Jedes Jahr im September versammeln sich Staatsoberhäupter und Delegierte aus aller Welt am Sitz der Vereinten Nationen in New York, um die drängendsten Fragen unserer Zeit zu beraten. Mit besonderem Interesse werden in der Regel die Auftritte und Reden der Staats- und Regierungschefs vor der UN-Generalversammlung verfolgt. Dieses Jahr sorgt ein Treffen auf höchstem Niveau am Rande der Generaldebatte für besondere Aufmerksamkeit. Zum ersten Mal traf sich ein US-Präsident mit den Staatsoberhäuptern aller fünf zentralasiatischer Länder: Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan – laut Joe Biden ein „historischer Moment“. Zwar existiert das Dialogformat C5+1 zwischen den USA und Zentralasien seit 2015, bis jetzt fanden die Treffen aber auf der Ebene der Außenminister statt. Das Gipfeltreffen in New York kann durchaus als ein Zeichen der Aufwertung der Region in der US-amerikanischen Außenpolitik gedeutet werden.
Zu den von Biden genannten Prioritäten gehören unter anderem die Kooperation mit zentralasiatischen Staaten bei der Terrorismusbekämpfung, einschließlich Finanzierung. Zudem will Washington seine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Region ausbauen, sowohl über die Erschließung von Bodenschätzen und erneuerbaren Energien als auch durch die Etablierung eines C5+1-Dialogs über kritische Mineralien, um Energiesicherheit und Lieferketten langfristig zu gewährleisten. China ist gegenwärtig die wichtigste Importquelle für 26 der 50 von der US-Regierung als kritisch eingestuften Mineralien, wie Lithium, Kobalt und Nickel, während das Uran vorwiegend aus Russland kommt. Offensichtlich suchen die USA nach Wegen, ihre Abhängigkeit von China und Russland bei der Lieferung von kritischen Rohstoffen zu verringern und sehen in Zentralasien eine Alternative.
Seit der russischen Invasion in der Ukraine genießen alle fünf Länder der Region internationale Aufmerksamkeit.
Das auffällig große Interesse an den zentralasiatischen Ländern ist allerdings eine Entwicklung, die nicht nur in der US-Administration anzutreffen ist. Seit der russischen Invasion in der Ukraine genießen alle fünf Länder der Region, wenngleich nicht immer im gleichen Maße, internationale Aufmerksamkeit, hinter der geopolitische Motive zu erkennen sind. Mehrere regionale und extraregionale Akteure agieren seit Anfang 2022 verstärkt in dieser Region, nicht zuletzt in Form von diversen C5+1-Gipfeltreffen.
Am 18. und 19. Mai dieses Jahres fand der erste C5+1-Gipfel zwischen China und den fünf Staaten Zentralasiens in Xi’an statt, der international große Beachtung fand. China stellte einen Grand Development Plan vor, der China mit einem Netz von Handelskorridoren alternative Routen für den Transport von Rohstoffen, Lebensmitteln und anderen Gütern bieten soll. Peking erklärte sich auch bereit, sich für die regionale Sicherheit zu engagieren und die Bemühungen Zentralasiens zur Bekämpfung des Terrorismus zu unterstützen. Im Rahmen der chinesischen Neuen Seidenstraßeninitiative, die 2013 in Kasachstan verkündet wurde, vereinbarten die Parteien unter anderem, den Bau der Eisenbahnstrecke China-Kirgisistan-Usbekistan abzuschließen und mit dem Bau der Autobahn China-Tadschikistan-Usbekistan zu beginnen. In der gegenwärtigen Situation sieht China die Möglichkeit, Russland in der Region wirtschaftlich auszubalancieren, versucht aber gleichzeitig, aufgrund der Fokussierung Moskaus auf den Krieg in der Ukraine, teilweise die Rolle eines sicherheitspolitischen Garanten zu übernehmen, die bis dato hauptsächlich Russland vorbehalten war.
Indien war China diplomatisch zuvorgekommen und hatte schon im Januar 2022 ein virtuelles C5+1-Treffen initiiert. In einer gemeinsamen Erklärung beschworen die Teilnehmer die jahrhundertealten zivilisatorischen Traditionen und Handelsverbindungen und vereinbarten unter anderem eine verstärkte Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Infrastruktur, des Gesundheitswesens, der Bildung, der Technologie sowie der Kreditvergabe. Allerdings ist die Interaktion Chinas mit der Region bislang deutlich konkreter und fortgeschrittener.
Auch Russland hat neben bestehenden Formaten – wie der Eurasischen Wirtschaftsunion und der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS), aber auch der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) – bereits 2022 ein neues Dialogformat mit den Ländern Zentralasiens ins Leben gerufen: den Russland-Zentralasien-Gipfel. Die erste Sitzung fand am 14. Oktober 2022 auf Initiative Moskaus in der kasachischen Hauptstadt Astana statt. Die russische Delegation machte deutlich, dass Russland an seiner Präsenz in der Region festhalten will: Für sie seien Europa und die USA auf lange Sicht keine Partner. „Aber in Zentralasien und im Kaukasus hören sie auf uns, und das ist gut so, obwohl wir verstehen, dass in beiden Regionen jetzt ein pragmatischer Ansatz vorherrscht.“
Ein Novum ist die Institutionalisierung der interregionalen Zusammenarbeit zwischen den Ländern des Persischen Golfs und Zentralasien. Diese wurde am 19. Juli 2023 in Saudi-Arabien besiegelt – auf dem ersten Gipfeltreffen zwischen den arabischen Monarchien und Zentralasien. Hier wurde auch die religiöse, islamische Verbundenheit betont. Die Teilnehmer einigten sich auf einen Kooperationsplan 2023–2027, der den politischen und sicherheitspolitischen Dialog sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft und Investitionen umfasst.
Ebenso im Juli fand im kirgisischen Tscholpon-Ata das Gipfeltreffen EU-Zentralasien statt. Besprochen wurden Fragen der Zusammenarbeit auf den Gebieten Wirtschaft, Handel, Technologietransfer und gegenseitige Investitionen sowie digitale Konnektivität. Die Tatsache, dass die EU beabsichtigt, zentralasiatische Länder für der Befolgung der gegen Russland verhängten Sanktionen diplomatisch zu überzeugen, statt sie für die Nichteinhaltung zu sanktionieren, zeigt, welche Bedeutung die EU der Präsenz in dieser Region aktuell beimisst.
Die zentralasiatischen Staaten nutzen die gegenwärtige geopolitische Transformation, um ihre relative Isolation in einen strategischen Vorteil zu verwandeln.
Am 29. September 2023 ist ein weiteres C5+1-Treffen geplant, diesmal treffen die fünf zentralasiatischen Staatschefs in Berlin Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz. Es ist zu erwarten, dass die oben genannten Themen dabei weiterverfolgt werden. Die zentralasiatischen Staaten nutzen die gegenwärtige geopolitische Transformation, um ihre relative Isolation in einen strategischen Vorteil zu verwandeln. Seit Jahrzehnten führen sie eine wohlbalancierte Außenpolitik und konnten ein ausgewogenes Verhältnis zu ihren mächtigen Nachbarn China und Russland sowie mit Europa, den Vereinigten Staaten und der Türkei herstellen. Kasachstan verfolgt eine sogenannte multivektorale Außenpolitik; Usbekistan formuliert seinen außenpolitischen Grundsatz als „ausgewogene Äquidistanz“ zu den bestehenden und neu entstehenden globalen Machtzentren; Turkmenistan hat sich in einer Resolution der UN-Generalversammlung vom 12. Dezember 1995 zur ständigen Neutralität bekannt. Doch erst seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine sind die zentralasiatischen Länder als souveräne Akteure in den Mittelpunkt der internationalen Politik gerückt, weil sie ihren seit längerem verfolgten Äquidistanz-Ansatz in diesem Konflikt geschickt praktiziert haben. Beispielsweise enthielten sich ihre Vertreter bisher bei allen Abstimmungen in der UNO über die Verurteilung der russischen Aggression oder stimmten, wie Turkmenistan, gar nicht ab. Keines der fünf Länder erkannte die Annexionen ukrainischer Gebiete durch Russland an. Auch haben sich die zentralasiatischen Staaten entschieden den russischen Versuchen widersetzt, ihre Bürger für den Kampf in der Ukraine zu rekrutieren. Zugleich gehörten Kasachstan, Usbekistan und Kirgisistan 2022 zu den Ländern, die die meisten Menschen aus Russland aufgenommen haben.
Nach dem Abzug aus Afghanistan und dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine fällt die stabilisierende regionale Rolle zunehmend den zentralasiatischen Staaten selbst zu.
Unabhängig davon, mit wem sich die Staaten Zentralasiens im C5+1-Format treffen, eine Konstante bleibt: Die Vertreter aller fünf Staaten sitzen an einem Tisch und treten als Gruppe auf – eine Entwicklung, die erst seit kurzem zu beobachten ist und stark mit Russlands Krieg gegen die Ukraine, aber auch mit dem Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan zusammenhängt. Nach dem Abzug aus Afghanistan und dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine fällt die stabilisierende regionale Rolle zunehmend den zentralasiatischen Staaten selbst zu. War die Region in der Vergangenheit ein Brückenkopf für westliche Operationen in Afghanistan und konnte auf Russland als Sicherheitsgaranten zählen, muss sie sicherheitspolitische Herausforderungen nun in hohem Maße selbst stemmen. Aus diesem Grund schlug der kasachische Präsident Qassym-Schomart Toqajew im Juli 2022 die Errichtung eines Mechanismus für regelmäßige Konsultationen der Vertreter der jeweiligen Sicherheitsräte vor, um gemeinsame Lösungen für Sicherheitsbedrohungen zu erarbeiten.
Im Kontext des Krieges gegen die Ukraine haben die zentralasiatischen Länder ihre wachsende Autonomie bewiesen, indem sie ihre politischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Kontakte ausbauten, ohne die bestehenden Beziehungen zu Russland in irgendeiner Weise zu kappen. Statt eine ausschließliche Allianz mit großen regionalen oder extraregionalen Akteuren zu suchen, wollen sie die seit Jahrzehnten stockende regionale Integration vorantreiben. Als Ergebnisse des Fünften Konsultationstreffens der zentralasiatischen Staatschefs vom 19. September 2023 wurde die Intensivierung der industriellen Zusammenarbeit und die effiziente Nutzung des Transitpotenzials der Region vereinbart. Auf der Tagesordnung standen weiterhin die regionale Zusammenarbeit im Bereich der Klimapolitik – insbesondere im Rahmen der Arbeit des Internationalen Fonds zur Rettung des Aralsees (IFAS) – sowie eine schrittweise Erhöhung des Anteils der Landeswährungen im regionalen Handel und eine Reduzierung des Handels in US-Dollar. Nichtsdestotrotz sind die geografischen und sozioökonomischen Unterschiede der einzelnen Länder sowie ihre Exponiertheit gegenüber Islamismus und Terrorismus nach wie vor eine besondere Herausforderung.
Umso wichtiger ist die verkündete Absicht der fünf Präsidenten, alle regionalen Fragen ausschließlich mit diplomatischen Mitteln zu lösen und gegenseitige Interessen zu respektieren – eine Erklärung, die darauf hindeutet, dass die Länder ihre Differenzen, sei es bei Grenz- oder Wasserversorgungsfragen, zurückstellen und die Region als Subjekt gegenüber der Außenwelt vertreten wollen. Ein Beleg dafür ist, dass das flächengrößte Land, Kasachstan, und das bevölkerungsreichste, Usbekistan, die lange Zeit um die regionale Vormachtstellung konkurrierten, nun ihre strategische Partnerschaft betonen und im Rahmen internationaler und regionaler Organisationen, wie der UNO und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), eng zusammenarbeiten.
Die Interaktion zwischen den zentralasiatischen Ländern nimmt neue Formen an, mit dem Ziel, Frieden und Sicherheit in der Region und darüber hinaus zu stärken und bei der Gestaltung der globalen Sicherheitsarchitektur auf Augenhöhe mitzuwirken. Bemerkenswert ist in diesem Sinne das Angebot des kasachischen Präsidenten Toqajew vor der UN-Generalversammlung, aktiv den Dialog zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden zu fördern. Die Herausforderung für zentralasiatische Länder besteht darin, sich an globalen politischen Prozessen zu beteiligen, ohne in geopolitische Machtspiele verwickelt zu werden. Gelingt ihnen das, hat die Region das Potenzial, sich als Mittelmacht in der globalen Politik zu etablieren und die internationale Ordnung mitzuprägen.