Was in Deutschland derzeit diskutiert wird, ist in Pakistan bereits Realität. Am 3. Oktober ließ die Interimsregierung unter Premierminister Anwar-ul-Haq Kakar verlauten, dass alle irregulären Migranten freiwillig das Land verlassen sollen. Wer der Aufforderung nicht folge leiste, müsse ab dem 1. November mit einer Abschiebung rechnen. Auch wenn die Aufforderung allgemein gehalten wurde, war klar, dass sie sich vor allem an die rund 1,7 Millionen irregulär eingereisten Afghanen im Land richtete. Bis zum Fristablauf haben rund 170 000 Afghanen Pakistan verlassen. Am 8. November gab die Regierung bekannt, dass insgesamt bereits 250 000 irreguläre Migranten Pakistan verlassen hätten. Wer sich noch im Land aufhält und sich einer Abschiebung entziehen kann, dem droht der Verlust von Arbeit und Wohnung, da die Regierung angekündigt hat, auch Vermieter und Arbeitgeber von irregulären Migranten zu belangen.
Dass es die Regierung, anders als in der Vergangenheit, mit ihrer Abschiebeoffensive ernst zu meinen scheint, zeigen zahlreiche Berichte über teils gewaltsame Polizeiaktionen aus den letzten Tagen. Polizei und Sicherheitsbehörden fahnden intensiv nach Flüchtlingen ohne gültige Dokumente. Werden diese aufgegriffen, erfolgt nach Feststellung der Identität sowie nach Registrierung in der pakistanischen Bevölkerungsdatenbank und nach eventueller Internierung die Abschiebung nach Afghanistan. Derzeit überqueren mehr als 5 000 Menschen, darunter viele Kinder, auf diese Weise täglich die pakistanisch-afghanische Grenze. Medien berichten von chaotischen Zuständen in improvisierten Lagern sowohl auf der pakistanischen als auch auf der afghanischen Seite der Grenze des überlasteten Grenzübergangs Torkham.
Viele der Afghanen, die jetzt abgeschoben werden, sind in Pakistan geboren und aufgewachsen. Ihr Heimatland betreten sie zum ersten Mal. Die Taliban-Regierung kritisiert Pakistan scharf für die Abschiebeoffensive, obwohl die afghanischen Machthaber seit ihrer Machtübernahme im August 2021 offensiv um die Rückkehr von Afghanen werben. Doch mit der Versorgung einer großen Zahl von Menschen am Grenzübergang zeigt sich das Regime überfordert. Die durch Bürgerkrieg, Sanktionen und Naturkatastrophen bereits grassierende humanitäre Katastrophe in Afghanistan droht sich mit dem Massenexodus im heraufziehenden Winter zu verschärfen.
Mit der Versorgung einer großen Zahl von Menschen am Grenzübergang zeigt sich das Taliban-Regime überfordert.
Pakistans neue Härte gegenüber afghanischen Flüchtlingen ist die oft angekündigte, aber bis jetzt selten konsequent vollzogene Abkehr von der seit Jahrzehnten eher liberalen Haltung im Umgang mit Geflüchteten aus dem nördlichen Nachbarland. Die Ursprünge für Migrationsbewegungen zwischen Pakistan und Afghanistan gehen weit zurück. Denn die von den britischen Kolonialherren gezogene Grenze zwischen den beiden Ländern verläuft quer zu den ethnischen Siedlungsgebieten vor allem der Paschtunen in der Region. Die Folge war seit jeher eine große Durchlässigkeit der Staatsgrenze, auch wenn die Regierungen in den Hauptstädten dies zu unterbinden suchten.
Zu großen Fluchtbewegungen kam es allerdings erst Ende der 1970er Jahre mit der sowjetischen Invasion Afghanistans. Seitdem beheimatet Pakistan eine große Zahl geflüchteter Afghanen. Damals überwog bei Regierung und Bevölkerung in Pakistan die Sympathie mit den Glaubensbrüdern und -schwestern aus dem Norden im Kampf gegen die sowjetischen Invasoren. Die Aufnahme von Flüchtlingen galt in diesem Zusammenhang als selbstverständlich. Zum Zeitpunkt des Abzugs der sowjetischen Truppen aus Afghanistan lebten geschätzt vier Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan. Einige, aber bei weitem nicht alle, kehrten nach dem Ende der Kampfhandlungen nach Afghanistan zurück. Mehr als die Hälfte blieb jedoch in Pakistan und seitdem ist afghanisches Leben aus pakistanischen Städten nicht mehr wegzudenken.
Der 1989 einsetzende afghanische Bürgerkrieg und die erste Machtübernahme der Taliban 1996 lösten erneut eine Flüchtlingsbewegung nach Pakistan aus. Das UN-Flüchtlingshilfswerk ging im Jahr 2000 von rund zwei Millionen afghanischen Flüchtlingen in Pakistan aus. Der Sturz der Taliban durch die US-geführte Koalition 2001 und die darauf folgende Phase relativer Stabilität erlaubten abermals einer größeren Zahl afghanischer Flüchtlinge die Rückkehr. Doch mit der erneuten Machtübernahme der Taliban im August 2021 kehrte sich diese Bewegung wieder in Richtung Pakistan um. Der Zuzug afghanischer Flüchtlinge dauert seitdem an. Das UN-Flüchtlingshilfswerk spricht von 3,7 Millionen Afghanen, die in Pakistan leben. Die pakistanische Regierung geht von 4,4 Millionen afghanischen Flüchtlingen in Pakistan aus, von denen 1,7 Millionen irregulär eingereist sein sollen.
Die pakistanische Regierung geht von 4,4 Millionen afghanischen Flüchtlingen in Pakistan aus.
Wurden afghanische Flüchtlinge in Pakistan ursprünglich festgelegten Siedlungen zugewiesen, leben mittlerweile rund zwei Drittel der registrierten Afghanen in Pakistan außerhalb der Flüchtlingssiedlungen unter zumeist ärmlichen Bedingungen vor allem in städtischen Gebieten. Ohne einen gesicherten Rechtsstatus sind die meisten Afghanen in Pakistan auf die informelle Wirtschaft angewiesen, um Zugang zu Arbeit, Gesundheitsfürsorge, Bildung und Wohnraum zu erhalten. Pakistanische Arbeitgeber nutzen Afghanen als billige Arbeitskräfte, vor allem in ungelernten Berufen, wie dem Transportsektor, als Tagelöhner und Lumpensammler oder in einfachen Handwerksbetrieben.
Viele Afghaninnen und Afghanen leben unter ähnlichen Bedingungen und in den gleichen Nachbarschaften wie die Pakistaner, das Zusammenleben gelingt meist ohne größere Konflikte. Insbesondere bei Paschtunen und Hazara wurden in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Ehen zwischen pakistanischen und afghanischen Staatsbürgern geschlossen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Pakistan weder die UN-Flüchtlingskonvention unterzeichnet, noch eine eigene offizielle Flüchtlings- und Migrationspolitik formuliert hat. Nationales Recht, wie etwa die Möglichkeit der Naturalisierung in Pakistan geborener Kinder afghanischer Flüchtlinge, wird vor allem mit Blick auf Afghanen für gewöhnlich restriktiv ausgelegt. Regulär nach Pakistan eingereiste afghanische Flüchtlinge erhalten von der pakistanischen Regierung ein Registrierungsdokument, das ihnen zwar Zugang zu speziellen Bildungseinrichtungen ermöglicht, aber keinen Aufenthaltsstatus begründet und nur wenig Schutz vor Abschiebung oder Behördenwillkür bietet.
Durch die groß angelegte Abschiebung von Afghanen kann Pakistan Druck auf die Taliban ausüben.
Trotz der langen Geschichte afghanischer Migration nach Pakistan hatte sich in den letzten Monaten die Stimmung spürbar eingetrübt. Dazu haben vor allem die deutlich verschlechterte Sicherheitslage in den pakistanisch-afghanischen Grenzgebieten und die anhaltende schwere Wirtschaftskrise Pakistans beigetragen. Für islamistischen Terror werden von Regierung und Sicherheits-Establishment in Pakistan an erster Stelle afghanische Flüchtlinge verantwortlich gemacht. Nach Angaben des Interims-Innenministers Sarfraz Bugti waren afghanische Staatsangehörige in diesem Jahr an 14 von 24 Selbstmordanschlägen in Pakistan direkt beteiligt. Auf dem hart umkämpften Arbeits- und Wohnungsmarkt werden vor allem von ärmeren Bevölkerungsschichten Afghanen als große Konkurrenz betrachtet. Hinzu kommen Berichte, dass der Devisenschmuggel in das von der internationalen Gemeinschaft sanktionierte Afghanistan die pakistanische Währung destabilisiere und damit zu steigenden Lebenshaltungskosten in Pakistan beigetragen habe.
Darüber hinaus dürften auch die angespannten Beziehungen zwischen Pakistan und dem Taliban-Regime in Afghanistan eine Rolle spielen. Pakistan wirft den Taliban vor, nicht genug gegen Extremisten zu unternehmen, die von afghanischem Gebiet aus Angriffe und Anschläge in Pakistan planen. Die Taliban wiederum stören sich an dem von Pakistan errichteten Grenzzaun entlang der von Afghanistan nicht anerkannten Staatsgrenze. Zuletzt kam es wiederholt zu Schusswechseln zwischen pakistanischen und afghanischen Grenztruppen. Durch die groß angelegte Abschiebung von Afghanen kann Pakistan Druck auf die Taliban ausüben, die bereits jetzt mit einer humanitären Katastrophe in Afghanistan konfrontiert sind.
In der Summe ergeben diese Entwicklungen und Schuldzuweisungen ein gefährliches Gemisch. Kritiker aus dem In- und Ausland bringen die pakistanische Abschiebeoffensive in Zusammenhang mit den für Februar 2024 geplanten Parlamentswahlen, die es den Entscheidungsträgern in Regierung und Sicherheits-Establishment opportun erscheinen ließen, die öffentliche Aufmerksamkeit mit den drakonischen Maßnahmen auf die irreguläre Migration von Afghanen nach Pakistan zu lenken, um von der innenpolitischen Polarisierung durch die Absetzung und Verhaftung von Ex-Premier Imran Khan sowie von hausgemachten wirtschaftlichen Problemen abzulenken. Afghanische Flüchtlinge und ihre oft dramatischen Schicksale würden, so kritische Beobachter, von den politischen Eliten Pakistans als innenpolitischer Sündenbock und außenpolitische Verhandlungsmasse gegenüber den afghanischen Taliban instrumentalisiert. Die nur moderat vorgebrachte Kritik an der rabiaten Abschiebepolitik im Inland spricht dafür, dass dieses Kalkül aufgehen könnte.
Die Regierung in Islamabad gibt sich daher selbstbewusst. Illegale Einwanderer spielten eine große Rolle bei der Verbreitung von Aufruhr im Land und deshalb sei Pakistan sowohl juristisch als auch moralisch im Recht, wenn es sie deportiere, sagte Interims-Premierminister Kakar am 8. November vor der Presse. Doch bei aller zur Schau getragenen Härte beurteilen es Beobachter als fraglich, ob Pakistan tatsächlich willens und in der Lage ist, den Druck auf afghanische Flüchtlinge über Wochen und Monate hinweg aufrechtzuerhalten, um alle 1,7 Millionen Menschen abzuschieben. Die damit verbundene Logistik und der Ressourcenaufwand gleichen einem Kraftakt, den sich das wirtschaftlich schwer angeschlagene Land eigentlich nicht leisten kann. Vergleichbare Initiativen sind in der Vergangenheit nach einiger Zeit stets versandet.
Dennoch ist die internationale Kritik am Vorgehen der pakistanischen Regierung groß. Die kompromisslose Härte der Behörden wird ebenso kritisiert wie die mangelnde Berücksichtigung von Härtefällen wie in Pakistan geborenen Kindern und Jugendlichen oder verfolgten Aktivisten und Journalisten. Darüber hinaus wird berichtet, dass auch in Pakistan registrierte Afghanen und solche, die sich in Aufnahmeprogrammen westlicher Länder (darunter auch ehemalige Ortskräfte deutscher Organisationen) befinden, von der Polizei verfolgt und unter Druck gesetzt werden. Die Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen warnen zudem vor einer humanitären Katastrophe an den überlasteten Grenzübergängen.
Was von internationaler Seite bislang fehlt, sind konkrete Angebote und Initiativen.
Was von internationaler Seite bislang jedoch fehlt, sind konkrete Angebote und Initiativen, um die pakistanische Regierung von ihrer harten Haltung abzubringen. Denkbar wäre etwa, dass Pakistan stärker finanziell bei der Unterbringung und Versorgung afghanischer Flüchtlinge unterstützt wird. Aus pakistanischer Sicht wäre eine solche Lastenteilung mehr als angebracht, da in Pakistan vor allem der überstürzte Abzug aus Afghanistan im August 2021 für die aktuelle Lage verantwortlich gemacht wird. Pakistan, so sieht man es in Islamabad, werde mit den Konsequenzen des gescheiterten Experiments des Westens in Afghanistan alleingelassen.
Das trifft einen wunden Punkt, denn zweifellos haben nach dem Abzug aus Afghanistan die neuen Kriege und Krisen in der Ukraine oder Gaza das Schicksal Afghanistans nicht nur aus den Nachrichten, sondern auch aus dem Bewusstsein vieler Politiker und Bürger im Westen verdrängt. Doch die Lage in Afghanistan ist weiterhin dramatisch und das Schicksal geflüchteter Afghanen in der Region (neben Pakistan vor allem im Iran, der ebenfalls vermehrt afghanische Flüchtlinge abschiebt) darf daher nicht vergessen werden. Neue politische und humanitäre Initiativen zum Schutz von vor Gewalt und Armut geflüchteten Afghanen sind dringend geboten und bereits bestehende Zusagen wie etwa zum Regional Refugee Response Plan des UNHCR müssen endlich eingelöst werden.
Und nicht zuletzt sollte es im Lichte aktueller deutscher Diskussionen um Abschiebungen im großen Stil und einer Wende hin zu einer restriktiveren Migrationspolitik auch im Eigeninteresse deutscher und europäischer Regierungen sein, afghanischen Flüchtlingen möglichst nah an ihrer Heimat ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.