Chinas Machtstruktur ist monolithisch, und wenn der KPCh-Generalsekretär (und Staatspräsident) Xi Jinping etwas anordnet, dann geschieht alles sogleich nach seinem Willen – so argumentieren vor allem Kommentatoren, die wenig von China verstehen. Die jüngsten Entwicklungen im Bereich der Umwelt- und Klimapolitik allerdings sind mit diesem Denkmuster nicht vereinbar.
Im September 2020 verkündete Xi Jinping vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen, dass China das Maximum seines CO2-Ausstoßes bis 2030 erreichen und ab 2060 sogar CO2-Neutralität erzielen werde. Diese Zusage war weder internationalem Druck geschuldet noch durch Selbstverpflichtungen anderer Länder konditioniert; sie kam für alle Expertinnen und Experten – die internationalen und die in China – vollkommen überraschend. In der chinesischen Politik werden nationale Entwicklungen extrem akribisch geplant, viele Behörden und tausende von Fachexperten werden beteiligt, wie es gegenwärtig bei der Ausarbeitung des nächsten Fünf-Jahres-Plans deutlich wird. Es ist vollkommen außergewöhnlich, dass politische Führungsfiguren im Alleingang hochgesteckte Ziele mit konkreten, quantitativen Vorgaben setzen. Das Risiko, im Falle eines Scheiterns allein und persönlich haftbar gemacht zu werden, ist groß.
Im Januar 2021 veröffentlichte Chinas Nationalamt für Energie (praktisch: das Energieministerium) den Ergebnisbericht der „Zentralen Inspektionsgruppe für Umweltschutz“. In außerordentlicher Schärfe warfen die Inspekteure dem Energieamt die umfangreiche Vernachlässigung seiner Pflichten als Umweltregulator für den Energiesektor vor. Die Sünden des Energieamtes wurden detailliert aufgelistet, und eine zusätzliche Demütigung bestand darin, dass das Energieamt den Tadel im Volltext auf seiner eigenen Website veröffentlichen musste. „Zentralinspektionen“ erfolgen im Auftrag der zentralen Partei- und Staatsführung. Der oberste Verantwortliche der Umweltinspektion ist ein Politbüro-Mitglied und stellvertretender Ministerpräsident, die Inspektoren werden von der Organisationsabteilung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) benannt.
Ein Wachstumstempo dieser Höhe lässt zwangsläufig den Gesamtbedarf an Energie noch für lange Zeit steigen.
Überraschende Ankündigungen von Spitzenpolitikern auf der internationalen Bühne oder Zoff zwischen Umweltaufsicht und dem Ministerium für Energie kommen auch in anderen Ländern vor. Im chinesischen System werden aber die Aushandlungsprozesse hinter geschlossenen Türen vollzogen; wenn diese sich wieder öffnen, wird nur das Ergebnis verkündet und Einigkeit demonstriert. Die Gesichtswahrung aller Beteiligten ist das zentrale Prinzip. Deshalb kann die Interpretation der Vorgänge sich auch nicht auf Originalzitate stützen, sondern nur versuchen, die bestmögliche Deutung des Beobachteten zu liefern. Jedenfalls war hier eine spektakuläre Ausnahme vom üblichen Ablauf öffentlich geworden und das zeigt, wie ungewöhnlich schwierig und strittig die Aushandlungsprozesse bei ökologischen Themen verlaufen.
Die Widerstände gegen ökologisch motivierte Normen entstehen einerseits durch die Kollision von zentralen Vorgaben mit lokalen, regionalen oder sektoralen Interessen, die durch Auflagen, Verbote, die Verknappung oder Verteuerung der Nutzung umweltsensibler Ressourcen berührt werden. Kreise und Provinzen, die stark von Kohleförderung und -nutzung abhängen oder eine besonders umweltbelastende Produktionsstruktur aufweisen, haben eine natürliche Neigung, die Umweltvorgaben der Zentrale so zögerlich wie möglich umzusetzen. Meist sind es auch Regionen mit unterdurchschnittlichem Einkommen und die Verantwortlichen fürchten den Unmut der örtlichen Bevölkerung. Das ist das gewohnte, ständige Tauziehen zwischen zentralen Politikvorgaben und regionaler Umsetzung, das sich gelegentlich auch in Form von „alternativen Fakten“ in den regionalen Statistiken niederschlägt.
Andererseits bestehen selbst auf der gesamtstaatlichen Ebene Zielkonflikte: Die aktuell debattierten 15-Jahres-Zielvorgaben, die im März beschlossen werden sollen, umfassen ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich etwa fünf Prozent pro Jahr bis 2035. Dieses quantitativ eindeutige Ziel setzt viele Verantwortliche unter einen enormen Erfolgszwang. Ein Wachstumstempo dieser Höhe lässt zwangsläufig den Gesamtbedarf an Energie noch für lange Zeit steigen, denn die Energieintensität einer Einheit Sozialprodukt kann schwerlich jedes Jahr um fünf Prozent gesenkt werden. Was schon ein punktueller Ausfall von Energie kurzfristig bewirkt, wurde in den letzten Monaten deutlich, als China nach außenpolitischen Zwistigkeiten australische Kohle nicht anlanden ließ: Einerseits musste die Stromnutzung in einigen Provinzen rationiert werden, andererseits führte die teilweise Substitution durch heimische Kohle, die höhere Verunreinigungen aufweist, zu lokal schlechteren Luftwerten.
Der riesige chinesische Staatsapparat verfügt über viele Möglichkeiten, Veränderungen abzubremsen oder gar abzuwenden, ohne offenen Widerstand zu zeigen.
Ein höherer Energieeinsatz kann umweltverträglich gestaltet werden, wenn der Anteil regenerativer Energien im Primärenergiemix zunimmt. Bislang bestand die Vorstellung, dass sich das Verhältnis von Kohle/Öl und Gas/erneuerbare Energien (aktuell ungefähr 60/25/15) bis 2030 in Richtung 50/30/20 und dann bis 2050 hin zu 40/30/30 bewegen solle. C02-Neutralität bedeutet aber, dass die Kohle ab 2060 maximal acht Prozent ausmachen darf. Der Ausbau regenerativer Energien müsste dazu viel ambitionierter betrieben werden, als bisher geplant.
In diese Richtung weist auch eine strategische Überlegung. Derzeit wird ein Teil der eingesetzten Kohle importiert, für Öl und Gas gilt das nahezu in vollem Umfang. Davon wird der aus Russland stammende Bezug als relativ sicher angesehen, der Rest ist von Handelswegen abhängig, die China allein nicht kontrollieren kann. Eine Verdoppelung des Bruttosozialprodukts bis 2035 bei einer gleichzeitig starken Reduktion des (inländischen) Kohleanteils würde das erforderliche Importvolumen von Öl und Gas, also von Primärenergien, deren Weg nach China nicht ganz sicher ist, weiter steigern. Chinas wirtschaftliche Entwicklung wäre verwundbarer; der einzige Ausweg für dieses strategische Problem besteht in einem deutlich höheren Ausbautempo der regenerativen Energien.
Sicherlich ist es Xi Jinping gelungen, seine persönliche Führungsmacht in einem Umfang zu konsolidieren, wie es keinem anderen Politiker in China seit Jahrzehnten möglich war. Aber die Abwesenheit jeglichen Widerstands gegen seine Person bedeutet noch längst nicht, dass seine sachpolitischen Vorgaben überall reibungslos umgesetzt werden. Der riesige chinesische Staatsapparat verfügt über viele Möglichkeiten, Veränderungen abzubremsen oder gar abzuwenden, ohne offenen Widerstand zu zeigen. Dabei spielen die geschilderten lokalen Interessen eine Rolle, daneben auch der Widerstand von Sektoren, die durch umwelt- und klimapolitische Maßnahmen eine Verschlechterung ihrer internationalen Wettbewerbssituation erwarten. Manche Wirtschaftslenker – in privaten Unternehmen wie im Staatssektor – empfinden die Anforderung, das vorgegebene hohe Wachstum liefern zu müssen, während sie gleichzeitig durch stärkere Umweltauflagen gebremst werden, als überambitioniert und praktisch nicht zu erfüllen.
Das ist die Deutung des öffentlichen Tadels für das Energieamt: Wer seine wirtschaftlichen Ziele erreicht, indem die Umweltauflagen nonchalant umgangen werden, wird öffentlich an den Pranger gestellt.
In dieser Situation steht die Partei- und Staatsspitze auf der Seite von Umwelt und Klima. Indem sie bei Wachstumszielen ehrgeizig bleibt und gleichzeitig die Anforderungen im Umweltschutz höherschraubt, steigert sie den Druck auf viele Kader, deren persönliche Erfolgsbewertung primär von der Zielerreichung im wirtschaftlichen Bereich abhängt.
Das ist die Deutung des öffentlichen Tadels für das Energieamt: Wer seine wirtschaftlichen Ziele erreicht, indem die Umweltauflagen nonchalant umgangen werden, wird öffentlich an den Pranger gestellt. Und auch Xis UN-Rede muss vor diesem Hintergrund gesehen werden. Sie glich einem politischen Coup, mit dem er die Widerstandskräfte in China vor vollendete Tatsachen stellte. China hat sich vor der Weltöffentlichkeit verpflichtet – nun müssen alle anpacken, um dieses Versprechen einzulösen, oder ganz China erleidet einen Gesichtsverlust. Xi und sein enges Umfeld sind im chinesischen Kontext die radikalsten Befürworter einer ambitionierten ökologischen Entwicklung, während der Partei- und Staatsapparat mühsam nach vorne bewegt werden muss und die Mehrzahl der Unternehmen verhalten agiert.
Xi Jinping kam an die Macht, als die Luftverschmutzung in den chinesischen Städten apokalyptische Dimensionen erreicht hatte und plötzlich als vordringliches Problem empfunden wurde – damit war das Umweltthema auch politisch eine Toppriorität geworden. Wenn man Xis Reden und veröffentlichte Artikel mit denen anderer Politiker und politischer Institutionen vergleicht, wird deutlich, dass seine umweltpolitischen Forderungen oder die Kritik an ökologischen Sünden oft viel weiter geht als die aller anderen Akteure, etwa die aus dem Umweltministerium. Daher ist im Umweltbereich auch die Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen willkommen, solange es um die Identifikation von Verfehlungen einzelner Betriebe oder Behörden und um konkrete Handlungsvorschläge geht.
Reine CO2-Verminderung mit klimapolitischer Zielrichtung hat dagegen wenig Lobby und ist derzeit noch ein Elitenthema.
Bei Umweltthemen weiß die politische Spitze die Unterstützung der urbanen Bevölkerung also hinter sich. Die Luftqualität, in zahlreichen Apps abgebildet, ist ein tägliches Gesprächsthema. Allmählich wächst auch ein Problembewusstsein für die Boden- und Gewässerbelastung, sogar für Biodiversität. Reine CO2-Verminderung mit klimapolitischer Zielrichtung dagegen hat wenig Lobby und ist derzeit noch ein Elitenthema. Hier ist die Verbindung zwischen Chinas Beitrag – und den erforderlichen Opfern – und dem Ziel einer weltweiten Temperaturreduzierung weniger eng, dagegen ist die Versuchung stark, andere Staaten mit höherem Pro-Kopf-Einkommen vorangehen zu lassen. Bei Klimamaßnahmen im engeren Sinne kann die politische Führung viel weniger auf öffentliche Unterstützung bauen. Sie möchte keine Debatte um einen möglichen Konflikt zwischen Wirtschafts- und Klimazielen aufkommen lassen. Mit seiner deutlichen Verpflichtung vor den UN hat Xi also politisches Kapital eingesetzt.
Bis vor Kurzem wirkte der klimapolitische Kurs der Trump-Administration wie ein zusätzlicher Gegenwind; die internen Kritiker an Xis Kurs konnten von einem naiven Alleingang sprechen, der China Lasten aufbürdete, aber wenig Früchte tragen werde, solange sich reichere Staaten wegduckten. Mit dem neuen Schwung auf dem internationalen Parkett, zunächst aus Brüssel, seit Kurzem auch aus Washington, ist China wieder Teil in einer global-koordinierten Politikgestaltung. Das macht der politischen Führung die öffentliche Erklärung ihres Kurses leichter.
Gefragt ist nun eine schwierige Balance: Sowohl die EU als auch die neue US-Administration beschreiben – mit leicht unterschiedlichen Formulierungen – China als Partner, Konkurrenten und systemischen Rivalen zugleich. In der Klimapolitik ist die partnerschaftliche Rolle ganz klar, Chinas Beitrag ist aufgrund seiner Größe sogar unverzichtbar, seine politische Führung kämpft gegen eine zögerliche Administration bei einer schwachen Unterstützung durch die Bevölkerung. Es wird nun viel politische Kunst benötigt, Instrumente zu finden, die einerseits Chinas Unterstützung für die Klima-Partnerschaft nachhaltig sichern und andererseits die weiteren Aspekte der komplizierten Beziehung nicht aus den Augen verlieren.