Nicht nur die USA und Europa stehen vor einem folgenreichen Wahljahr, sondern auch der Kontinent der Superlative. Mit fast 60 Prozent der Weltbevölkerung und des globalen Bruttoinlandsprodukts und zwei Dritteln des Wachstums ist die Indo-Pazifik-Region das ökonomische Gravitationszentrum der Welt. Auch politisch spielt Asien eine Schlüsselrolle in der multipolaren Weltordnung von morgen, in der die strategische Rivalität zwischen China und den USA zwar systemrelevant ist, daneben aber (über-)regionale Kraftzentren stark an Bedeutung gewinnen. Hier wird die Zukunft von regelbasierter internationaler Ordnung, wirtschaftlichem Wohlstand und Frieden und Sicherheit entscheidend geprägt. Ein souveränes und geopolitisches Europa braucht für seine politische Stärke und wirtschaftliche Resilienz mehr denn je breite globale Partnerschaften. Grund genug also, genau hinzuschauen, wenn 2024 in mindestens neun asiatischen Ländern gewählt wird.

In einem Jahr, in dem die Ukraine und der Nahe Osten für Deutschland weiter im Fokus stehen, sollten wir die gewichtigen Entwicklungen in Asien nicht aus dem Blick verlieren. Insbesondere sechs Hotspots und Trends stechen hervor: Erstens die sichtbaren Bemühungen auf amerikanischer und chinesischer Seite um ein Mindestmaß an Verständigung im Management ihrer Konflikte, bei zugleich wachsenden Sorgen um die zunehmenden Spannungen im Südchinesischen Meer und der Straße von Taiwan. Zweitens die erneute Bedrohung globaler Lieferketten durch die Sicherheitskrise im Roten Meer und am Horn von Afrika – ein wesentlicher Teil des weltweiten Frachtverkehrs läuft durch Asien, wo 15 der 20 größten Containerhäfen liegen. Drittens die eskalierenden Provokationen Nordkoreas und Pjöngjangs neue Achse mit Moskau, welche die Sorgen um Stabilität auf der koreanischen Halbinsel mehren. Viertens ein auf der Weltbühne erfolgreich und selbstbewusst agierendes Indien und das schwierige Verhältnis zwischen Neu-Delhi und Peking, das nicht zuletzt eine Achillesferse für China-dominierte Formate wie die BRICS+ oder die Shanghai Cooperation Organisation ist. Fünftens der fortschreitende Reputationsverlust des politischen Westens in vielen Ländern des sogenannten Globalen Südens zuletzt als Folge von Israels Krieg in Gaza nach den Terroranschlägen der Hamas. Und schließlich sechstens der auch in Asien manifeste Rückzug der Demokratie und das Erstarken von Autoritarismus und Populismus.

Die Gesellschaften und Regierungen in Asien stehen vor durchaus ähnlichen Herausforderungen wie Deutschland und Europa.

Dabei stehen die Gesellschaften und Regierungen in Asien vor durchaus ähnlichen Herausforderungen wie Deutschland und Europa: Wie bewahrt und stärkt man die eigene Unabhängigkeit inmitten dominanter Großmachtrivalitäten? Welche Auswirkungen haben die epochalen geopolitischen und geoökonomischen Umbrüche unserer Zeit für die nationalen Entwicklungsmodelle insbesondere von Entwicklungs- und Schwellenländern? Wie können einseitige Abhängigkeiten reduziert und Partnerschaften diversifiziert werden? Nicht jede dieser Fragen steht freilich im Mittelpunkt der Wahlkämpfe. Wie andernorts auch sind Wahlen zuvorderst von innenpolitischen Themen geprägt – ob Jugendarbeitslosigkeit und Massenarbeitsmigration in Bhutan, soziale Ungleichheit in Südkorea, Wirtschaftskrise in Sri Lanka oder Korruptionsbekämpfung in der Mongolei. Über allem schwebt aber das Schwert der Geopolitik – der Wunsch vieler Staaten, sich nicht entscheiden zu müssen zwischen den Supermächten und großen Nachbarn, und doch gleichsam die Angst, dass genau dieser Balanceakt irgendwann nicht mehr möglich sein könnte. Was also steht außenpolitisch auf dem Spiel in Asien? Und was kann die deutsche Politik für ihre Partnerschaften erwarten?

Der Auftakt ins asiatische Superwahljahr könnte geopolitischer kaum sein. In Bangladesch sicherte sich Premierministerin Sheikh Hasina wie allseits erwartet ihre insgesamt fünfte Amtszeit, unter dem Wahlboykott der Opposition und internationaler Sorge um die demokratische Zukunft des Landes. Strategisch positioniert als Brücke zwischen Süd- und Südostasien und den großen Nachbarn Indien und China geschickt balancierend, sah das Land eine rasante wirtschaftliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten. Der Wahlsieg von Hasinas Awami League ist eine willkommene Nachricht für den engsten Verbündeten Indien. Für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit und die Umsetzung des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes werden die Herausforderungen größer.

Ebenfalls zum Jahresbeginn siegte im benachbarten Bhutan der frühere Premierminister Tshering Tobgay. Enge Beziehungen zu Indien bleiben das außenpolitische Hauptstandbein. Der Grenzkonflikt mit China dauert an und ist für Thimphu, Peking und Delhi von geostrategischer Bedeutung.

Die größte internationale Aufmerksamkeit und mögliche Implikationen für regionale und globale Stabilität haben die Wahlen auf Taiwan.

Die größte internationale Aufmerksamkeit im Januar und mögliche Implikationen für regionale und globale Stabilität im Supermachtkonflikt zwischen China und den USA haben die Wahlen auf Taiwan. In den Umfragen lag zuletzt der amtierende Vizepräsident und Peking-kritische Kandidat der Democratic Progressive Party (DPP) William Lai Ching-te in Führung. Allerdings hatte die oppositionelle und Peking-freundliche Kuomintang (KMT) unter Hou Yu-ih aufgeholt. In Taiwan werden zehn Tage vor dem Wahltermin keine Befragungen mehr veröffentlicht. Der Endspurt ist offen. Erstmals seit 2008 steht auch die Möglichkeit eines Parlaments ohne absolute Mehrheit im Raum, sollten der dritte Präsidentschaftskandidat Ko Wen-je und seine Taiwan People’s Party (TPP) die Zwei-Parteien-Dominanz brechen. Nicht minder relevant als der Wahlausgang selbst werden freilich die Reaktionen Pekings und die US-Wahlen im Herbst sein. Für Deutschland ist Taiwan der fünftgrößte Handelspartner in Asien und als führender Halbleiter-Hub systemrelevant. Berlin und Brüssel sind gut beraten, in der Taiwan-Frage in kurz-, mittel- und langfristigen Szenarien zu planen.

Im Februar stehen die Wahlen in den Ländern mit den viert- bzw. fünftmeisten Einwohnern der Welt im Mittelpunkt: Indonesien und Pakistan. In Indonesien liegt Prabowo Subianto, Verteidigungsminister und Ex-Schwiegersohn des einstigen Militärmachthabers Suharto, in Führung, mit einem gemeinsamen Ticket mit Gibran Rakabuming, dem ältesten Sohn des scheidenden populären Amtsinhabers Joko Widodo. Gleichsam bleibt abzuwarten, zu welchen Allianzen mit den beiden Mitbewerbern – Ex-Jakarta-Gouverneur Anies Baswedan und der ehemalige Gouverneur von Zentraljava Ganjar Pranowo, die Prabowo auch für seine Menschenrechtsbilanz kritisieren – es im Falle einer Stichwahl käme.

Außenpolitisch ist von einer Fortsetzung der neutralen indonesischen Haltung auszugehen. Prabowo steht für mehr Verteidigungsausgaben und militärische Kapazitäten. Neben den engen wirtschaftlichen Beziehungen zu China, ließ seine dezidiert pragmatische Bewertung des Atom-U-Boot-Deals zwischen Australien, Großbritannien und den USA (AUKUS) aufhorchen. Auf die EU blickte er zuletzt skeptisch, beklagte Doppelmoral und unterschiedliche Positionen bei Handelspolitik und Umweltthemen. Für Deutschland ist Indonesien ein zentraler Partner. Die Zusammenarbeit ist durch die parallelen G7- und G20-Vorsitze, mit der wichtigen Erklärung von Bali zur Ukraine im November 2022, weiter gewachsen. Auch der schwächelnde Staatenbund ASEAN bleibt ein prioritärer Kooperationspartner bei der Umsetzung der deutschen Indo-Pazifik-Leitlinien.

Die Situation vor den Wahlen in Pakistan bleibt unberechenbar.

Die Situation vor den Wahlen in Pakistan bleibt unberechenbar. Der aus dem Exil zurückgekehrte dreimalige Premierminister Nawaz Sharif sucht erneut das Regierungsamt. Sein stärkster Widersacher, der populäre Ex-Cricket-Star und vormalige Regierungschef Imran Khan, ist von den Wahlen ausgeschlossen. Ein Wahlsieg für Sharif, ein Überraschungs-Premierminister oder die Verschiebung des Urnengangs – vieles scheint kurz vor der Wahl noch denkbar. Letztlich entscheidet wohl der mächtige Sicherheitsapparat. Deutschland sollte Pakistan trotz des andauernden politischen Chaos nicht aufgeben. Die Atommacht ist sichtlich bemüht, neben ihrer Schlüsselrolle in Chinas Belt and Road Initiative, sich mit dem politischen Westen wieder auf breitere Füße zu stellen.

Die ultimative Wahl der Superlative wird zwischen April und Mai abgehalten. In der größten Abstimmung der Welt wählt Indien in mehreren Etappen ein neues Parlament. Ein Sieg des populären Premierministers Narendra Modi und der von seiner Bharatiya Janata Party (BJP) angeführten National Democratic Alliance (NDA) scheint wahrscheinlich. Für das Oppositionsbündnis I.N.D.I.A. unter Führung der Kongresspartei könnte es schwer werden, wenngleich Überraschungen nicht ausgeschlossen sind. Ob erfolgreicher G20-Vorsitz oder die erste indische Mondlandung – Delhi ist auf der Weltbühne angekommen. Sein neues internationales Selbstverständnis lässt sich eindrucksvoll im gerade erschienenen Buch von Außenminister S. Jaishankar Why Bharat matters nachlesen.

Die Agenda in 2024 für die strategische Partnerschaft zwischen Deutschland und Indien ist voll.

Die Agenda in 2024 für die strategische Partnerschaft zwischen Deutschland und Indien ist voll: Regierungskonsultationen, Asien-Pazifik-Konferenz der deutschen Wirtschaft, Verteidigungskooperation und Militärübungen, grüne und nachhaltige Entwicklung. Zu der vielleicht entscheidendsten deutschen Partnerschaft im Indo-Pazifik gehört dabei auch der respektvolle Umgang mit Meinungsverschiedenheiten in einem angemessenen Rahmen.

In Südkorea werden die ebenfalls für April geplanten Parlamentswahlen vom Attentat auf den Oppositionsführer Lee Jae-myung überschattet. Seit den engsten Präsidentschaftswahlen in der Geschichte des Landes im März 2022 – Wahlsieger Yoon Suk-Yeol und Lee trennten damals weniger als ein Prozent – hat die chronische Polarisierung der koreanischen Politik noch einmal zugenommen. Mit dem Versuch der historischen Aussöhnung zwischen Südkorea und Japan gehen Präsident Yoon und Premierminister Kishida mutige Schritte. Gesellschaftlich bleibt die Annäherung vor allem in Südkorea umstritten.

Gegenüber Nordkorea setzt Seoul auf Abschreckung.

Gegenüber Nordkorea setzt man auf Abschreckung. Entspannungspolitik scheint angesichts des Kurswechsels und der Aggressionen aus Pjöngjang aktuell kaum realistisch. Präsident Yoon und seine konservative People Power Party, die keine Mehrheit in der Nationalversammlung hat, stehen vor Schicksalswahlen. Bleibt die oppositionelle Demokratische Partei größte Fraktion, ist Yoon nachhaltig geschwächt. Für Deutschland ist Südkorea einer der wichtigsten Werte- und Handelspartner im Indo-Pazifik. Ob im Verhältnis zu China, bei wirtschaftlicher Sicherheit oder strategischer Industrie- und Technologiepolitik – man kann viel voneinander lernen.

Gleiches gilt für Japan, wo Wahlen zwar erst 2025 anstehen, eine vorgezogene Parlamentsauflösung aber ein mögliches Szenario bleibt. Premierminister Kishida kämpft mit schlechten Umfragewerten und einem Parteispendenskandal. Er muss sich auch bei der Vorsitzwahl seiner Liberaldemokratischen Partei (LDP) bewähren. Japans Politik könnte vor einem Umbruch stehen.

Für die deutsch-japanischen Beziehungen ist dennoch Kontinuität zu erwarten. Selten war die strategische Partnerschaft zwischen Berlin und Tokyo so eng. Seine erste Asien-Reise führte Bundeskanzler Scholz nach Japan und erstmals wurden Regierungskonsultationen abgehalten. Die Abstimmung der aufeinanderfolgenden deutschen und japanischen G7-Vorsitze war zentral bei der Positionsfindung zu globalen Herausforderungen von Russlands Angriffskrieg bis zum Klimawandel.

Seinen Abschluss findet das volle erste Wahlhalbjahr in der Mongolei im Juni. Ein Wahlsieg der dominierenden Mongolischen Volkspartei (MVP) unter dem jungen Premierminister Oyun-Erdene ist wahrscheinlich, die absolute Mehrheit aber nicht sicher. Umso beachtlicher sind die von ihm und von reformorientierten Kräften auf den Weg gebrachten Wahlgesetzänderungen: Mehr Parteien soll der Einzug ins Parlament ermöglicht werden und es wird eine Frauenquote von 30 Prozent geben. Die in der Region einzigartige mongolische Demokratie mit ihrer geopolitischen Lage zwischen China und Russland vollführt einen anspruchsvollen außen-, sicherheits-, wirtschafts- und energiepolitischen Balanceakt. Dabei verdient sie von Deutschland, ihrem wichtigsten „Drittnachbarn“ in Europa, auch in der Zukunft jede Unterstützung.

In der zweiten Jahreshälfte werfen neben den Wahlen in Sri Lanka, welches sich zum geopolitischen Kristallisationspunkt im Wettbewerb zwischen Indien, China und den USA entwickelt hat, die Urnengänge des nächsten Jahres bereits ihre Schatten voraus. So wird erwartet, dass in Singapur – einem regionalen Schlüsselpartner im Einsatz für Multilateralismus, freien Welthandel und maritime Sicherheit – Premierminister Lee Hsien Loong nach 20 Jahren im Amt den Stab an seinen designierten Nachfolger Lawrence Wong übergibt.

Und auch die Wahlkampfmaschine in Australien wird langsam angeworfen.

Und auch die Wahlkampfmaschine in Australien wird langsam angeworfen. Die Labor Party unter Premier Anthony Albanese sucht die Wiederwahl voraussichtlich im Mai 2025, könnte aber auch schon deutlich früher an die Urnen rufen. Geschwächt durch das verlorene „Voice“-Referendum zu den Rechten der Indigenen und mit sinkenden Umfragewerten kämpfend, ist die zweite Amtszeit kein Selbstläufer.

Für Deutschland ist Australien, ebenso wie Neuseeland, ein natürlicher Partner in der Region. Zu Albaneses pragmatischem und gleichsam prinzipientreuem Neustart in den Beziehungen zu China – mit dem ersten Besuch eines australischen Regierungschefs in Peking seit sieben Jahren – ebenso wie zur ersten Nationalen Sicherheitsstrategie Neuseelands lohnt die enge Abstimmung und der Erfahrungsaustausch unter Freunden.

Alles in allem sollten die Wahlen im Indo-Pazifik in diesem und im nächsten Jahr in den für Deutschland und die EU wichtigsten Partnerländern in der außenpolitischen Zusammenarbeit also weitgehend Kontinuität produzieren. Das sind keine schlechten Nachrichten in Anbetracht der zu erwartenden geopolitischen Turbulenzen, der andauernden Kriege und möglicher neuer Konfliktherde. Sie werden unsere ganze Kraft fordern und starke Partnerschaften brauchen.