Am 16. Dezember 2022 unternahm Japan einen wichtigen Schritt auf dem Weg hin zu einer „normalen“ Weltmacht: Das Land beschloss dramatische Änderungen seiner jahrzehntelangen Politik der militärischen Zurückhaltung. Im Rahmen seiner neuen nationalen Sicherheitsstrategie wird Japan nicht nur seine Militärausgaben verdoppeln und seinen Verteidigungshaushalt in den nächsten fünf Jahren um etwa 315 MilliardenUS-Dollar aufstocken. Es wird darüber hinaus eine neue Fähigkeit zum „Gegenschlag“ entwickeln, die es dem Land ermöglicht, Vergeltungsangriffe auf feindlichem Territorium durchzuführen – eine bemerkenswerte Abkehr von seiner bisherigen Politik.

Diese Schritte stehen für einen tiefgreifenden Wandel. Seit Jahren stellen Beobachter der internationalen Beziehungen fest, dass Japan zweifellos über das demografische, wirtschaftliche und technologische Potenzial verfügt, eine Großmacht zu sein: Das Land spielt eine bedeutende Rolle in der Global Governance, der Entwicklungspolitik und vielen anderen Bereichen der internationalen Politik. Doch im militärischen Bereich hat Tokio seine Aktivitäten traditionell auf die multilaterale Friedenssicherung und das Bündnis mit den USA beschränkt. Seine Verteidigungsausgaben betrugen bisher nur ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Diese militärische Zurückhaltung gehört seit dem Zweiten Weltkrieg zum Kern der japanischen Sicherheitspolitik. Während des Kalten Krieges hielten die verschiedenen japanischen Regierungen den Einfluss des Militärs auf die (Außen-)Politik in Schach. Die Vereinigten Staaten drängten Tokio häufig, mehr Geld in die Hand zu nehmen und aktiver zu werden, und auch einige japanische Konservative in der dominierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) sprachen sich für eine Aufstockung der Verteidigungskapazitäten aus.

Diese Forderungen standen jedoch im Widerspruch zu Japans Nachkriegskonzept der „defensiven Verteidigung“, dem zufolge das Militär auf Selbstverteidigung ausgelegt sein und auf offensive Fähigkeiten und Missionen verzichten sollte. Diese Doktrin ist auch in der Verfassung und in anderen Gesetzen verankert und wird von wachsamen Oppositionsparteien und der japanischen Öffentlichkeit verteidigt. Japans sehr zurückhaltende Sicherheitspolitik hat mehrere Tabus und rote Linien für seine Machtprojektion geschaffen, etwa das Verbot von Langstreckenraketen, amphibischen Fähigkeiten und Flugzeugträgern.

Im Großen und Ganzen jedoch ist die Verteidigungspolitik des Landes unverändert geblieben.

Im Laufe der Jahre und in Zeiten zunehmender Bedrohung hat Tokio seine Vorstellungen über defensive und offensive Rollen sowie die eigenen Fähigkeiten gelegentlich revidiert. Nachdem Nordkorea beispielsweise im Jahr 1998 eine Testrakete über Japan abgefeuert hatte, beschloss Tokio, Militärsatelliten anzuschaffen, was es zuvor noch als unrechtmäßige Militarisierung des Weltraums betrachtet hatte. Heute verfügt Japan über kleine Flugzeugträger und ein Marinekorps. Im Großen und Ganzen jedoch ist die Verteidigungspolitik des Landes unverändert geblieben. Umso mehr stellt die neue nationale Sicherheitsstrategie eine verblüffende Veränderung dar. Mit der Verdoppelung der Verteidigungsausgaben und der Verpflichtung, eine Fähigkeit zum „Gegenschlag“ zu entwickeln, setzt die Regierung Maßnahmen in die Tat um, die seit Jahrzehnten diskutiert, aber immer blockiert worden waren. Bis jetzt.

Als Reaktion auf die Ankündigung werden Kritiker in Peking und anderswo Japan vorwerfen, dass es zum Militarismus seiner dunklen Vergangenheit zurückkehrt. Das ist falsch. Japan ist ein verantwortungsbewusster globaler Staat: weltweit führend in den Bereichen Governance, Entwicklung, Technologie, Kunst und Kultur. Auch mit den angekündigten Änderungen wird seine Sicherheitspolitik weiterhin in der amerikanisch-japanischen Allianz verankert sein. Japan ist weit davon entfernt, in den Militarismus einzusteigen, sondern reagiert – nach langem Zögern – auf die wachsenden regionalen Bedrohungen. Aus der Sicht der Vereinigten Staaten und ihrer Partner ist Japans neue nationale Sicherheitsstrategie zu begrüßen: Ein friedliches Land mit enormen wirtschaftlichen und technologischen Ressourcen vergrößert seinen Beitrag zur regionalen Sicherheit.

Für Japans historischen Wandel sind gewaltige neue Herausforderungen in Asien verantwortlich. China rüstet sowohl mit konventionellen als auch mit nuklearen Waffen in großem Umfang auf. Chinesische Flugzeuge und Militärschiffe dringen häufig in japanische Gewässer ein, etwa in der Nähe der zwischen beiden Ländern umstrittenen Inseln. Peking bedroht zunehmend Taiwan, dessen Demokratie Japan feiert und dessen Autonomie das Land als entscheidend für seine eigene Sicherheit betrachtet. Während Chinas militärische Bedrohungen zunehmen, schürt seine Regierung den antijapanischen Nationalismus und betont die japanischen Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg.

Auch Nordkorea hat an Bedrohlichkeit gewonnen. Pjöngjang hat das Tempo seiner Raketentests erhöht: 2022 wurden 86 Tests durchgeführt, verglichen mit einem bisherigen Höchststand von 26 im Jahr 2019. Die japanischen Bürgerinnen und Bürger haben sich an schrille Sirenen und Durchsagen gewöhnt, die sie auffordern, sich in Sicherheit zu bringen, wenn nordkoreanische Raketen durch ihren Luftraum fliegen. Seit 2006 hat Pjöngjang sechs Atomtests durchgeführt, Expertinnen und Experten warnen bereits vor einem siebten. Ausgehend von einem Arsenal, das früher nur eine Handvoll kleiner Spaltbomben enthielt, macht Nordkorea echte Fortschritte bei der Entwicklung weitaus leistungsfähigerer thermonuklearer Waffen und hat vor kurzem seine Nukleardoktrin geändert, um Präventivschläge und den Einsatz taktischer Atomwaffen auf dem Schlachtfeld zu ermöglichen.

Auch Nordkorea hat an Bedrohlichkeit gewonnen.

Der Krieg in der Ukraine hat auch die Wahrnehmung der Japaner verändert. Die Öffentlichkeit unterstützt die Sanktionen gegen Russland nachdrücklich und die erfolgreiche Verteidigung der Ukraine gegen die Invasion hat die Notwendigkeit der eigenen militärischen Bereitschaft gegen eine mögliche Aggression verdeutlicht. Diese wachsenden Bedrohungen haben die japanische Regierung dazu veranlasst, historische Veränderungen in ihrer Sicherheitspolitik vorzunehmen. Erstens wird mit der neuen nationalen Sicherheitsstrategie der Verteidigungshaushalt in den nächsten fünf Jahren in etwa verdoppelt. Derzeit gibt Japan 54 Milliarden Dollar für die Verteidigung aus. Durch die Umstellung wird sich dieser Betrag bis 2027 auf fast 80 Milliarden Dollar erhöhen. Dies ist eine beeindruckende Veränderung.

Seit 1958 hatte Tokio seinen Militärhaushalt auf etwa ein Prozent des BIP beschränkt. Diese Obergrenze wurde sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes zu einem Symbol für die Zurückhaltung im Bereich der nationalen Sicherheit. Obwohl diese Obergrenze im Laufe der Jahre von vielen konservativen Meinungsführern auf die Probe gestellt wurde, haben die öffentliche Meinung und die Bemühungen der Opposition dafür gesorgt, dass sie beibehalten wurde. Doch in der heutigen bedrohlicheren Umgebung unterstützt die japanische Öffentlichkeit eine Ausgabenerhöhung. Die geplante Erhöhung würde Japan (das bei den Militärausgaben derzeit weltweit an neunter Stelle steht) den drittgrößten Verteidigungshaushalt der Welt bescheren, hinter den Vereinigten Staaten und China. Es würde Indien, Saudi-Arabien und die europäischen Großmächte überholen – wobei Deutschland ebenfalls eine beträchtliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben angekündigt hat, weshalb es ebenfalls auf dieser Liste nach oben rücken dürfte.

Zweitens veranlassen die wachsenden Raketenfähigkeiten Chinas und Nordkoreas Tokio dazu, sich nicht mehr nur auf die Raketenabwehr zu verlassen, sondern auch Fähigkeiten zum Gegenschlag zu entwickeln. Im Falle eines Krieges in Korea oder Taiwan wäre auch ein Angriff japanischer Stützpunkte wahrscheinlich, um wichtige, von den US-Streitkräften genutzte, Flugplätze auszuschalten. Angesichts des Aufbaus von Raketenfähigkeiten sowohl in China als auch in Nordkorea befürchten Premierminister Fumio Kishida und andere japanische Politiker, dass Japans bestehende Raketenabwehr nicht mehr ausreicht. Daher wendet sich die Regierung dem Gegenschlagskonzept zu.

Eine Fähigkeit zum Gegenschlag würde Japan in die Lage versetzen, im Falle eines feindlichen Raketentreffers Vergeltungsmaßnahmen gegen Raketenabschussanlagen und Kommando- und Kontrollzentren zu ergreifen, um weitere Angriffe zu vereiteln. Kishida hat die Vereinigten Staaten gebeten, Japan 500 Tomahawk-Raketen zu verkaufen. Mit ihnen könnte Japan Ziele in ganz Nordkorea und in nahe gelegenen Teilen Chinas erreichen. Washington hat dem Verkauf zugestimmt, US-Präsident Joe Biden nannte Tokio einen „Käufer mit hoher Priorität“. Japans Bodenkräfte zur Selbstverteidigung arbeiten zudem an der Reichweite ihrer Boden-Schiffs-Raketen vom Typ 12. Die aktualisierten Versionen sollen 2026 einsatzbereit sein.

Die Motivation hinter den aktuellen Änderungen ist Schutz, nicht militärischer Ehrgeiz.

Die japanische Führung debattiert schon seit Jahrzehnten über solche Funktionen. Im Jahr 1956 argumentierte der Premierminister Hatoyama Ichiro von der LDP, dass Gegenschläge defensiv und daher legal seien. „Ich glaube nicht, dass die Verfassung besagt, dass wir einfach nur dasitzen und auf den Tod warten sollen“, erklärte er. Doch die Opposition im Lande war stärker als sein Drang nach Veränderung. Heute ist die Region jedoch eine andere – und die japanische Politik ebenso. Sogar der Koalitionspartner der LDP, die Komeito-Partei, die sich als pazifistisch bezeichnet, unterstützt angesichts der wachsenden regionalen Bedrohung die Fähigkeit zum „Gegenschlag“, obwohl ihre Abgeordneten eine Reihe von Einschränkungen hinsichtlich der Ziele und der Bedingungen für einen Gegenschlag fordern.

Diese historischen Schritte erfolgen inmitten einer verstärkten japanischen Zusammenarbeit mit regionalen Partnern. Die bilateralen Beziehungen zu Südkorea sind seit langem angespannt, insbesondere seit einem Streit über ein Urteil des Obersten Gerichtshofs Südkoreas aus dem Jahr 2018, in dem es um Japans Einsatz von Zwangsarbeitern in der Zeit des Zweiten Weltkrieges geht. Dennoch haben die japanische und die südkoreanische Führung als Reaktion auf die zunehmenden nordkoreanischen Raketentests ihr Interesse an der Fortführung eines Abkommens über den Austausch von Geheimdienstinformationen bekundet.

Die beiden Länder haben auch ihre bilateralen Raketenabwehrübungen mit den Vereinigten Staaten verstärkt. Tokio und Seoul befinden sich noch immer in einem Territorialstreit, der die Reaktion Seouls auf die historische Ankündigung Japans geprägt hat. Obwohl sich die beiden Länder noch immer nicht darüber einig sind, ob sie das Gewässer, das beide Länder verbindet, als Japanisches Meer oder als Ostmeer bezeichnen sollen, entsendeten sie ihre Flotten im Oktober 2022 dorthin, um gemeinsam mit den Vereinigten Staaten trilaterale Raketenabwehrübungen durchzuführen.

Tokios Bekenntnis zur Gegenschlagsfähigkeit und die Verdoppelung seines Verteidigungsbudgets in Verbindung mit der erneuerten Sicherheitskooperation mit Südkorea sind bemerkenswerte Entwicklungen. Unvermeidlich werden China und andere Kritiker Japan vorwerfen, die Region zu destabilisieren. Doch Tokio verfolgt seit 75 Jahren eine der zurückhaltendsten Verteidigungspolitiken der Welt, die selbst Kanada aggressiv aussehen lässt.

Die Motivation hinter den aktuellen Änderungen ist Schutz, nicht militärischer Ehrgeiz. Sie werden in aller Transparenz zwischen den Koalitionspartnern und vor einer wachsamen und friedliebenden Öffentlichkeit ausgehandelt. Zumindest aus der Sicht der Vereinigten Staaten und ihrer Partner sind Japans Schritte eine gute Nachricht. Sie signalisieren einen größeren Beitrag eines friedlichen Landes zur Sicherheit in Asien.

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Aus dem Englischen von Lucie Kretschmer