Indiens Einfluss in der Welt hat sich in den letzten Jahren deutlich vergrößert. Die Regierung in Delhi hegt mittlerweile große Ambitionen, ein globaler Player zu sein. Ausschlaggebend für das größere Gewicht ist vor allem das phänomenale Wirtschaftswachstum, das mit einigen Schwankungen seit Ende der 2000er Jahre durchschnittlich bei über sieben Prozent jährlich lag. Mit 8,7 Prozent Wachstum im Jahr 2021 avancierte Indien zur fünftgrößten Wirtschaftsmacht der Welt nach den USA, China, Japan und Deutschland. Die ehrgeizigen Ziele der indischen Regierung, im Konzert der Großen mitzuspielen oder gar den Ton anzugeben, sind nicht neu. Die politische Elite sah Indiens Rang in globalen Angelegenheiten schon immer in der Spitzengruppe. Doch in der Vergangenheit blieb das Land zu oft in die regionalen Konflikte Südasiens verstrickt.

Für das Jahr 2023 übernahm Indien nun den Vorsitz der G20 und damit die Möglichkeit, deren Agenda zu formen. Dies wird in Delhi als historische Chance gesehen und ist vielleicht ein bisschen Kompensation dafür, dass dem Land seit Jahrzehnten ein Ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat verwehrt wird. Mit über 1,4 Milliarden Einwohnern ist Indien dabei, China in diesem Jahr als bevölkerungsreichstes Land der Welt zu überholen. Delhi plädiert seit langem für eine Reform internationaler Einrichtungen (wie der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und des UN-Sicherheitsrats), weil diese eher der Machtverteilung nach dem Zweiten Weltkrieg als der heutigen Weltlage entsprechen. Die Regierung strebt während der G20-Präsidentschaft vor allem an, den „ungehörten Stimmen“ des Globalen Südens Gehör zu verschaffen.

Indiens Außenminister, Subrahmanyam Jaishankar, machte in einem Interview mit der New York Times selbstbewusst deutlich, dass er die Weltordnung nach wie vor für zu sehr westlich dominiert hält. Den Europäern hält er vor, prioritär mit den eigenen Angelegenheiten beschäftigt zu sein und globale Probleme aus dem Blick zu verlieren. So haben die westlichen Sanktionen gegen Russland die Preise für Energie, Nahrungsmittel und Dünger in die Höhe getrieben und akute wirtschaftliche Probleme in ärmeren Ländern verursacht. Die indische Regierung stemmt sich gegen eine Blockbildung, wie wir sie aus der Zeit des Kalten Krieges kennen, und die sich zur Zeit in anderer Ausprägung in der Konkurrenz und dem Konflikt zwischen den USA und China andeutet.

Indien lehnt es ab, sich ohne Weiteres auf die Seite des Westens zu schlagen. Vielmehr schweben der Regierung in Dehli multiple Allianzen vor, ein Konzept, das bestens zu Indiens Tradition der Blockfreiheit passt. Das Land will sich nicht vollständig ins Camp der USA begeben, um beispielsweise China in Asien (oder global) Grenzen zu setzen. Zwar ist man neben den USA, Australien und Japan Mitglied im Quatrilateralen Sicherheitsdialog (Quad), amerikanischem und europäischem Druck gab Indien bei den Abstimmungen zur Verurteilung des russischen Angriffskrieges dennoch nicht nach, sondern enthielt sich in den Vereinten Nationen der Stimme. Russlands Präsident Wladimir Putin pflegt guten Kontakt zur indischen Regierung und versucht damit zum Ausdruck zu bringen, dass Moskau längst nicht so isoliert ist, wie der Westen dies oft proklamiert. Gleichzeitig aber sagte Premierminister Narendra Modi dem russischen Präsidenten bei einem Treffen der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) im September 2022 in aller Deutlichkeit: „Die heutige Ära ist keine Ära des Krieges.“

Weder heimlich noch reumütig unterhält Indien mit Russland gute wirtschaftliche Beziehungen.

Weder heimlich noch reumütig unterhält Indien mit Russland gute wirtschaftliche Beziehungen. Das Land importiert schon seit Jahrzehnten Rüstungstechnologie aus Russland und ist weiter auf Moskaus Kooperation angewiesen. Im Zuge des Ukrainekrieges erhöhte Indien seine Erdölimporte aus Russland – zu reduzierten Preisen. Vorhaltungen des Westens bezüglich der indischen „Schaukelpolitik“ kontert der indische Außenminister mit Hinweis auf europäische Heuchelei: Wenn Länder mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 60 000  US-Dollar meinen, bei der Energieversorgung ihre eigenen Interessen wahrnehmen zu wollen, dann ist das legitim. Aber sie sollten nicht erwarten, dass sich ein Land mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 2 000 US-Dollar zurückhält, wenn es um seine Interessen geht.

Das Konzept der multiplen Allianzen – sowohl gute Drähte nach Washington und Brüssel als auch nach Moskau zu pflegen – erlaubt Delhi, als Vermittler zu fungieren. Noch weist die russische Regierung jeglichen diplomatischen Versuch zur Beendigung des Krieges oder zur Aufnahme von Verhandlungen zurück. Doch die Erfahrungen der Konfliktregulierung zeigen, dass Bemühungen neutraler Vermittler hilfreich sein können. Auch darin besteht eine Chance für die indische Regierung, sich konstruktiv in der Weltpolitik zu positionieren.

Schließlich kann Indien aus vielerlei Gründen von der derzeit weit verbreiteten Skepsis gegenüber Chinas Politik profitieren. Die Pandemie hat zu Indiens wachsendem Einfluss entscheidend beigetragen, da in dieser Zeit vielen klar wurde, wie stark und vielfältig die wirtschaftlichen Abhängigkeiten von China sind. Die aggressive Außenpolitik Chinas, die mangelnde Transparenz bezüglich Corona sowie Verwerfungen durch den drohenden Zusammenbruch von Lieferketten oder technologische Abhängigkeit in zentralen wirtschaftlichen Bereichen haben zu einem gewissen Umdenken geführt. Vor allem die Diversifizierung von Lieferketten betrachten viele Regierungen als unumgängliche Maßnahme zur Reduzierung von Abhängigkeit und zur Vergrößerung der Resilienz der eigenen Gesellschaft.

Diese Gemengelage bietet eine immense Chance für Indien. Das Land hat ein großes Potenzial gut ausgebildeter, englischsprachiger Fachkräfte. Diese Ressource und der große indische Markt mit einer wachsenden Mittelschicht sind für viele ausländische Investoren attraktiv. Die gegenwärtige wirtschaftliche Stärke und politische Entschlossenheit können 2023 zu Indiens globalem Jahr machen.

Pekings Projekt „Neue Seidenstraße“ heizt die Situation weiter an.

Doch es gibt auch Hindernisse. Indien verfügt nicht nur über technologisch hoch entwickelte Sektoren. Es ist weiterhin ein armes Land. Die indische Wirtschaft benötigt mehr als sieben Prozent Wachstum, um für die zehn bis zwölf Millionen jährlich neu in den Arbeitsmarkt drängenden jungen Menschen ausreichend Jobs anzubieten und die Armut zu reduzieren. Es bedarf einer Boomphase von mehreren Jahrzehnten – ähnlich wie in China in der Vergangenheit. Was dies für den Klimawandel bedeutet, lässt sich unschwer vorhersagen.

Außenpolitisch gelang es Modis Regierung, die Beziehungen zu den USA, Japan, Australien und den europäischen Ländern zu intensivieren. Auch das nicht immer positive indische Image in der unruhigen Nachbarschaft verbesserte sich. Indiens Rolle und Status in Südostasien ist jedoch kompliziert und die Beziehungen zu kleineren Nachbarn sind, allein schon wegen der Größe Indiens, nicht frei von Spannungen.

Die krisenhafte Lage in der Region spiegelt sich in Indiens langjährigem Konflikt mit Pakistan und dem schwierigen Verhältnis zu China wider. Territoriale Streitigkeiten – bis heute ungelöst – geben immer wieder Anlass zu Grenzzwischenfällen. Sowohl die ungelösten Grenzstreitigkeiten als auch Chinas bevorzugte Beziehungen zu Pakistan machen Delhi Sorgen. China und Indien investieren kräftig in die Streitkräfte, Ersteres jedoch deutlich mehr als Letzteres. Pekings Projekt „Neue Seidenstraße“ heizt die Situation weiter an. Zudem führt Chinas Präsenz im Indischen Ozean zu sicherheitspolitischer Besorgnis in Delhi. Gleichzeitig aber arbeiten die Regierungen Indiens und Chinas in Bereichen wie der BRICS-Initiative, der SCO sowie der G20 zusammen.

Die Beziehungen zwischen den beiden asiatischen Giganten bleiben widersprüchlich. Trotz diverser Treffen zwischen Narendra Modi und Xi Jinping hat sich die Rivalität zwischen den beiden Ländern verstärkt. Auch in Indien hat man lange an den mäßigenden Einfluss des Handels geglaubt. Doch der beträchtlich gewachsene bilaterale Handel zwischen China und Indien konnte die Spannungen nicht lösen. Jetzt hat die indische Regierung eine Politik des Decoupling, der Entflechtung, eingeleitet. Doch die Entflechtung ist nicht leicht, weil eine indische Importabhängigkeit besteht. Die globalen Ambitionen der beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt haben sie zu erbitterten Konkurrenten gemacht. Beide Regierungen fühlen sich, trotz ungelöster sozialer und politischer Probleme, als asiatische Kraftzentren.

Indien ist daran interessiert, ideologische Differenzen zu überwinden und mit gleichgesinnten Ländern zusammenzuarbeiten, um eine Roadmap für einen neuen Multilateralismus zu erarbeiten. In der Auseinandersetzung zwischen Demokratien und Autokratien, besonders in der Rivalität im indo-pazifischen Raum zwischen den USA und China, kann Delhi als Zünglein an der Waage eine wichtige Rolle spielen. Indiens wachsender Einfluss, mit Selbstbewusstsein kommuniziert, kann die sich herausbildende globale Ordnung durchaus positiv beeinflussen.