Den Einwohnern von Bischkek bot sich in den vergangenen Wochen ein ungewöhnlicher Anblick: In den Straßen der kirgisischen Hauptstadt wimmelt es von Zehntausenden gebildeter Männer mit europäischen Gesichtszügen: Russische Staatsbürger, die vor Präsident Wladimir Putins „Teilmobilisierung“ von 300 000 Reservisten für seinen Krieg gegen die Ukraine fliehen. Das kirgisische Volk und die Regierung haben sie mit offenen Armen empfangen.
Viele andere eurasische Städte wie Tiflis (Georgien), Baku (Aserbaidschan), Eriwan (Armenien) und Almaty (Kasachstan) verzeichnen ebenfalls einen Zustrom russischer Wehrdienstverweigerer. Russische Bürgerinnen und Bürger siedeln zwar seit dem Einmarsch in die Ukraine im Februar nach Osteuropa und Westasien um, doch die erste groß angelegte Mobilisierungsmaßnahme des Kremls seit dem Zweiten Weltkrieg hat aus einem steten Rinnsal einen Strom werden lassen. Der Grund dafür ist einfach: Keine dieser ehemaligen Sowjetrepubliken – in Russland werden sie oft als „nahes Ausland“ bezeichnet – verlangt ein Einreisevisum für russische Bürger. Diese Länder, die von Russen lange Zeit als Reservoirs für billige Arbeitskräfte abgetan wurden, sehen nun in der Abwanderung von Fachkräften aus Russland eine Chance, die qualifizierten Arbeitskräfte zu gewinnen, die sie dringend benötigen.
Unmittelbar nachdem Putin die Mobilisierung angekündigt hatte, bildeten sich Warteschlangen an den Kontrollpunkten entlang aller Grenzen Russlands zu den ehemaligen Sowjetrepubliken. Am Grenzübergang „Oberer Lars“ an der russisch-georgischen Grenze reihten sich so viele Autos aneinander, dass man bis zu vier Tage auf den Übertritt warten musste.
In den drei Wochen, seit Putin mit der Einberufung begonnen hat, haben Berichten zufolge 700 000 Menschen Russland verlassen. Anfang dieses Monats meldete Kasachstan, dass seit dem 21. September 200 000 russische Bürger eingereist sind. Georgien meldete, dass die Zahl der in das Land eingereisten Russen im gleichen Zeitraum um 40 bis 45 Prozent auf 53 000 gestiegen ist. Und die Agentur für die Grenz- und Küstenwache der Europäischen Union, Frontex, meldete, dass in der letzten Septemberwoche 66 000 Russen in die EU eingereist sind, was einem Anstieg von 30 Prozent gegenüber der Vorwoche entspricht.
Es überrascht nicht, dass die russischen Auswanderer bereits dabei sind, ihre Gastländer zu verändern.
Bislang hat das russische Verteidigungsministerium von den Regierungen Georgiens, Kasachstans und anderer Länder nicht verlangt, die russischen Deserteure und Wehrdienstverweigerer auszuliefern, die ihre Grenzen überschritten haben. Es ist allerdings fraglich, ob diese nachsichtige Politik von Dauer sein wird, wenn das russische Militär weiter unter akutem Personalmangel leidet.
Unterdessen nutzen russische Auswanderer in Zentralasien und solche, die eine Auswanderung planen, Telegram-Kanäle als Hauptinformationsquelle. Zu den beliebtesten Kanälen gehören „Umzug nach Kasachstan“ (34 000 Abonnenten), „Umzug nach Usbekistan“ (26 000 Abonnenten) und „Willkommen in Kirgisistan“ (22 000 Abonnenten). Die russische Journalistin Maria Maksimycheva, die in diesem Frühjahr von St. Petersburg nach Taschkent gezogen ist und einen Telegram-Kanal über das Leben in Usbekistan betreibt, beschrieb die Vorteile eines Umzugs nach Zentralasien: „Großartige Gemeinschaftsunterstützung für Neuankömmlinge, eine sich schnell entwickelnde Wirtschaft, ein warmes Klima, ein angenehmes Leben.“
Es überrascht nicht, dass die russischen Auswanderer bereits dabei sind, ihre Gastländer zu verändern. Da Hotels und Herbergen bereits überfüllt sind, schießen die Mieten in die Höhe. Einige Mieter wurden zugunsten von besser zahlenden Russen zwangsweise aus ihren Wohnungen ausquartiert.
Nichtsdestotrotz heißen verständnisvolle Einheimische in den ehemaligen Sowjetländern die Neuankömmlinge willkommen. Die zentralasiatischen Regierungen haben ihrerseits schnell erkannt, dass die Aufnahme hochqualifizierter russischer Fachkräfte, insbesondere der vielgepriesenen russischen Tech-Elite, ihre Wirtschaft ankurbeln und ihre Bildungssysteme verbessern könnte.
Viele der Menschen, die in diesen Tagen aus Russland fliehen, gehören zur intellektuellen Elite des Landes.
So ist etwa Kasachstan nach Kräften bemüht, russische Auswanderer anzuziehen. Das Land bietet Ausländern, die im Industriepark Astana Hub arbeiten, ein Fünfjahresvisum und befreit sie von fast allen Steuern. Außerdem gewährt es Existenzgründern Zuschüsse für die Entwicklung von Unternehmen von bis zu 50 000 Dollar und zwölf Monate kostenlose Büromiete. Auch Usbekistan stellt jetzt Dreijahresvisa aus, mit denen Tech-Fachkräfte Zugang zu allen sozialen Diensten und das Recht auf Beantragung einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung erhalten.
Kirgisistan bewirbt sich ebenfalls um Neuzugänge und gewährt russischen Exilanten den Status „digitaler Nomaden“, der es ihnen ermöglicht, ohne Genehmigung zu arbeiten, sofort eine persönliche Identifikationsnummer zu erhalten und vereinfachte Dienstleistungen des Justizministeriums und der Steuerbehörden in Anspruch zu nehmen. Laut Wirtschafts- und Handelsminister Daniyar Amangeldiev besteht das Ziel darin, „günstige Bedingungen für die Umsiedlung solcher Personen in die Kirgisische Republik zu schaffen“.
Die Migrationswelle dürfte zugegebenermaßen nur vorübergehend sein. Viele russische Emigranten, insbesondere diejenigen, die ihre Arbeit aufgegeben und im Ausland keine neuen Einkommensquellen gefunden haben, werden höchstwahrscheinlich nach Russland zurückkehren, wenn sie sich dort sicher fühlen. Aber diejenigen, die arbeiten können, Geld verdienen und sich im Exil wohlfühlen, werden es nicht eilig haben zurückzukehren. Und natürlich gibt es auch Menschen, die nicht in einem isolierten Land wie dem heutigen Russland leben wollen. Einige haben bereits Häuser in Bischkek gekauft, andere haben die kirgisische Staatsbürgerschaft beantragt.
Viele der Menschen, die in diesen Tagen aus Russland fliehen, gehören zur intellektuellen Elite des Landes. Wenn der Ukraine-Krieg zu einer dauerhaften Abwanderung von Fachkräften führt, wird die russische Wirtschaft noch mehr leiden als ohnehin schon. Die besten Köpfe des Landes werden weiterhin eine neue Heimat im Ausland suchen, und ihre ehemaligen sowjetischen Landsleute werden ihnen nur zu gerne dabei helfen.
© Project Syndicate
Aus dem Englischen von Sandra Pontow