Der Krieg in der Ukraine hat die Länder, die politisch, ökonomisch und historisch eng mit Russland verbunden sind, vor eine schwierige Aufgabe gestellt: Einerseits können sie ihre Beziehungen zu Moskau nicht abbrechen, andererseits wollen sie international nicht in Ungnade fallen. Zu den Ländern, denen dieser Balanceakt bisher weitgehend gelungen ist, gehört Kasachstan. Seit 2022 haben Staatsoberhäupter aus aller Welt die Hauptstadt Astana besucht – vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping über den türkischen Präsidenten Recep Erdoğan bis zum französischen Staatschef Emmanuel Macron. Im Westen gilt der kasachische Präsident Qassym-Schomart Toqajew als Reformer, im Kreml als zuverlässiger Verbündeter. Erst Anfang März 2024 bekräftigten Moskau und Astana ihr Engagement für eine umfassende Stärkung der strategischen Partnerschaft zwischen den beiden Ländern. Könnte Astanas Fähigkeit, inmitten enormer geopolitischer Spannungen geschickt zu balancieren, eventuell in eine Vermittlerrolle münden?
Welche Folgen ein Konflikt mit Russland für die Anrainerstaaten haben kann, zeigt die Ukraine eindringlich. Im Gegensatz zu anderen Ländern der Region hat Kasachstan eine gemeinsame Grenze mit der Russischen Föderation – mit 7 644 Kilometern die längste durchgehende Landgrenze der Welt. Durch seine Mitgliedschaft in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ist Kasachstan ein militärischer Verbündeter Moskaus, 90 Prozent aller Waffenimporte stammen aus Russland. Darüber hinaus mietet Russland in Kasachstan nicht nur den Weltraumbahnhof Kosmodrom Baikonur, sondern auch drei militärische Übungsplätze, auf denen rund 900 russische Soldaten stationiert sind. Zudem verbinden die beiden Länder enge Wirtschafts- und Handelsbeziehungen: Beide sind Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU); Russland ist einer der fünf Hauptinvestoren in Kasachstan; der größte Teil der kasachischen Einfuhren (27 Prozent) stammt aus dem Nachbarland; und schließlich werden etwa 80 Prozent des kasachischen Öls über die durch Russland verlaufende Pipeline ins Ausland exportiert.
Die von Kasachstan eingenommene Position zum Krieg in der Ukraine erscheint überraschend eigenständig.
Angesichts solcher fest etablierten Beziehungen mit Moskau in strategisch wichtigen Bereichen erscheint die von Kasachstan eingenommene Position zum Krieg in der Ukraine überraschend eigenständig. Von Anfang an hat Astana wiederholt auf die Notwendigkeit einer diplomatischen Lösung des Konflikts hingewiesen und bekräftigt, dass die territoriale Integrität der Ukraine gewahrt werden müsse. Seit Februar 2022 hat der kasachische Präsident dreimal mit seinem ukrainischen Amtskollegen Volodymyr Selenskyj telefoniert. Auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg im Juni 2022 bezeichnete er – in Anwesenheit von Wladimir Putin – die sogenannten „Volksrepubliken“ Luhansk (LNR) und Donezk (DNR) als „quasi-staatliche Gebiete“ und betonte, dass Kasachstan solche Gebilde nie anerkannt hat und auch nie anerkennen werde. Während seines offiziellen Besuchs in Deutschland im September 2023 äußerte Toqajew die Absicht Kasachstans, die gegen Russland verhängten westlichen Sanktionen einzuhalten, wobei er später klarstellen musste, dass sein Land schlicht und einfach keine Waren habe, die von Sanktionen betroffen wären.
Diese Haltung Astanas ist nicht nur das Ergebnis der seit 30 Jahren praktizierten Multivektor-Außenpolitik, die auf Pragmatismus beruht und darauf abzielt, „Freunde zu gewinnen, statt Feinde zu finden“. Zwei weitere Faktoren beeinflussen diese Position ebenfalls. Erstens ist Kasachstan ein multinationaler Staat; seit dem 19. Jahrhundert gibt es eine ukrainischen Diaspora, die heute die viertgrößte im Land ist – nach der russischen, usbekischen und uigurischen. Folglich besteht die vorrangige Aufgabe der kasachischen Führung in der Wahrung des interethnischen Friedens und der sozialen Stabilität. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat das multinationale Land keine Bürgerkriege und keine ethnisch gefärbten Konflikte erlebt. Dies erklärt die relativ harte Reaktion der kasachischen Behörden auf radikale öffentliche Äußerungen über den Krieg in der Ukraine. Im Oktober 2022 forderte Astana Kiew auf, den ukrainischen Botschafter in Kasachstan, Petro Wrublewski, zu ersetzen, der zuvor in einem Interview gesagt hatte, dass die nächste Generation von Ukrainern umso weniger Russen töten müsse, je mehr von ihnen jetzt getötet würden. Und im Januar 2023 wurde der Abgeordnete Azamat Abildayev aus der kasachischen Partei Ak Zhol ausgeschlossen, nachdem er in einem lokalen Radiointerview seine Unterstützung für Russland geäußert hatte.
Aussagen einiger russischer Politiker sorgen seit Jahren für Irritationen in Kasachstan.
Zweitens sorgen die Aussagen einiger russischer Politiker seit Jahren für Irritationen in Kasachstan. Eine Welle der Empörung löste beispielsweise 2020 die Anmerkung des Duma-Abgeordneten Wjatscheslaw Nikonow aus, Kasachstans heutiges Territorium sei „ein großes Geschenk Russlands und der Sowjetunion“. Das kasachische Außenministerium wies darauf hin, dass solche provokanten Angriffe russischer Politiker die bilateralen Beziehungen beeinträchtigten. Wie befremdlich die Äußerungen mancher russischen Politiker auch sein mögen, aufgrund der geografischen Nähe, der historischen und wirtschaftlichen Verflechtungen sowie der Sicherheitserwägungen beteuert Kasachstans Führung die besondere außenpolitische Stellung Russlands: etwa mit der Initiative, eine internationale Organisation für die russische Sprache zu gründen, oder der Betonung der Freundschaft mit Russland, die „absolut dauerhaft und ewig sein sollte“.
Und obwohl Kasachstan eine vergleichsweise eigenständige Position vertritt, hebt es die Notwendigkeit einer diplomatischen Lösung hervor. Laut dem stellvertretenden Außenminister Roman Vasilenko ist der Krieg in der Ukraine für Kasachstan ein sehr naher und tragischer Konflikt, denn unter den 20 Millionen Kasachen sind 3,5 Millionen Russen und 250 000 ethnische Ukrainer. Daher tut Kasachstan sein Möglichstes, um das Blutvergießen zu beenden und zur Lösung des Konflikts beizutragen. Bereits der ehemalige kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew, der in der Ukraine studiert und gelebt hat, wollte zur Normalisierung der russisch-ukrainischen Beziehungen beitragen. Im Jahr 2019 schlug er vor, ein Treffen zwischen dem russischen und dem ukrainischen Präsidenten in Kasachstan zu organisieren. Moskau entgegnete damals, es bevorzuge Gespräche im Normandie-Format. Da dieses Format heute nicht mehr existiert, wäre es doch eine Überlegung wert, Kasachstans Kompetenzen bei der Vermittlung in internationalen Konfliktsituationen stärker einzubeziehen.
Beispielsweise moderierte Kasachstan im Jahr 2013 in der Stadt Almaty zweimal die Gespräche über das iranische Atomprogramm: Im Februar 2013 fand die erste Gesprächsrunde statt, an der fünf ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sowie Deutschland, weitere EU-Länder und Vertreter der Islamischen Republik Iran teilnahmen. Die zweite Runde fand im April desselben Jahres zwischen Vertretern der E3+3 (Großbritannien, Deutschland, Frankreich, China, Russland, USA) und dem Iran statt. Vier Jahre später bot die Hauptstadt Astana zum ersten Mal eine Plattform für inzwischen über 20 Gesprächsrunden zur Beilegung des syrischen Konflikts unter Beteiligung der syrischen Regierung und der Opposition sowie Russlands, der Türkei und des Iran. Im Januar 2024 fand in der kasachischen Hauptstadt die 21. Runde statt. Dass der Austausch seit Jahren aufrechterhalten wird, zeugt davon, dass er seinen Zweck erfüllt. Das Format ermöglichte es, mittels Diplomatie und Dialog eine Basis unter allen Konfliktparteien zu finden, um nach Lösungen zu suchen. Auch konkrete Maßnahmen wie die Schaffung von Deeskalationszonen, die Einstellung der Kämpfe und die Verbesserung der humanitären Lage wurden in diesem Format erörtert.
Die internationale Erfahrung Toqajews stellt eine günstige Voraussetzung für eine konstruktive Rolle Kasachstans bei der Suche nach einem Ausweg aus dem Krieg in der Ukraine dar.
Kasachstan ist auch ein aktives Mitglied der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), was es auch in den Augen der europäischen Länder glaubwürdig macht. 2010 hatte Kasachstan den Vorsitz inne und richtete ein OSZE-Gipfeltreffen aus – das erste in elf Jahren. Die im Rahmen des Treffens unterzeichnete „Erklärung von Astana“ ist das erste und bisher einzige Konsensdokument der OSZE, das von den Staats- und Regierungschefs in diesem Jahrhundert verabschiedet wurde. In diesem Kontext spricht für Kasachstans mögliche Mediatorenrolle auch seine bereits frühere Involvierung in die Bemühungen um eine friedliche Lösung des Konflikts in der Ukraine: Seit 2014 war es an der OSZE-Sonderbeobachtungsmission beteiligt: sowohl personell (mit eigenen Beobachtern) als auch finanziell (mit einem freiwilligen Beitrag von 40 000 US-Dollar). Zudem stellt die internationale Erfahrung des heutigen Präsidenten Toqajew – als Berufsdiplomat, ehemaliger stellvertretender UN-Generalsekretär, Generaldirektor des UN-Büros in Genf sowie Generalsekretär der UN-Abrüstungskonferenz – eine günstige Voraussetzung für eine konstruktive Rolle Kasachstans bei der Suche nach einem Ausweg aus dem Krieg in der Ukraine dar.
Eine friedenstiftende Rolle im Ukraine-Krieg würde auch ein Großteil der Bevölkerung Kasachstans unterstützen – bei der bisher letzten Umfrage im Mai 2023 bezeichneten 60 Prozent der Befragten ihre Position in diesem Konflikt als „neutral“. Seit Beginn des Krieges sprachen sich zudem die meisten befragten Personen dafür aus, dass Kasachstan sich an die Neutralität halten oder als Vermittler auftreten sollte. Schließlich besteht das Hauptinteresse Astanas, der politischen und wirtschaftlichen Eliten Kasachstans sowie seiner Bevölkerung darin, die politische und soziale Stabilität zu erhalten und die nationale Sicherheit zu gewährleisten. Damit dies gelingt, muss eine weitere Eskalation verhindert und der Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich beendet werden. Kasachstans historische, politische und kulturelle Nähe sowohl zu Russland als auch zur Ukraine, sein genuines Interesse an nationaler und regionaler Stabilität sowie seine bereits vorhandene Erfahrung bei der Lösung internationaler Konflikte machen das Land zu einem potenziellen Akteur bei möglichen Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine. Seine Bereitschaft dazu hat Kasachstan bereits mehrmals bekundet.