Japan hat einen neuen Premierminister. Nachdem die Liberaldemokratische Partei Shigeru Ishiba Ende September in einer knappen Entscheidung zu ihrem neuen Vorsitzenden gewählt hatte, bestätigte das Parlament am 1. Oktober den 67-jährigen Politiker als neuen Regierungschef.
Ishiba hatte bereits zum fünften Mal für den LDP-Parteivorsitz kandidiert, konnte sich allerdings in der Vergangenheit nie gegen die mächtigen innerparteilichen Gruppierungen (Faktionen) durchsetzen, von deren Ränkespielen er sich stets distanziert hat. Vielmehr redet Ishiba gerne Klartext, kritisiert offen Entscheidungen seiner Parteifreunde und provoziert auch gerne einmal. So trat er auch immer wieder als Rivale des langjährigen Premierministers Shinzo Abe ins Rampenlicht. Bevor Abe 2020 einem Attentat zum Opfer fiel, war Ishiba der einzige LDP-Politiker, der den Mut hatte, Abe auf dem Höhepunkt seiner Macht herauszufordern. Aufgrund seiner Distanz zu den innerparteilichen Gruppierungen war Ishiba allerdings nicht von den jüngsten Spendenskandalen betroffen und befürwortete die Auflösung der Faktionen sowie eine Reform des Parteispendengesetzes. Genau das machte ihn bei Umfragen zum populärsten der neun zur Wahl angetretenen Kandidaten, was auch die Partei letztlich anerkennen musste. Nur Ishiba traute man letztendlich zu, den Ruf der Partei wiederherzustellen und die Partei aus dem Umfragetief zu führen.
Die Neuwahl zum Parteivorsitz stand turnusmäßig an, war aber insofern ungewöhnlich, als Amtsinhaber und Premierminister Fumio Kishida im August überraschend bekanntgegeben hatte, nicht wieder anzutreten zu wollen. Kishida hatte eine proaktive Aufklärung der jüngsten Spendenskandale betrieben, konnte aber letztlich weder seine Partei noch die Bevölkerung überzeugen – zuletzt lagen seine Zustimmungswerte bei unter 20 Prozent. Vor allem die mangelnde Unterstützung in der eigenen Partei dürfte letztlich seinen Rückzug veranlasst haben.
Der neue Premier Ishiba gilt als Vertreter einer proaktiven Außen- und Sicherheitspolitik und wird aller Voraussicht nach den Kurs seiner Vorgänger fortsetzen, ebenso die Vertiefung der sicherheitspolitischen Kooperation Japans mit europäischen Staaten, inklusive Deutschland. Gleichzeitig ist eine Vertiefung des Dialogs mit den Nachbarstaaten zu erwarten, welcher in den zahlreichen auf militärische Kooperation abzielenden Initiativen der letzten Monate und Jahre deutlich zu kurz gekommen ist.
Der ehemalige Verteidigungsminister ist nicht unbedingt als „Taube“ bekannt.
Dabei ist der ehemalige Verteidigungsminister nicht unbedingt als „Taube“ bekannt und scheut sich auch nicht, kontroverse Vorschläge ins Gespräch zu bringen. So hat er in der Vergangenheit mit der Möglichkeit der atomaren Bewaffnung Japans und der Einführung der Wehrpflicht geliebäugelt. Ersteres ist aufgrund der Mitgliedschaft Japans im Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NPT) allerdings kaum umsetzbar – im Falle einer Kündigung des NPT-Vertrags würde Japan sich auf eine Stufe mit dem aufgrund seines Atomwaffenprogramms scharf verurteilten Nordkorea stellen. Zweiteres wird in der Gesellschaft strikt abgelehnt. Eine Wehrpflicht steht nicht nur im Konflikt mit der Verfassung, sondern auch mit dem tief verankerten Pazifismus, der Japans Nachkriegsgesellschaft bis heute prägt. Nur wenige Japanerinnen und Japaner können sich eine Karriere im Militär vorstellen. In den letzten Jahren haben die Selbstverteidigungskräfte die anvisierte Zahl von Rekruten stets verfehlt. Dies hängt natürlich mit der demografischen Entwicklung zusammen, also mit sinkenden Geburtenraten und der Überalterung der japanischen Gesellschaft, sowie mit dem allgemein herrschenden Arbeitskräftemangel. Trotz der guten sozialen Absicherung und des Beamtenstatus gilt das Militär nicht als attraktive Berufswahl.
Ishiba entschied die Wahl nur knapp für sich – nur wenige Stimmen hinter ihm landete mit Sanae Takaichi erstmals eine Frau auf Platz 2 einer Wahl zum LDP-Vorsitz. Ob die mit 62 Jahren etwas jüngere Politikerin als erste Frau auf dem Posten des Parteivorsitzenden und des Premierministers ein Segen für Japan gewesen wäre, bezweifeln jedoch viele. Takaichi wird als Nachfolgerin von Shinzo Abe angesehen und ist bekannt für ähnlich rechtslastige Positionen sowie als Verfechterin der inzwischen als gescheitert angesehenen Wirtschafts- und Fiskalpolitik Abenomics. Ishiba dagegen will die unter Kishida begonnene Abkehr von Abenomics fortführen. Angesichts der seit Jahrzehnten stagnierenden Einkommen in Japan will er sich für signifikante Lohnerhöhungen einsetzen sowie die Regionen fördern, um der Abwanderung aus ländlichen Räumen entgegenzuwirken – der neue Premier stammt selbst aus Tottori, einer Präfektur, die stark von Landflucht betroffen ist. Als einziger der neun Kandidaten hat sich Ishiba weiterhin für die Abkehr vom Ausbau der Atomenergie sowie eine stärkere Förderung Erneuerbarer Energien ausgesprochen.
Am klarsten distanzierte sich Ishiba von Takaichi in der höchst emotional geführten Debatte um die Frage, ob Ehepartner verschiedene Familiennamen führen dürfen. Japan ist, basierend auf einem Gesetz aus dem Jahre 1912, das einzige Land, in dem es Ehepartnern verboten ist, unterschiedliche Namen zu führen. Ishiba schlägt eine zügige Revision des Gesetzes vor, Takaichi dagegen vertritt lautstark die Position, dass eine solche Revision zu „sozialer Verwirrung“ und zu einem Kollaps des „traditionellen“ Familiensystems führen würde. Mit Tradition hat die Regel indes nichts zu tun. Vor 1868 führten die meisten Japanerinnen und Japaner gar keine Familiennamen. Ein Familienname war ein Privileg des Adels; die Bauern, mehr als 90 Prozent der Bevölkerung, mussten sich mit Vornamen zufriedengeben. Das änderte sich erst während der Modernisierung des Landes im späten 19. Jahrhundert, als Familienregister verpflichtend wurden. „Verwirrung“ stiftet eher das Verbot der individuellen Namensführung. Denn wenn ein Ehepartner bereits auf dem Weg zu einer erfolgreichen Karriere ist, kommt eine Namensänderung meist ungelegen. Manche Frauen und auch einige Männer nutzen daher im Berufsleben nicht ihren registrierten Familiennamen, sondern ihren Geburtsnamen. Es ist offensichtlich, dass das Führen von zwei Namen zumindest für die betroffene Person „verwirrender“ sein muss als das Führen verschiedener Familiennamen in der Ehe.
Trotz ihrer eigenen Rhetorik ist es ausgerechnet Takaichi selbst, die sich lautstark für die Verwendung des Geburtsnamens im Falle drohender beruflicher Nachteile ausspricht. Sie hat sogar selbst in der Vergangenheit die Verwendung verschiedener Namen in Ehe und Beruf praktiziert. Als sie 2004 den Abgeordneten Yamamoto Taku zum ersten Mal heiratete (das Paar wurde später geschieden und heiratete 2021 ein zweites Mal), nahm sie den Namen Yamamoto an, führte aber ihre Politik-Karriere unbeirrt als „Sanae Takaichi“ fort.
Ishiba hat kürzlich vorgeschlagen, das auf die USA zentrierte Sicherheitssystem in Ostasien in eine multilaterale „asiatische NATO“ umzugestalten.
Ishiba muss nun in den nächsten Wochen und Monaten beweisen, dass er der Aufgabe, die er so lange angestrebt hatte, gewachsen ist. Außenpolitisch wird er sich mit einer neuen US-Administration arrangieren müssen. Das wird nicht ganz einfach werden, denn er hat in der Vergangenheit mehrfach eine Revision der Stationierungsverträge der US-Truppen gefordert, da diese seiner Meinung nach Japans Souveränität beeinträchtigten. Für Washington ist eine solche Revision ein rotes Tuch. Außerdem hat Ishiba kürzlich vorgeschlagen, das auf die USA zentrierte Sicherheitssystem in Ostasien in eine multilaterale „asiatische NATO“ umzugestalten. Damit ist er in Washington auf wenig Gegenliebe gestoßen, vor allem, weil er es damit begründete, dass die USA relativ gesehen an Macht und Einfluss eingebüßt hätten. Obendrein sind sowohl die USA als auch Japan bereits in multilaterale Initiativen, wie zum Beispiel Quad und AUKUS, involviert. Für den Dialog mit den Nachbarstaaten könnte sich Ishiba als Glücksfall erweisen. Der neue Premierminister ist in der Vergangenheit nicht durch verbale Entgleisungen oder Fehltritte kontroverser Natur aufgefallen, etwa bezüglich Japans Kriegsvergangenheit. Hier dürften sich für Ishiba signifikante Spielräume für Dialog ergeben.
Vor allem aber muss Ishiba beweisen, dass er Wahlen gewinnen kann – denn nur aus diesem Grund hat die Mehrheit der LDP-Abgeordneten ihn der kontroversen Takaichi vorgezogen. Ishiba hat angekündigt, das Unterhaus aufzulösen, und Neuwahlen für den 27. Oktober ausgerufen. Wenn die Bevölkerung ihm in dieser Wahl nicht ihr Vertrauen ausspricht, könnte sich die innerparteiliche Balance bald gegen Ishiba wenden. Ein erneuter Rechtsruck in der LDP wäre die unweigerliche Folge seines Scheiterns.