Seit einigen Wochen ist Belarus nicht mehr wiederzuerkennen. Die Menschen gehen zu Hunderttausenden auf die Straße und protestieren gegen den langjährigen Präsidenten Alexander Lukaschenko. Ihr Unmut richtet sich gegen Lukaschenkos gewaltsames Vorgehen nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im August. Überall in den Städten des ehemaligen Sowjetstaates wird statt der offiziellen Landesflagge die historische weiß-rote Flagge von Belarus geschwungen, die zum Erkennungszeichen der wachsenden Protestbewegung avancierte. Blumen und Luftballons wurden zu Symbolen des friedlichen Widerstands.
Die Bilder aus Belarus sind nur allzu vertraut. Spontane, dezentrale Kundgebungen im ganzen Land, die intensive Nutzung von Social Media – beides ähnelt der Demokratiebewegung in Hongkong. Die Solidaritätsketten, in denen sich Tausende weiß gekleideter Demonstrantinnen und Demonstranten an den Händen halten, erinnern an jene Menschenkette der Unabhängigkeitsbewegung zu Sowjetzeiten, die als „Baltischer Weg“ in die Geschichte einging. Auch dass die Proteste ohne Führungsfiguren auskommen, ist eine Parallele zu anderen Protestbewegungen in Katalonien, Chile, Frankreich, Indien, Irak, dem Libanon, den USA und anderswo.
Das ähnliche Vorgehen der Protestierenden lässt einen weltweiten Trend erkennen: Allerorten übernehmen Graswurzelbewegungen die Aktionspraktiken, die sich in anderen Ländern bewährt haben. Sie schauen sich ihre Strategien, Slogans und digitalen Ressourcen voneinander ab, agieren grenzüberschreitend, inspirieren sich gegenseitig und gewinnen somit nicht zuletzt internationalen Rückhalt. Die Rahmenbedingungen und Forderungen sind unterschiedlich, aber die Protestformen ähneln sich.
Die Proteste in Belarus entstanden aus einer weitverbreiteten regierungsfeindlichen Stimmung heraus. Die Wahl im August, mit der Präsident Lukaschenko seine sechste Amtszeit unter Dach und Fach bringen wollte und die viele im In- und Ausland für manipuliert halten, brachte das Fass zum Überlaufen. Viele jüngere Demonstranten haben noch nie einen Präsidentenwechsel erlebt. Das war allerdings nicht der einzige Grund für die Unruhen. Unmut kam schon vor Monaten durch den falschen Umgang der Regierung mit der Corona-Pandemie auf, von der Lukaschenko irrigerweise behauptete, niemand in Belarus werde daran sterben. Während andere Länder Lockdowns verhängten und Social-Distancing-Maßnahmen verordneten, empfahl Lukaschenko seiner Bevölkerung, sich das Virus mit Wodka, Saunagängen und Traktorfahren vom Leib zu halten. Alle anderen Vorsichtsmaßnahmen tat er als „Massenpsychose“ ab.
Das spontane und reaktionsschnelle Agieren, das die Demonstranten sich aus Hongkong abgeschaut haben, erwies sich gegen die belarusischen Behörden als besonders wirksam, weil die seit Jahrzehnten nur mit traditionellen Demonstrationen zu tun hatten.
Viele belarusische Bürgerinnen und Bürger – Zehntausende infizierten sich mit der Krankheit, mindestens 600 Menschen starben – sehen das ganz anders. „Sie sind der Meinung, der Staat hätte sie schützen müssen“, erklärt Olga Dryndova, Chefredakteurin der von der Universität Bremen herausgegebenen Belarus-Analysen. Dass Lukaschenko andeutete, die Corona-Toten seien selbst schuld, habe viele Menschen auf die Palme gebracht. Die Präsidentschaftswahl bot ihnen die Gelegenheit, ihrem Frust Luft zu machen. Kulminationspunkt war der steile Aufstieg der bis dato eher unbekannten Lukaschenko-Herausforderin Swetlana Tichanowskaja. Lukaschenko erklärte sich schließlich mit 80 Prozent der Stimmen zum Sieger – ein Wahlergebnis, das die Europäische Union als „weder frei noch fair“ bezeichnete.
Die anschließenden Proteste nahmen eine Größenordnung an, die das Land noch nie erlebt hat. Genau das war beabsichtigt. „Die Bewegung hat sich von Anfang an Hongkong zum Vorbild genommen, denn schon vor den Wahlen griffen die Sicherheitskräfte hart durch“, berichtet der belarusische Journalist und Aktivist Franak Viačorka. Schon vor der Wahl am 9. August habe es Berichte über Gewalt und Verhaftungen in Belarus gegeben. „Von den Hongkongern konnte man lernen, wie man sich vor der Polizei versteckt: irgendwo auftauchen, dann verschwinden und irgendwo anders wiederauftauchen.“
Wie in Hongkong wurden auch in Belarus die Demonstrationen (wenn auch weitaus massiver) mit Gewalt beantwortet. Die Bereitschaftspolizei ging mit Blendgranaten, Gummigeschossen und Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor. Tausende wurden verhaftet, darunter auch Journalisten; mindestens zwei Menschen kamen ums Leben. Immer wieder wurde von Folter und Misshandlungen durch die staatlichen Sicherheitskräfte berichtet. Dennoch habe sich, so Viačorka, das spontane und reaktionsschnelle Agieren, das die Demonstranten sich aus Hongkong abgeschaut haben, gegen die belarusischen Behörden als besonders wirksam erwiesen, weil die seit Jahrzehnten nur mit traditionellen Demonstrationen zu tun hatten. „Sobald es mit unkonventionellen Protestformen konfrontiert wird“, etwa einer Menschenkette oder einer Kunstperformance, „ist das System aufgeschmissen“, sagt er.
Entscheidend für den Erfolg der Protestbewegung ist die gekonnte Nutzung der sozialen Medien. Als die traditionellen Social-Media-Plattformen nicht mehr sicher schienen, wechselten die Demonstranten zu Telegram.
Hongkong war nicht die einzige Inspirationsquelle für die Demonstranten. Die vielleicht größte Protestkundgebung der belarusischen Geschichte am 16. August „hatte eher Ähnlichkeit mit der Revolution in Armenien“, meint Viačorka. „Die Idee war, eine kritische Masse von Menschen auf die Straße zu bringen und damit die neue Mehrheit zu demonstrieren.“ Das ist bis jetzt auch gelungen. Zusätzlichen Auftrieb bekamen die Straßenproteste durch die Arbeitsniederlegungen der Bauern und Fabrikarbeiter, die bislang als besonders treue Lukaschenko-Anhänger galten. Staatsbetriebe und staatliche Rundfunkanstalten schlossen sich dem Streik ebenso an wie Leute, die sich als Angehörige der Polizei und des Sicherheitsdienstes zu erkennen gaben und die sich dabei filmten, wie sie aus Protest ihre Uniformen wegwarfen.
Entscheidend für den Erfolg der Protestbewegung ist die gekonnte Nutzung der sozialen Medien. Oppositionelle wie Tichanowskajas Ehemann Sergei Tichanowski, dessen Präsidentschaftskandidatur durch seine Verhaftung im Mai vereitelt wurde, sind auf YouTube populär geworden. Der beliebte Video-Blogger sei im vergangenen Jahr kreuz und quer durchs Land gereist und habe die Sorgen und Nöte der Menschen dokumentiert, erzählt Dryndova, und habe schließlich angekündigt, mit dem Slogan „Stoppt die Kakerlake“ zur Wahl anzutreten – eine Anspielung auf eines seiner viralen Videos über Lukaschenko. Nach seiner Verhaftung sprang Tichanowskaja für ihn ein.
Als die traditionellen Social-Media-Plattformen nicht mehr sicher schienen, wechselten die Demonstranten zu Telegram. Der verschlüsselte Nachrichtendienst, der sich auch bei den schwer zu greifenden Bewegungen in Katalonien und Hongkong großer Beliebtheit erfreute, spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, die Protestaktionen zu koordinieren und ohne feste Führungsstruktur Informationen zu verbreiten. „Das ist eine Telegram-Revolution“, stellt Viačorka fest. „Sie läuft nicht über die Opposition oder die politischen Parteien. Alles passiert über Blogger, Influencer und Telegram-Kanäle.“
Doch auch wenn die Taktiken vielfach übertragbar sind, ist keine Protestbewegung wie die andere. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Regierung auf die Forderungen eingeht, ist ebenso unterschiedlich wie das Durchhaltevermögen der Menschen.
Mittlerweile gibt es Dutzende von Telegram-Kanälen, die sich um die belarusische Protestbewegung drehen. Der populärste Kanal „NEXTA“ (der Name wird „NECHTA“ ausgesprochen und bedeutet im Belarusischen „jemand“) hat mehr als zwei Millionen Abonnenten – in einem Land mit 9,5 Millionen Einwohnern eine stattliche Zahl. Der Kanal wird von dem gebürtigen Belarusen Stsiapan Sviatlou (22) betrieben und dient nicht nur als Informations- und Nachrichtenquelle für die Protestler, sondern auch als virtuelles Hauptquartier der Bewegung. „Es ist Zeit, das Leben des Landes in unsere Hände zu nehmen!“ lautete der Titel einer Botschaft mit Instruktionen für den Marsch am 16. August und einer Liste von Forderungen (Lukaschenkos Rücktritt, sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen und Gerechtigkeit für alle Ermordeten und Folteropfer).
Der Einfluss von NEXTA blieb der belarusischen Regierung nicht verborgen. Kürzlich leitete sie ein Strafverfahren gegen Sviatlou ein. Außerdem versuchte Lukaschenko, die Protestierenden durch Internetsperren mundtot zu machen. Auf diese Idee waren unter anderem auch schon die indische, iranische und ägyptische Regierung gekommen. Doch auch in diesem Punkt konnten die Belarusen aus den Erfahrungen der Demonstranten in Hongkong und Indien lernen. Als das Internet ausging, wichen sie auf Offline-Anwendungen wie Firechat und Bridgefy aus, mit denen man auch ohne Internetverbindung kommunizieren kann. VPN-Tools wie Psiphon, die bei Aktivisten in China und im Iran beliebt sind, verzeichneten schon am Tag nach der Wahl steigende Nutzerzahlen in Belarus.
Doch auch wenn die Taktiken vielfach übertragbar sind, ist keine Protestbewegung wie die andere. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Regierung auf die Forderungen eingeht, ist ebenso unterschiedlich wie das Durchhaltevermögen der Menschen, die sich für diese Forderungen starkmachen. Einige Protestbewegungen erreichen ihre Ziele und geraten in Vergessenheit; andere wie die Demokratiebewegung in Hongkong und Frankreichs Gelbwesten-Proteste erweisen sich als erstaunlich ausdauernd. Die Belarusen haben jedoch möglicherweise nicht viel Zeit. Ebenso wie andere Länder wurde Belarus von der Pandemie wirtschaftlich schwer getroffen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung klagt über Einkommenseinbußen. Die Streikenden werden finanziell wohl nicht unendlich lange durchhalten. „Die meisten Leute, die ihre Arbeit niedergelegt haben, dürften etwa einen Monat über die Runden kommen“, schätzt Dryndova und fügt hinzu: „Wenn die Streiks monatelang weitergehen, würde das die belarusische Wirtschaft zerstören.“
Als wichtigster Erfolgsfaktor für die Proteste könnte sich übrigens Lukaschenko selbst erweisen. Er lässt sich weder von der Größenordnung der Oppositionsbewegung noch davon beeindrucken, dass Russland offenbar nicht geneigt ist, sich einzuschalten. Lukaschenko schaltet auf stur und glaubt, sein Schicksal sei untrennbar mit dem des Landes verbunden. „Töten Sie nicht eigenhändig Ihre Zukunft und die Zukunft Ihrer Kinder“, rief er neulich seinen Anhängern zu. „Der Sturz des ersten Präsidenten wird für euch den Anfang vom Ende bedeuten.“ Dieses Risiko nehmen viele Protestierende gerne auf sich. „Er glaubt immer noch, alles würde wieder wie vorher“, sagt Viačorka, „aber das wird mit Sicherheit nicht der Fall sein.“
Aus dem Englischen von Christine Hardung
(c) The Atlantic