In den vergangenen Wochen ist in Kiew etwas Unglaubliches passiert. Und damit ist nicht der Besuch des US-Präsidenten Joe Biden in der ukrainischen Hauptstadt gemeint. Diese Reise ist durchaus enorm wichtig, und die damit verbundenen ungewohnten Staus in den Straßen dürften die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer gerne hingenommen haben. Auch wenn Biden als Vizepräsident mehrmals in der Ukraine war, war dies der erste Besuch eines US-Präsidenten im Land seit 2008. Mitten im Krieg und auch noch am Tag der Erinnerung an die Opfer des Massakers auf dem Maidan im Februar 2014 ist dies ein starkes Signal und ein Booster für die Moral.
Unglaublich war aber in den vergangenen Wochen vor allem die ukrainische Widerstandskraft: Die Hauptstadt schafft es, ihre Bürgerinnen und Bürger mit Strom zu versorgen, trotz der anhaltenden russischen Angriffe auf die Infrastruktur. Abgesehen von den Gegenden ganz nahe an der Front und Odessa ist die ukrainische Hauptstadt am meisten von den russischen Angriffen auf die Energieinfrastruktur betroffen, die am 10. Oktober begonnen haben. Auch wenn im Westen darüber kaum noch berichtet wird, haben diese zuletzt alles andere als nachgelassen: In einem Intervall von sieben bis 14 Tagen fliegen im Schnitt zwischen 50 und 60 Raketen auf die Ukraine. Dabei sind die Angriffe mit Kampfdrohnen iranischer Herkunft noch nicht einmal miteingerechnet.
Lange bestand die Annahme, dass sich die Stromlage in der Ukraine, aber gerade hier in Kiew, mindestens bis Ende März nicht grundsätzlich verbessern würde. Dass dieser Alltag unendlich lange anhält, bei dem man im Wechsel drei Stunden mit und drei Stunden ohne Elektrizität verbringt, und bei dem nach erfolgreichen russischen Beschuss Heizung, Strom und Wasser auch mal für drei oder vier Tage ausfallen. Doch dem ist nicht so: vorerst hat sich der Rhythmus der Stromabschaltungen auf sechs Stunden mit und drei Stunden ohne Strom reduziert. Und seit dem 12. Februar gab es bis auf lokale Ausnahmen keine Stromausfälle mehr. Zum ersten Mal seit zwei Monaten fährt der von Strom abhängige ÖPNV, also Trams und Oberleitungsbusse, wieder in Kiew. Es gibt ebenfalls etwas mehr Straßenbeleuchtung, wenn auch nicht viel.
Die Realität zu akzeptieren, ist eine der schwierigsten Aufgaben, die die Ukrainer in den letzten 365 Tagen meistern mussten.
Der riesige Schaden für die Energieinfrastruktur der Ukraine ist jedoch nicht schönzureden. Doch irgendwie schafft es das Land – und auch der früher von vielen Ukrainern unterschätzte ukrainische Staat –, trotz weitergehender Angriffe den Betrieb aufrechtzuerhalten. Und es ist ein wichtiger Lichtblick für die Menschen, die zwar versuchen, ihrem Alltag so weit wie möglich nachzugehen, dennoch seit einem Jahr kaum Gründe zur Freude haben. Ein Lichtblick, der zusätzlich motiviert, weiterzukämpfen, obwohl man ganz genau weiß: Nach bisherigen 15 Raketenangriffen auf die Energieinfrastruktur wird auch der 16. und der 17. folgen. Die Symbolik des Jahrestages der großen Invasion spielt dabei kaum eine Rolle. Klar ist es sehr wahrscheinlich, dass Russland um den 24. Februar einen neuen Massenbeschuss veranstaltet. Im Endeffekt ist es aber egal, ob dieser am 24. oder am 26. Februar stattfindet – er ist sowieso unvermeidbar.
Die Realität zu akzeptieren, ist eine der schwierigsten Aufgaben, die die Ukrainer in den letzten 365 Tagen meistern mussten. Natürlich gab es weitere Aspekte, die Kraft gaben. Vor allem: Die Ukrainer haben ihre Armee nicht so unterschätzt, wie viele im Ausland. Trotzdem hatten nicht alle geglaubt, dass sie ausgerechnet gegen Russland so stark zurückschlagen kann, wie das bei der Gegenoffensive im Bezirk Charkiw oder bei der Befreiung der wichtigen Stadt Cherson der Fall war. Es war aber nicht nur die Armee, die Zuversicht gab. Es war – neben den fantastischen Leistungen einiger Energiebetreiber – auch die unfassbar zuverlässige und nicht unbedingt erwartbare Arbeit der staatlichen Unternehmen wie der ukrainischen Bahn oder der Post. Institutionen wie die Nationale Polizei haben ebenfalls nicht grundlos massiv an Ansehen gewonnen.
Doch neben all diesen positiven Aspekten bleibt die Realität, dass dieser Krieg noch sehr, sehr lange dauern wird. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer mussten sich schmerzhaft von den anfänglichen Illusionen verabschieden, dass es vielleicht doch in ein paar Wochen oder in einigen Monaten vorbei sein könnte. Der russische Präsident Wladimir Putin will zumindest einen Teil seiner Ziele mit der Brechstange erreichen: Mit weiteren Mobilisierungswellen, ob offen, halboffen oder verdeckt, mit faktischer Kriegswirtschaft, mit enormer Militarisierung der eigenen Gesellschaft und komischerweise immer noch ohne den Krieg einen „Krieg“ zu nennen. Das Ende ist überhaupt nicht in Sicht, an jeglichen ernsthaften Verhandlungen ist die russische Seite ganz und gar nicht interessiert.
Schon jetzt kennen alle in der Ukraine jemanden, der in diesem russischen Angriffskrieg gestorben oder ernsthaft verletzt wurde.
Schon jetzt kennen alle in der Ukraine jemanden, der in diesem russischen Angriffskrieg gestorben oder ernsthaft verletzt wurde. Je mehr Menschen Russland an der Front verheizt, seien es Zwangsmobilisierte aus dem Donbass, rekrutierte Häftlinge oder nun auch regulär mobilgemachte Russen, desto mehr muss auch die Ukraine mobilisieren. Vielmehr als 200 000 bis 300 000 Rekruten alle paar Monate mobilzumachen und auszustatten, kann Russland technisch kaum leisten – und hier kann die Ukraine noch sehr lange mithalten. Die theoretischen „Menschenressourcen“ sind in Russland größer, daher heißt es: Je länger dieser Krieg dauert, desto mehr ukrainische Männer werden eingezogen. Der Krieg wird dadurch für jeden Haushalt noch näher kommen, obwohl er schon jetzt unfassbar nah ist. Das wirkt sich auf die mentale Gesundheit aus: Es gibt in der Ukraine kaum einen Erwachsenen, der psychisch keine Probleme hat.
Wie kommt es denn dazu, dass in der Ukraine trotzdem ein absoluter, unumstrittener gesellschaftlicher Konsens hält? Nämlich, dass man unbedingt weiterkämpfen muss, dass Russland auf dem ukrainischen Gebiet so weit zurückgeschlagen werden muss, wie es nur geht, und dass die Ukraine in der Zukunft so stark sein muss, dass ein neuer Angriff gegen das Nachbarland für Russland noch viel unattraktiver erscheint. Der eine Grund ist: Die westliche und insbesondere deutsche Debatte zu Friedensverhandlungen hat sich hierzulande bereits zwischen 2015 und 2021 erledigt. Die Minsker Vereinbarungen, im Februar 2015 unterschrieben, waren für die Ukraine ein sehr schmerzhafter Kompromiss, doch diese wurden bereits drei Tage später durch die Einnahme der Stadt Debalzewe von Russland und prorussischen Separatisten verletzt. In den Jahren danach hat Moskau selbst mit der Massenausgabe der Pässe an die Bewohner von Donezk und Luhansk, aber auch mit kontinuierlicher Integration der sogenannten Volksrepubliken in das politische und wirtschaftliche Leben der Russischen Föderation, die Erfüllung der Vereinbarungen von Minsk für Kiew komplett unmöglich gemacht. Die Ukrainer wissen daher aus bester Eigenerfahrung, was Verhandlungen mit Russland wert sind. Und sie wissen auch, dass eine weitere Vertagung dieses Konflikts grundsätzlich sinnlos ist.
Der noch wichtigere Grund ist aber: Jede und jeder kennt jemanden, der unter Besatzung geriet, ob in Vororten von Kiew wie Butscha und Irpin, in den Bezirken Tschernihiw oder Sumy oder in Cherson. Diese Tragödien sind persönlich. Jeder erlebt seit Oktober die russischen Angriffe gegen die zivile Infrastruktur des Landes. Die Ukrainer sehen, wie Russland mit ungenauen alten Raketen auf Großstädte wie Dnipro oder Krementschuk schießt und dabei Einkaufshäuser oder Wohnblöcke trifft – vielleicht nicht gezielt, aber durchaus bewusst, dass sowas passieren könnte. Die Ukrainerinnen und Ukrainer wissen, wie die „russische Welt“ auf ihrem Gebiet aussehen würde, und lehnen diese entscheidend ab – mit oder ohne Strom. Daran wird sich auch im zweiten Jahr der großen russischen Invasion nichts ändern, wie schwer diese Realität auch zu akzeptieren sein mag.