der mehreren hunderttausend in Rakhine verbleibenden Rohingyas ist ungewiss. Weitere 20.000 sind im Grenzgebiet gestrandet. Es braucht auch die Wiederaufnahme der Arbeit internationaler Hilfsorganisationen in Rakhine. Bisher drängen nur wenige Informationen nach außen: Die Berichterstattung ist erschwert bis nicht möglich. Die Region gleicht einer Black Box.

Die Rückkehr der Rohingyas kann  nur dann friedlich ablaufen, wenn Myanmar die Staatsangehörigkeitsregeln anpasst.

Zur Entschärfung der Lage können auch andere Länder in Asien beitragen. Zahlreiche muslimische Länder meldeten sich bereits zu Wort. Die indonesische Außenministerin bereiste bereits beide Länder. Entscheidend wird aber sein, wie sich die für Myanmar und Bangladesch wirtschaftlich wichtigen Länder positionieren. Nur große Mächte wie Indien oder China könnten eine deseskalierende Rolle einnehmen. Ihr Interesse daran scheint aber bisher gering. Wenige Tage vor dem Ausbruch der Gewalt legte die Rakhine-Kommission unter der Leitung von Kofi Annan, eingesetzt durch Aung San Suu Kyi selbst, Vorschläge zur Verbesserung der Lage vor. Die Kernaussage des Berichts: Die Rückkehr der Rohingyas nach Myanmar kann langfristig nur dann friedlich ablaufen, wenn Myanmar die Staatsangehörigkeitsregeln anpasst und ihnen somit eine Perspektive bietet.