In China wird die russische Invasion der Ukraine sehr kontrovers diskutiert. Dieser Text ist der dritte Teil von dreien in unserer Reihe chinesischer Perspektiven, mit der wir einen Einblick in das chinesische Meinungsspektrum zu dieser Frage geben wollen (Teil 1, Teil 2).

Die USA und die EU haben zwar beschlossen, bislang beispiellose Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu verhängen, um die russische Führung zum Abzug ihrer Truppen aus der Ukraine zu bewegen. Doch Russland scheint von diesen Sanktionen nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Der größte Nutznießer des russisch-ukrainischen Kriegs könnten letztlich die USA sein – und ein großer Verlierer die Europäische Union.

Zunächst: Ja, die Sanktionen haben der russischen Wirtschaft enormen Schaden zugefügt. Sie haben zu massiver Kapitalflucht aus dem Land geführt. Der Rubel fiel auf einen historischen Tiefstand. Die russische Zentralbank musste die Zinssätze von zuvor 9,5 Prozent auf 20 Prozent anheben. Eine Anhebung der Zinssätze zielt darauf ab, die Inflation einzudämmen und die Kapitalflucht zu verhindern. Sie wirkt sich jedoch auch auf Investitionen und Konsum aus und wird langfristig zu einer wirtschaftlichen Rezession führen.

Die Sanktionen der USA und Europas hindern russische Unternehmen aktuell daran, sich auf den internationalen Finanzmärkten mit neuen Mitteln zu versorgen. Das US-Finanzministerium hat die Guthaben der russischen Zentralbank in den USA eingefroren, so dass die russische Zentralbank nicht mehr frei über die Devisenreserven des Landes verfügen kann. Internationale Ratingagenturen haben Russlands Kreditwürdigkeit herabgestuft. Die USA und die EU haben außerdem das Exportembargo für russische Industrieprodukte verschärft, indem sie die Ausfuhr von Schlüsselkomponenten wie Chips nach Russland verboten und ihren Luftraum für russische Flugzeuge gesperrt haben. Auch Großbritannien, Kanada, Australien, die Schweiz, Japan und Südkorea haben ähnliche Sanktionen gegen Russland verhängt. Ein US-amerikanisches Beratungsunternehmen geht davon aus, dass Russlands Wirtschaft im Jahr 2022 um zehn Prozent schrumpfen könnte.

In den letzten Jahren hat Russland seinen Anteil an Abrechnungen in lokaler Währung mit China, dem Iran und anderen Ländern erhöht und somit seine Abhängigkeit vom US-Dollar verringert und seine Handelspartner diversifiziert.

Doch diese harten Sanktionen gegen Russland haben sich nicht fatal auf das Land ausgewirkt. Erstens wurden nur sieben russische Banken von der EU an der weiteren Nutzung des SWIFT-Systems gehindert. Die größten russischen Banken und diejenigen Großbanken, die hauptsächlich internationale Zahlungen für Öl- und Gasexporte abwickeln, können weiterhin ganz normal internationale Transfers per SWIFT tätigen.

Zweitens haben die USA beschlossen, die Konten von Präsident Vladimir Putin und Außenminister Sergej Lawrow einzufrieren. Diese Entscheidung ist jedoch eine rein diplomatische Geste. Faktisch ist sie bedeutungslos. Eine vom russischen Parlament im Jahr 2020 verabschiedete Verfassungsänderung, auf die Putin lange gedrängt hatte, sieht offiziell vor, dass hochrangige russische Beamte kein Auslandsvermögen besitzen und auch keine Bankkonten im Ausland haben dürfen.

Drittens können die Sanktionen Russland nicht in eine Wirtschaftskrise aufgrund von Dollarknappheit stürzen: In den letzten Jahren hat Russland seinen Anteil an Abrechnungen in lokaler Währung mit China, dem Iran und anderen Ländern erhöht, somit seine Abhängigkeit vom US-Dollar verringert und seine Handelspartner diversifiziert. Das jährliche Handelsvolumen zwischen Russland und den USA und Japan beträgt gerade einmal 20 Milliarden US-Dollar. Die EU ist der größte Handelspartner Russlands und rechnet ihre Geschäfte in Euro ab. Zudem ist Russland einer der größten Öl- und Gasexporteure. Solange dieser Absatzkanal nicht gesperrt ist, wird Russlands aktuelle Finanzkraft in dieser Hinsicht nicht geschwächt.

Wenn der Wirtschaftskrieg der USA und anderer westlicher Länder gegen Russland eskaliert, wird dies letztendlich zu einer noch gefährlicheren Krise für den Westen führen.

Wenn der Wirtschaftskrieg der USA und anderer westlicher Länder gegen Russland eskaliert und weitere russische Vermögenswerte im Westen eingefroren werden, wird dies letztendlich zu einer noch gefährlicheren Krise für den Westen führen. Das Einfrieren weiterer russischer Vermögenswerte könnte zu asymmetrischen Vergeltungsmaßnahmen führen. Die USA können sich diese potenziell schwerwiegenden Folgen nicht leisten. Tatsächlich hat Russland nicht sonderlich viele staatliche Vermögenswerte im Westen. Anleihen in Höhe von etwa 160 Milliarden US-Dollar wurden wieder verkauft oder in Gold getauscht und zurückgeführt. Russlands bestehende Gold- und Devisenreserven belaufen sich auf etwa 600 Milliarden US-Dollar. Und: Wenn der Westen russische Vermögenswerte einfriert, kann Russland auch die Vermögenswerte westlicher Länder in Russland beschlagnahmen.

Ein weiteres Beispiel sind Kreditkarten. Die internationalen Kreditkartenunternehmen haben angekündigt, nicht mehr mit russischen Banken zusammenzuarbeiten. Aber die Karten werden von westlichen Banken ausgegeben. Wenn das entsprechende Geld von den russischen Banken nicht beschafft werden kann, bedeutet das, dass die Kreditkartenunternehmen in Verzug geraten. Gegebenenfalls müssen die Kartenschulden der Russen sogar ganz abgeschrieben werden. Damit werden auch die Ansprüche der westlichen Banken in Russland abgeschrieben.

Auch die westliche Finanzwirtschaft könnte ein Problem bekommen: Die meisten Hypothekenkredite der russischen Kundschaft werden von Finanzinstituten im Westen vergeben. Wenn die Bankverbindungen unterbrochen werden, würden die Hypothekendarlehen, die Russen bei westlichen Banken aufgenommen haben, nicht mehr bedient. Auch die Zahlungen für Lebens- und andere Versicherungen, die von westlichen Banken in Russland ausgestellt wurden, dürften ausfallen, und die jeweilige Versicherungsgesellschaft müsste das Kapital, die Zinsen und die Bußgelder zahlen. Der Gesamtbetrag dafür dürfte mehr als das Doppelte der Versicherungssumme betragen. Das Wall Street Journal schätzt, dass derartige Verluste zusammengenommen den Wert von drei Billionen US-Dollar übersteigen könnten. Zum Vergleich: Das gesamte BIP Russlands lag im Jahr 2021 bei zwei Billionen US-Dollar. Wenn internationale Investoren in Panik geraten und anfangen, Aktien westlicher Unternehmen, die in Russland investiert haben, zu verkaufen, könnte dies einen veritablen Finanz-Tsunami auslösen.

Umfassende Sanktionen gegen Russland drohen, die globalen Liefer- und Industrieketten zu unterbrechen und die bereits hohe Inflation in Europa und den Vereinigten Staaten weiter zu verschärfen.

Die westlichen Sanktionen gegen Russland bergen eine zweite große Gefahr in sich. Europa ist in hohem Maße von Russlands Energie- und Rohstofflieferungen abhängig. Sanktionen gegen Russland könnten diese Lieferungen unterbrechen und damit das eigene Wirtschaftswachstum der europäischen Staaten beeinträchtigen. Des Weiteren haben Russlands Agrarprodukte, Düngemittel, Metallrohstoffe usw. großen Einfluss auf den internationalen Markt. Die russischen Exporte von Nickel, Palladium, Aluminium und Platin machen jeweils 49, 42, 26 beziehungsweise 13 Prozent des Weltmarktes aus. Sowohl Russland als auch die Ukraine sind wichtige Exporteure von Agrarprodukten und spielen eine entscheidende Rolle bei der Stabilisierung der weltweiten Getreidepreise. Zusammen stehen sie für etwa ein Viertel der weltweiten Getreideexporte. Der russisch-ukrainische Krieg hat die Lebensmittelpreise in die Höhe schnellen lassen. Die weltweiten Weizen-Futures sind seit Mitte Januar 2022 um etwa zehn Prozent nach oben geklettert. Die Maispreise haben den höchsten Stand seit Juni 2021 erreicht. Umfassende Sanktionen gegen Russland drohen, die globalen Liefer- und Industrieketten zu unterbrechen, die bereits hohe Inflation in Europa und den USA weiter zu verschärfen und infolgedessen soziale Proteste und Unruhen auszulösen.

Ein großes Opfer dieser Krise ist die EU. Sie hat seit dem Ende des Kalten Krieges, also seit fast 30 Jahren, eine Energiepartnerschaft mit Russland aufgebaut. Die russischen Lieferungen machen 40 Prozent des EU-Erdgasmarktes aus, und gerade die Energieversorgung Deutschlands hängt stark von den Gaslieferungen ab. Da Nord Stream 2 nun gestoppt wurde und der Zugang zu ausreichenden Erdgaslieferungen aus Russland gestört ist, wird Deutschland wohl vermehrt Erdgas aus den USA importieren. Bis vor kurzem hatte die US-Schiefergasindustrie aufgrund von Überkapazitäten und der Notwendigkeit, dringend neue Märkte zu finden, sehr zu kämpfen. Nun lässt sich sagen, dass der Krieg zwischen der Ukraine und Russland die Schiefergasindustrie in den USA wohl gerettet hat.

Sollten die EU und Russland in eine langfristige Konfrontation geraten, wird die EU an zwei Fronten leiden.

Sollten die EU und Russland in eine langfristige Konfrontation geraten, wird die EU an zwei Fronten leiden: Zum einen wird Europa seine Position als sicherer Investitionsstandort verlieren, wenn sich auf dem Kontinent ein neuer Kalter Krieg abspielt. Da die Energiepreise steigen, wird die Inflation in Zukunft ein ständiger Faktor sein. Wenn dann auch internationale Investoren Europa meiden, könnte die fehlende Investitionsdynamik für eine Art Stagflation sorgen.

Zum anderen dürften die EU-Mitgliedstaaten in Sicherheitsfragen gespaltener werden. Einige Länder werden ihre Abhängigkeit von den USA verstärken, wohingegen große EU-Mitgliedstaaten wie Frankreich und Deutschland die aktuelle Krise nutzen, um die „autonome Sicherheit“ Europas zu stärken. Es ist kein Zufall, dass Deutschland sich plötzlich entschlossen hat, seine Militärausgaben zu erhöhen. Frankreich und Deutschland wollen die Standardisierung europäischer Waffen vorantreiben, in der Hoffnung, so die Krise in eine neue Chance zu verwandeln. Aber die militärisch-industrielle Basis in anderen EU-Ländern ist schwach. Die US-Rüstungsindustrie dürfte somit von der Erhöhung der Militärausgaben der europäischen Länder profitieren. Denn diese werden vor allem amerikanische Waffen in rauen Mengen kaufen.

Für China birgt der Russland-Ukraine-Krieg indes eine ganz eigene Problemlage. Die Volksrepublik unterhält enge wirtschaftliche Beziehungen mit Russland, der Ukraine, Europa und den USA. Auch wenn China nicht direkt in die Krise involviert ist, so ist es doch stark von ihren Auswirkungen betroffen. Chinas Interessen stehen auf dem Spiel – und zwar in Bezug auf alle an der Krise Beteiligten.

Aus dem Englischen von Tim Steins