In China wird die russische Invasion der Ukraine sehr kontrovers diskutiert. Dieser Text ist der zweite Teil von dreien in unserer Reihe chinesischer Perspektiven, mit der wir einen Einblick in das chinesische Meinungsspektrum zu dieser Frage geben wollen (Teil 1, Teil 3).

50 Jahre ist es her, dass US-Präsident Richard Nixon mit seiner richtungsweisenden Reise die Spannungen mit China linderte und die Geopolitik des Kalten Krieges neugestaltete. Die bipolare Welt war nach der sino-sowjetischen Spaltung in den 1960ern sozusagen „tripolar“ geworden. Nixons Mission und die dadurch symbolisierte Wiederannäherung veränderten das Machtgleichgewicht der Dreiecksbeziehung zwischen China, den USA und der Sowjetunion erheblich.

Dieses „strategische Dreieck“ war auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges der entscheidende Rahmen für geopolitische Erkenntnisse. Mit dem Untergang der UdSSR verlor es jedoch weitgehend an Bedeutung. Nun wird das Konzept von einigen westlichen Beobachtern wiederbelebt – wobei an die Stelle der Sowjetunion heute natürlich Putins Russland getreten ist.

Chinas Beziehungen zu Russland und seine Absichten gegenüber dem Westen werden falsch interpretiert.

Der Anlass dafür sind die Ereignisse in der Ukraine und die gemeinsame Erklärung zwischen China und Russland vom 4. Februar – ein Moment, der für manche Nixons Chinabesuch aus dem Jahr 1972 widerspiegelt, indem er – heute in veränderter Konstellation – Peking und Moskau gegen Washington verbindet. Dies hat in den USA für Schlagzeilen wie „Die neue Achse der Autokratie“, „Allianz der Autokratien“ oder „Neuer Kampf der Supermächte zwischen den USA, Russland und China“ gesorgt. Aber auch wenn der Ukraine-Krieg Erinnerungen an den Kalten Krieg weckt, ist diese Dreieckssichtweise aus dem 20. Jahrhundert für unsere heutige Welt ein gefährlicher und irreführender Anachronismus.

Erstens werden dadurch Chinas Beziehungen zu Russland und seine Absichten gegenüber dem Westen falsch interpretiert. Letztlich möchte China keine anti-westliche Allianz mit Russland bilden, sondern die Verbindungen zu den USA und deren Verbündeten stabilisieren und verbessern. Bei der Erklärung vom 4. Februar ging es nicht, wie manche es darstellen, um eine gemeinsame Front gegen den Westen, sondern darum, in Bereichen gemeinsamer Interessen zusammenzuarbeiten. China ist nicht mit Russland verbündet und hat die russische Invasion der Ukraine niemals unterstützt. Dies wurde kürzlich auch durch den Appell des Außenministers WANG Yi verdeutlicht, die Souveränität aller Länder anzuerkennen und die Ukrainekrise durch Dialog und Beratungen zu lösen.

Bei all dem Gerede über die Beziehungen zu Moskau sollte man sich daran erinnern, dass Chinas wirtschaftliche Interessen gegenüber dem Westen viel stärker sind: 2021 stieg der bilaterale Handel zwischen China und Russland zwar um 35 Prozent auf ein Volumen von 147 Milliarden US-Dollar. Dies entspricht aber immer noch weniger als einem Zehntel des gemeinsamen Handels mit den USA (657 Milliarden US-Dollar) und der EU (828,1 Milliarden US-Dollar). Militärisch mag Russland eine Weltmacht sein, aber wirtschaftlich ist es ein Zwerg im langfristigen strukturellen Niedergang – mit einem BIP, das kaum größer als das von Spanien ist, der fünftgrößten Volkswirtschaft der EU. Es liegt nicht in Chinas Interesse, mit einem solchen Partner eine langfristige Konfrontation gegen den Westen einzugehen, und es besteht auch nicht die Absicht, dies zu tun.

Unsere Welt ist nicht tripolar oder gar bipolar, sondern multipolar.

Der zweite große Fehler der Dreieckssichtweise besteht darin, dass unsere Welt nicht tripolar oder gar bipolar ist, sondern multipolar. Die Sichtweise aus dem Kalten Krieg blendet wichtige geopolitische Akteure aus – nicht zuletzt die EU, die außenpolitisch immer unabhängiger wird und für die in der Ukraine massive Interessen auf dem Spiel stehen. Sicherlich ist die EU traditionell aus strategischen Gründen unterhalb ihrer Gewichtsklasse geblieben, und die Ukrainekrise hat dem transatlantischen Bündnis vorübergehend neuen Schwung verliehen. Aber die EU will nicht mehr an die Sichtweise der USA gebunden sein und scheint kurz vor einer neuen politischen Ära zu stehen, in der sie sich ihre eigene globale Rolle erarbeitet.

Angesichts der Tatsache, dass Angela Merkel nicht mehr im Amt ist und sich Deutschlands neuer Kanzler Olaf Scholz erst in seiner Rolle finden muss, wird die dominante Stimme in der EU in nächster Zeit Emmanuel Macron sein – vorausgesetzt, er gewinnt wie erwartet die Präsidentschaftswahl im April. Der französische Präsident setzt sich stark für eine „strategische Autonomie“ der EU ein, und er hat klar gemacht, dass sich die EU nicht mit den USA gegen China verbünden sollte. In einem Telefonat mit Präsident Xi Jinping am 16. Februar haben die beiden Staatschefs eine Zusammenarbeit bei gemeinsamen Interessen versprochen – wie dem verzögerten (und von den USA abgelehnten) Investitionsabkommen zwischen China und der EU, den Handelsbeziehungen und dem Klimawandel.

Die Betrachtung der Welt als strategisches Dreieck konkurrierender Mächte könnte zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden und uns, was unsere Interessen betrifft, in einem Nullsummenspiel einsperren.

Das Thema des Klimawandels bringt uns zum dritten und vielleicht wichtigsten Grund, warum der Rahmen des Kalten Krieges für die Einschätzung von Macht und Sicherheit im 21. Jahrhundert nicht hilfreich ist. Sich in einem Zeitalter der globalen Bedrohungen, die nicht durch rohe Gewalt oder nationale Alleingänge überwunden werden können, lediglich auf Macht über andere Länder zu konzentrieren, bedeutet, die wichtigere Dimension der Macht mit anderen Ländern zur Lösung unserer gemeinsamen Probleme zu vernachlässigen. Angesichts der globalen Pandemie und einer drohenden Klimakatastrophe müssen wir Macht sowohl in ihrer konkurrenzorientierten als auch in ihrer kooperativen Form berücksichtigen.

Die Gefahr besteht, dass die Betrachtung der Welt als strategisches Dreieck konkurrierender Mächte zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung wird und uns, was unsere Interessen betrifft, in einem Nullsummenspiel einsperrt. Immerhin gehen unsere größten Gefahren nicht von anderen Ländern aus, sondern davon, dass wir nicht in der Lage sind, bei unseren gemeinsamen Problemen zu kooperieren.

Vor 50 Jahren konnten die Staatschefs Chinas und Amerikas einen diplomatischen Durchbruch erzielen, der das Dreiecksverhältnis des Kalten Krieges umgestaltet und den Interessen beider Länder gedient hat. Greifen wir aber ein halbes Jahrhundert später immer noch auf diese überholte Sichtweise zurück, steigern wir die Gefahr eines Großmachtkonflikts und behindern unsere Fähigkeit, bei existenziellen Bedrohungen, die weit über die Ukraine hinausgehen, an einem Strang zu ziehen.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff