In China wird die russische Invasion der Ukraine sehr kontrovers diskutiert. Dieser Text ist der erste Teil von dreien in unserer Reihe chinesischer Perspektiven, mit der wir einen Einblick in das chinesische Meinungsspektrum zu dieser Frage geben wollen (Teil 2, Teil 3).
Der russisch-ukrainische Krieg ist der schwerste geopolitische Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg. Er wird sich global deutlich stärker auswirken als die Anschläge vom 11. September 2001. In diesem entscheidenden Moment muss die Volksrepublik China die Entwicklung des Krieges und seine potenziellen internationalen Folgen genau analysieren und bewerten. Gleichzeitig muss China, um sich ein eher vorteilhaftes außenpolitisches Umfeld zu sichern, flexibel reagieren und strategische Entscheidungen treffen, die mit den langfristigen Interessen des Landes im Einklang stehen.
Das von Russland als „militärische Spezialoperation“ bezeichnete Vorgehen gegen die Ukraine hat in China große Kontroversen ausgelöst und Befürworter und Gegner in zwei unversöhnliche Lager gespalten. Der vorliegende Artikel vertritt keine der beiden Positionen, sondern unternimmt mit Blick auf die höchste Entscheidungsebene in China eine objektive Analyse der möglichen Kriegsfolgen und entsprechender Gegenmaßnahmen. Dafür werden zunächst mögliche Szenarien für den weiteren Verlauf des russisch-ukrainischen Kriegs diskutiert.
Putins beste Option besteht derzeit darin, den Krieg durch Friedensgespräche mit Anstand zu beenden und die Ukraine zu erheblichen Zugeständnissen zu zwingen.
1. Wenn Wladimir Putin seine gesetzten Ziele nicht erreichen kann, bringt das Russland in eine schwierige Lage. Putin beabsichtigte mit dem Angriff, sein Ukraine-Problem endgültig zu lösen und von der innenpolitischen Krise in Russland abzulenken, indem er die Ukraine in einem Blitzkrieg besiegte und die Regierung durch eine pro-russische Führung ersetzte. Der Blitzkrieg ist indes gescheitert und Russland nicht in der Lage, einen langwierigen Krieg und die damit verbundenen hohen Kosten durchzuhalten. Wenn Russland einen Atomkrieg losträte, würde es den Rest der Welt gegen sich aufbringen und könnte auch diesen Krieg nicht gewinnen. Im Inland und im Ausland spitzt sich die Lage für Russland zu. Selbst wenn die russische Armee die ukrainische Hauptstadt Kiew eroberte und Moskau unter hohem Tribut eine Marionettenregierung einsetzte, hätte Putin nicht endgültig gesiegt. Putins beste Option besteht derzeit darin, den Krieg durch Friedensgespräche mit Anstand zu beenden und die Ukraine zu erheblichen Zugeständnissen zu zwingen. Was er auf dem Schlachtfeld nicht bekommen kann, ist aber auch am Verhandlungstisch schwer zu erreichen. So oder so ist diese militärische Aktion ein irreversibler Fehler.
2. Der Konflikt könnte weiter eskalieren. Eine Kriegsbeteiligung der westlichen Staaten ist dann nicht auszuschließen. Obwohl eine Eskalation des Krieges kostspielig wäre, erscheint es aufgrund von Putins Charakter und Machtposition sehr unwahrscheinlich, dass er ohne weiteres aufgeben wird. Der Krieg könnte sich über das Gebiet der Ukraine ausdehnen, und sogar ein Atomschlag ist nicht ausgeschlossen. Falls es so weit kommt, könnten sich die USA und Europa nicht mehr aus dem Konflikt heraushalten. Die Folge wäre ein Weltkrieg oder sogar ein Atomkrieg. Das wäre eine Katastrophe für die Menschheit und würde den Showdown zwischen den USA und Russland einleiten. Da Russland der NATO militärisch nicht gewachsen ist, würde diese finale Konfrontation für Putin noch schlimmer enden.
Auch wenn Putin den Krieg nicht verliert, dürfte es ihm angesichts der ruinösen Lage der russischen Wirtschaft schwerfallen, die gefährliche Lage in den Griff zu bekommen.
3. Selbst wenn es Russland unter hohem Einsatz gelänge, die Ukraine zu erobern, wäre dieser Sieg politisch ein heißes Eisen. Die Last, die sich Russland damit aufbürden würde, wäre vermutlich nicht tragbar. Unabhängig davon, ob Wolodymyr Selenskij am Leben bliebe oder nicht, würde die Ukraine unter solchen Umständen höchstwahrscheinlich eine Exilregierung einsetzen, die sich Russland langfristig entgegenstellen würde. Russland hätte es ferner nicht nur mit westlichen Sanktionen, sondern auch mit Aufständen auf ukrainischem Boden zu tun. Die Fronten wären auf lange Zeit verhärtet. Die russische Wirtschaft könnte das nicht durchhalten und würde schließlich zusammenbrechen. Diese Entwicklung würde nur wenige Jahre dauern.
4. Die politische Lage in Russland könnte sich ändern oder durch Maßnahmen aus dem Westen destabilisiert werden. Nach dem Scheitern von Putins Blitzkrieg besteht für die Russen wenig Hoffnung auf einen Sieg. Die westlichen Sanktionen haben ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Wenn die Menschen in Russland ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können und Antikriegs- und Anti-Putin-Kräfte gemeinsam agieren, sind politische Unruhen in Russland nicht mehr auszuschließen. Auch wenn Putin den russisch-ukrainischen Krieg nicht verliert, dürfte es ihm angesichts der ruinösen Lage der russischen Wirtschaft schwerfallen, die gefährliche Lage in den Griff zu bekommen. Sollte Putin durch Unruhen, einen Staatsstreich oder andere Umstände gestürzt werden, würde Russland dem Westen höchstwahrscheinlich nicht weiter die Stirn bieten. Die Föderation würde wohl dem Westen nachgeben oder sich gar weiter auflösen. Mit dem Großmachtstatus wäre es vorbei.
Kommen wir zu den möglichen internationalen Auswirkungen des Krieges.
1. Die USA könnten die Führung der westlichen Welt zurückerlangen. Die westlichen Staaten würden wieder enger zusammenrücken. Gegenwärtig hört man oft, dass der Krieg in der Ukraine den vollständigen Zusammenbruch der US-Hegemonie herbeiführen werde. Doch in Wahrheit dürfte dieser Krieg Frankreich und Deutschland, die sich von den USA loslösen wollten, in den Verteidigungsrahmen der NATO zurückführen und den europäischen Traum von unabhängiger Diplomatie und Selbstverteidigung begraben. Deutschland hat seinen Militärhaushalt stark erhöht. Die Schweiz, Schweden und andere Länder dürften ihre Neutralität aufgeben. Da Nord Stream 2 auf unbestimmte Zeit auf Eis liegt, wird die Abhängigkeit Europas von Erdgas aus den USA unweigerlich zunehmen. Amerikaner und Europäer arbeiten dann enger auf eine gemeinsame Zukunft hin, und die Führungsrolle der USA im Westen würde wieder erstarken.
Die „Hegemonie“ des Westens wird gestärkt, sowohl was seine militärische Macht, als auch was seine Werte und Institutionen angeht.
2. Der „Eiserne Vorhang“ könnte sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer wieder senken und die finale Konfrontation zwischen dem westlich dominierten Lager und seinen Konkurrenten einläuten. Der Westen unterscheidet in diesem Fall zwischen Demokratien und autoritären Staaten und versteht die Differenzen mit Russland als Widerstreit zwischen Demokratie und Diktatur. Der neue Eiserne Vorhang würde nicht mehr die beiden Lager Sozialismus und Kapitalismus trennen und sich auch nicht auf einen Kalten Krieg beschränken. Er stünde für einen Kampf auf Leben und Tod zwischen Befürwortern und Gegnern der westlichen Demokratie. In Zeiten dieses neuen Eisernen Vorhangs übt die Einheit der westlichen Welt auf andere Länder eine Sogwirkung aus: Die indopazifische Strategie der USA wird stabilisiert. Länder wie Japan werden sich noch enger an die USA anlehnen. So entsteht eine demokratische Einheitsfront, die so breit ist wie nie zuvor.
3. Der Westen wird an Macht gewinnen, die NATO weiter expandieren, der Einfluss der USA in der nicht-westlichen Welt zunehmen. Unabhängig davon, welche politische Transformation Russland durchläuft, werden nach dem russisch-ukrainischen Krieg die anti-westlichen Kräfte weltweit massiv geschwächt werden. Der Umbruch, der sich 1991 in den osteuropäischen Staaten der ehemaligen Sowjetunion ereignete, könnte sich wiederholen: Die Theorie vom „Ende der Ideologie“ dürfte wieder Konjunktur haben, die Wiederkehr der dritten Demokratisierungswelle an Dynamik gewinnen und eine größere Zahl an Drittweltländern sich am Westen ausrichten. Die „Hegemonie“ des Westens wird gestärkt, sowohl was seine militärische Macht, als auch was seine Werte und Institutionen angeht. Der Westen wird an harter, wie auch an weicher Macht deutlich zulegen.
4. In diesem Gefüge wird China isolierter dastehen. Aus den oben genannten Gründen wird das Land, sofern es nicht proaktiv etwas dagegen unternimmt, die Eindämmungspolitik der USA und des Westens stärker zu spüren bekommen. Sollte Putin stürzen, werden es die USA nicht mehr mit zwei Konkurrenten zu tun haben, sondern nur noch China strategisch in Schach halten müssen. Europa würde sich weiter von China abschotten, Japan im Kampf gegen die Volksrepublik die Vorhut bilden, Südkorea noch näher an die USA rücken, Taiwan in den anti-chinesischen Chor einstimmen. Der Rest der Welt würde sich, dem Herdentrieb folgend, für die eine oder andere Seite entscheiden. China wird in diesem Fall nicht nur militärisch eingekreist – von den USA und den Bündnissen NATO, QUAD und AUKUS –, sondern es muss sich auch der Herausforderung durch westliche Werte und Systeme stellen.
China sollte nicht auf allen Hochzeiten tanzen: Es sollte seine Neutralität aufgeben und sich die globale Mainstream-Position zu eigen machen.
Es ergeben sich also folgende strategische Optionen für China.
1. China darf nicht an Putin festhalten und muss sich so schnell wie möglich von ihm lösen. Insoweit eine Eskalation des Konflikts zwischen Russland und dem Westen die USA von China ablenkt, sollte China Putins Vorgehen zu schätzen wissen und ihm gar beistehen, allerdings nur, wenn Russland nicht untergeht. Mit Putin im selben Boot zu sitzen, würde sich negativ auf China auswirken, sollte er die Macht verlieren. Nach dem von Lord Palmerston formulierten Gesetz der internationalen Politik haben Großmächte „weder permanente Freunde noch permanente Feinde, sie haben nur permanente Interessen”. In der gegenwärtigen internationalen Lage kann China lediglich die eigenen Interessen wahren, das kleinere von zwei Übeln wählen und sich der Bürde Russland so schnell wie möglich entledigen. Das Zeitfenster der Volksrepublik wird sich schätzungsweise Ende März schließen, ehe sie ihren Handlungsspielraum einbüßt. Sie muss entschlossen handeln.
2. China sollte nicht auf allen Hochzeiten tanzen: Es sollte seine Neutralität aufgeben und sich die globale Mainstream-Position zu eigen machen. Gegenwärtig versucht die Volksrepublik, keine der beiden Seiten vor den Kopf zu stoßen, und wählt bei internationalen Erklärungen und Entscheidungen den Mittelweg, etwa durch seine Enthaltung im UN-Sicherheitsrat und in Abstimmungen der UN-Generalversammlung. Diese Position hilft jedoch Russland in keinster Weise und erzürnt zudem die Ukraine sowie deren Unterstützer und Sympathisanten. Der Großteil der Welt wähnt China somit auf der falschen Seite. Manchmal kann eine neutrale Haltung vernünftig sein, doch das gilt nicht für diesen Krieg, in dem China nichts zu gewinnen hat. Nachdem China stets für die Achtung nationaler Souveränität und territorialer Integrität eingetreten ist, kann es seine weitere Isolation nur vermeiden, indem es sich der Mehrheit der Länder dieser Welt anschließt. Diese Position dürfte auch der Lösung der Taiwan-Frage förderlich sein.
3. China sollte sich nicht weiter vom Westen isolieren, sondern den größtmöglichen strategischen Durchbruch erzielen. Wenn es von Putin abrückt und seine Neutralität aufgibt, so verbessert sich nicht nur das internationale Image Chinas, sondern auch das Verhältnis zu den USA und zum Westen. Dieser Weg ist zwar schwierig und erfordert viel Fingerspitzengefühl, doch ist er die zukunftsträchtigste Option. Man sollte nicht davon ausgehen, dass ein vom Krieg in der Ukraine ausgelöster geopolitischer Konflikt in Europa die strategische Umorientierung der USA von Europa in den indopazifischen Raum erheblich verzögern wird. In den USA ist bereits zu hören, Europa sei wichtig, China aber noch wichtiger, und das oberste Ziel sollte darin bestehen, China vom Aufstieg zur beherrschenden Macht im Indopazifik abzuhalten. Unter diesen Umständen hat es für die Volksrepublik oberste Priorität, seine Strategie entsprechend anzupassen, auf die Feindseligkeit der USA gegenüber China einzuwirken und sich aus der Isolation zu befreien. Unterm Strich bedeutet das, dass die USA und der Westen daran gehindert werden, gemeinsame Sanktionen gegen China zu verhängen.
China ist das einzige Land der Welt, dem es möglich ist, weitere potenzielle Abenteuer Putins zu verhindern, und diesen einzigartigen Vorteil muss es voll ausspielen.
4. China sollte den Ausbruch eines Welt- und Atomkriegs verhindern und sich federführend für den Weltfrieden einsetzen. Da Putin die strategischen Abschreckungskräfte Russlands ausdrücklich in Alarmbereitschaft versetzt hat, könnte der russisch-ukrainische Krieg außer Kontrolle geraten. Eine gerechte Sache findet viel Unterstützung, eine ungerechte wenig. Wenn Russland einen Weltkrieg oder gar einen Atomkrieg anzettelt, stiftet dieser Chaos in der Welt. Will China seiner Rolle als verantwortungsbewusste Großmacht gerecht werden, darf es nicht an Putins Seite stehen. Es muss konkrete Maßnahmen ergreifen, um weitere potenzielle Abenteuer Putins zu verhindern. China ist das einzige Land der Welt, dem dies möglich ist, und diesen einzigartigen Vorteil muss es voll ausspielen. Wenn Putin nicht mehr auf die chinesische Unterstützung bauen kann, wird er höchstwahrscheinlich den Krieg beenden oder zumindest eine weitere Eskalation vermeiden. International dürfte China für die Bewahrung des Weltfriedens großes Lob gewiss sein. Das wird das Land vor Isolation schützen und ihm Gelegenheit geben, die Beziehungen zu den USA und zum Westen zu verbessern.
Dieser Artikel erschien am 12. März in englischer Sprache beim US-China Perception Monitor.
Aus dem Englischen von Anne Emmert