Die in Südkorea produzierte Netflix-Serie Squid Game, die sich weltweit großer Beliebtheit erfreut, wirft ein Schlaglicht auf die südkoreanische Gesellschaft, die sich durch Ungleichheit, soziale Ungerechtigkeit und knochenharten Wettbewerb auszeichnet. Die Serie zeigt eine janusköpfige Gesellschaft, in der die Lockungen und Gefahren des Kapitalismus, die Wünsche und Ängste der Menschen und die Freiheit und Brutalität des Wettbewerbs auf die Spitze getrieben werden. Die dargestellten Widersprüche sind von der Wirklichkeit nicht weit entfernt.

So hat Südkorea einerseits weltweit den höchsten Studierendenanteil und das zehntgrößte Bruttoinlandsprodukt (BIP) sowie von allen OECD-Staaten die beste Internetversorgung und das fortschrittlichste E-Government. Andererseits tragen lange Arbeitszeiten, gnadenloser Wettbewerb, extreme Ungleichheit, eine hohe Armutsquote, ein großer Anteil ungeregelter Arbeitsverhältnisse sowie ein schwaches Sozialsystem zur alltäglichen Not vieler Menschen bei.

Die in der Serie "Squid Game" dargestellten Widersprüche sind von der südkoreanischen Wirklichkeit nicht weit entfernt.

Wie ist es so weit gekommen? Zum Verständnis der Entwicklung muss man sich die Ursprünge des südkoreanischen Wirtschaftsmodells in den 1970er Jahren ansehen. Südkorea galt damals weltweit als exemplarischer „Spätmodernisierer“, der den Westen einzuholen versuchte, indem er als einer der „vier asiatischen Tiger“ neben Taiwan, Hongkong und Singapur dem deutschen oder japanischen Vorbild folgte. Das Land zählt zu den wenigen Staaten, die in den 1960er Jahren noch unter den einkommensschwächsten, in den 2010er Jahren dann aber unter den einkommensstärksten Staaten der Welt rangierten. Die Früchte des Wachstums erntete dabei nicht nur eine kleine Oberschicht, sondern eine beachtliche Mittelschicht.

Der wirtschaftliche Erfolg Südkoreas basierte auf einem entwicklungsorientierten Regime (developmentalism), das dem Wirtschaftswachstum Vorrang vor anderen Werten wie gesellschaftlicher Solidarität, Grundrechten und Umweltschutz einräumte. Während der Diktatur, die bis 1987 andauerte, konsolidierte ein Bündnis aus Politikern und Wirtschaftsvertretern dieses Paradigma und seine institutionellen Strukturen.

Der autoritäre Staat und seine Verbündeten in der Wirtschaft entwickelten zahlreiche Eigenheiten des entwicklungsorientierten Regimes, etwa die Verabsolutierung von Privateigentum, die Priorisierung von Unternehmensgewinnen, die Dominanz privater gegenüber staatlicher Fürsorge und die Idealisierung des angeblichen Trickle-Down-Effekts, der These, dass die Einkommenszuwächse der Reichen am Ende auch den Ärmeren zugutekommen würden. Gleichzeitig wurden in den Jahren der autoritären Herrschaft die Rechte der Arbeitnehmer und ihrer politischen Organisationen stark beschnitten. Bis zum Ende des Regimes in den 1980er Jahren betrug der Anteil der staatlichen Sozialausgaben am BIP nicht einmal 2 Prozent; erst Ende der 1990er Jahre wurden die Sozialversicherungssysteme vollständig etabliert.

Obwohl das südkoreanische Wirtschaftsmodell der 1970er Jahre auf Zwang und Ausschluss basierte, sicherte es lange ein erhebliches Maß an Wachstum und Gleichheit.

Obwohl das entwicklungsorientierte Regime auf Zwang und Ausschluss basierte, sicherte es bis Mitte der 1990er Jahre ein erhebliches Maß an Wachstum und Gleichheit. Die Industrie expandierte weiter, das Wirtschaftswachstum ging mit einem Beschäftigungszuwachs einher, die Armutsquote sank, und die Ungleichheit hielt sich zumindest von Anfang der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre in Grenzen.

Da von politischer Seite gewerkschaftliche Zusammenschlüsse und gesellschaftliche Solidarität nicht gefördert wurden, bemühten sich die Menschen, mit dem Erwerb von Land und Immobilien, mit einer Collegeausbildung und einem guten Job ihren Wohlstand und ihr Prestige zu mehren. Dieses individuelle Streben nach Erfolg und Glück trug indes zur Etablierung einer gesellschaftlichen Ordnung bei, wie sie in Squid Game dargestellt wird: einem Spiel ums Überleben, das unablässig Schmerz und Angst produziert.

Ab Mitte der 1990er Jahre zogen Veränderungen in der Weltwirtschaft eine massive Verschlechterung der Beschäftigungs- und Einkommensbedingungen in Südkorea nach sich. Vor allem die asiatische Finanzkrise 1997 und die sich anschließenden wirtschaftlichen Strukturveränderungen markierten einen Wendepunkt. Die Zahl der irregulär Beschäftigten, die nicht vom gesetzlichen Kündigungsschutz profitieren, steigt seit den 2000er Jahren sprunghaft an. Im Jahr 2021 hatten laut der südkoreanischen Statistikbehörde 38,4 Prozent aller Arbeitnehmer eine irreguläre Beschäftigung, in der der weiblichen Arbeitnehmerschaft waren es sogar 47,4 Prozent. Die Zahl sogenannter „abhängig Selbstständiger“ in speziellen Arbeitsverhältnissen, der Gig-Economy oder anderen freiberuflichen Tätigkeiten nimmt in jüngster Zeit rapide zu, während institutionelle Reformen zu ihrem Schutz nur langsam vorankommen.

Das individuelle Streben nach Erfolg trug zur Etablierung einer gesellschaftlichen Ordnung bei, wie sie in "Squid Game" dargestellt wird: einem Spiel ums Überleben, das Angst produziert.

Infolgedessen haben Ungleichheit und Armut seit Mitte der 2000er Jahre massiv zugenommen. Mit einem Gini-Koeffizienten des verfügbaren Einkommens von 0,345 hatte Südkorea 2018 eines der höchsten Ungleichheitsniveaus der OECD-Staaten, und seine relative Armutsquote von 16,7 Prozent war die dritthöchste in der OECD. Nur die Vereinigten Staaten und Israel schneiden noch schlechter ab. Aufgrund dieser extremen Ungleichheit rangiert Südkorea mit seiner Selbstmordrate seit mehr als zehn Jahren an erster oder zweiter Stelle der OECD-Staaten. Die relativ niedrige Kriminalitätsrate in Südkorea lässt darauf schließen, dass sich Aggressionen nicht gegen andere, sondern gegen die eigene Person richten.

In dieser besorgniserregenden Lage können die wenigsten Beschäftigten und Armen auf organisatorische und institutionelle Ressourcen zurückgreifen. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt in Südkorea bei unter 13 Prozent, aber weil der Anteil der Selbstständigen 20 Prozent übersteigt, sind sogar nur rund 5 Prozent aller aktiv Erwerbstätigen auch Gewerkschaftsmitglieder.
Südkoreanische Gewerkschaften tun sich schwer, Unterstützung und Vertrauen der Arbeiterklasse zu gewinnen, die in Südkorea derzeit etwa 45 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ausmacht. So organisierten Gewerkschaften kürzlich eine groß angelegte Protestaktion in der Innenstadt von Seoul, doch es gelang ihnen weder, konkrete Forderungen zu formulieren, Medienaufmerksamkeit zu erzeugen noch Arbeitnehmerbelange vor der nächsten Präsidentschaftswahl im März 2022 zu einem Wahlkampfthema zu machen.

Hinzu kommt, dass die Mehrheit der südkoreanischen Beschäftigten keine soziale Absicherung hat. Da Sozialprogramme immer noch unterentwickelt sind, betrugen die staatlichen Sozialausgaben im Jahr 2018 nur 11,1 Prozent des BIP und lagen damit bei 55,5 Prozent des OECD-Durchschnitts. Im selben Jahr machte das Sozialbudget 31,6 Prozent der gesamten Staatsausgaben aus; das war hinter Mexiko die zweitniedrigste Quote in der OECD.

Aus zahlreichen Umfragen geht hervor, dass ein großer Teil der Südkoreaner vor diesem Hintergrund Ungleichheit als zentrales gesellschaftliches Problem betrachtet. Die Menschen fordern mehr Anstrengungen vonseiten der Regierung. Auch die Unterschiede der politischen Einstellungen von Menschen mit verschiedenen Einkommen, Wohnverhältnissen und Vermögen haben sich gegenüber früheren Jahren vergrößert. Warum gewinnen dann aber die gesellschaftlichen Kräfte, die das entwicklungsorientierte Regime schwächen und die Spielregeln ändern wollen, nicht an Einfluss?

Ausgerechnet den gesellschaftlichen Gruppen, die wirklich Reformen bräuchten, fehlten die Ressourcen für Organisation und Politisierung.

Erstens überwiegt im Volk noch die Zustimmung zum südkoreanischen Kapitalismus. Die obersten 30 Prozent der Bevölkerung besitzen einen erheblichen Teil des Vermögens, und zudem sind die Sorgen der Mittelschicht noch nicht so groß wie das das Elend der Unterschicht. Zweitens sind viele Insider des stark gegliederten Arbeitsmarktes gut organisiert, wohingegen nicht beschäftigte Outsider unorganisiert sind. Das heißt, dass ausgerechnet den gesellschaftlichen Gruppen, die wirklich Reformen bräuchten, die Ressourcen für Organisation und Politisierung fehlen. Und schließlich haben die beiden großen politischen Parteien, die dank des Präsidialsystems und des Mehrheitswahlrechts die südkoreanische Politik beherrschen, zusätzliche Möglichkeiten geschaffen, um die Probleme des Arbeitsmarktes und der Ungleichheit zu verwalten, ohne aber weitreichende Maßnahmen zu ergreifen.

Das heißt, in der südkoreanischen Gesellschaft herrscht keine klare Spaltung zwischen einer kleinen rücksichtslosen Minderheit und einer von ihr beherrschten, benachteiligten Mehrheit. Vielmehr teilt sich die Gesellschaft in diejenigen, die innerhalb des gegenwärtigen Systems Wohlstand und Stabilität genießen, diejenigen, die trotz ihrer Sorgen noch hoffen, sich behaupten und Erfolg haben zu können, und diejenigen, die jede Hoffnung aufgegeben haben.

Einer Strategie zur Bildung einer Reformmehrheit muss es somit gelingen, die Stärkung der besonders benachteiligten Gruppen innerhalb des Systems einerseits und das transformative Potenzial der verängstigten Mittelschicht andererseits miteinander zu verknüpfen. Aber ist das ein spezifisch südkoreanisches Problem? Die weltweite Beliebtheit der Serie Squid Game lässt das eher bezweifeln.

Aus dem Englischen von Anne Emmert