Wahlen als Rundumschlag: Der serbische Präsident Aleksandar Vučić hat nur eine Woche nach dem Anschlag im nordkosovarischen Banjska vom 24. September Parlaments- und Lokalwahlen für den 17. Dezember angekündigt. Noch am Tag der Ankündigung traten die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister mehrerer serbischer Städte, alle unter Führung der Serbischen Fortschrittspartei von Aleksandar Vučić, zurück, um den Weg für Neuwahlen frei zu machen. Premierministerin Ana Brnabić soll auch am selben Tag in der Kabinettssitzung die Ministerinnen und Minister auf die baldige Notwendigkeit ihres Rücktritts und den Übergang in ein technisches Mandat vorbereitet haben. Sollten tatsächlich am 17. Dezember Wahlen stattfinden, so müsste die Regierung bis Anfang November zurücktreten. Damit hätte die jetzige Regierung, die im Oktober 2022 gebildet wurde, lediglich ein gutes Jahr durchgehalten. Damals hatte die Serbische Fortschrittspartei von Vučić mit 44 Prozent klar gewonnen und musste dennoch Stimmenverluste hinnehmen. Die sozialdemokratische und liberale Opposition im Bündnis „Gemeinsam für den Sieg Serbiens“ errang 13 Prozent und die grüne Bewegung Moramo 4,7 Prozent. Die Mehrheit für die Vučić-Partei bleibt bis heute gesichert, aber die Unzufriedenheit wächst. Immerhin ein Drittel aller Bürgerinnen und Bürger ist nach einer Umfrage des Instituts Demostat vom Juni 2023 der Meinung, die Lebensbedingungen seien schlechter als noch vor zehn Jahren.
Ein Fünkchen Unsicherheit bleibt bestehen, da in den letzten Monaten immer wieder Neuwahlen vom Präsidenten verkündet wurden, ohne dass es zu weiteren Schritten kam. Und dennoch mutet der jetzige Schritt wie ein Befreiungsschlag an – und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht. Ganz offensichtlich war Vučić durch den Anschlag der paramilitärischen Gruppe im Nordkosovo und die ungeklärte Frage, ob und wie die Behörden und Sicherheitsorgane in Belgrad in die Vorkommnisse verstrickt waren, unter immensen Druck geraten. Vučić steht nun vor der Aufgabe, sein Verhältnis zu Milan Radoičić, dem ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden der Partei der serbischen Minderheit im Kosovo Srpska lista, zu erklären, der die Verantwortung für die Vorfälle in Banjska übernommen hat. Gleichzeitig muss Vučić die glaubwürdige juristische Aufarbeitung der Vorgänge vorantreiben. Auf internationalem Parkett wird der Ruf nach Sanktionen laut, was den inneren Druck weiter verstärkt.
Aber auch innenpolitischem Druck sind der Präsident und die Regierung seit Monaten Druck ausgesetzt. „Ostavka“ – der Rücktritt des Präsidenten, der Regierung und rasche Neuwahlen – werden in Serbien seit dem Amoklauf und dem Massenmord vom 5. Mai dieses Jahres gefordert. Zwei Tage zuvor hatte ein 13-Jähriger an einer Belgrader Schule acht Mitschülerinnen und Mitschüler mit einer Schusswaffe getötet, in der Nacht darauf kam es zu einem Massenmord durch einen 21-Jährigen in dem Ort Mladenovac. Schon einige Tage danach fanden in Belgrad erste Massenproteste unter dem Slogan „Serbien gegen Gewalt“ statt. Diese Erfahrung traf den Nerv der Bürgerinnen und Bürger und spiegelt eine Erfahrung von alltäglicher Gewalt im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben wider. Es formierte sich das lose Bündnis „Serbien gegen Gewalt“, bestehend aus kritischer Zivilgesellschaft und pro-europäischen Oppositionsparteien, welches zum Träger der Proteste wurde. Diese werden bis heute in verschiedenen Städten Serbiens fortgesetzt. Zu Hochzeiten nahmen über 50 000 Menschen an den Protesten in Belgrad teil und auch in Westeuropa war von den größten Protesten in Serbien seit dem Kampf gegen das Regime von Slobodan Milošević zu lesen. Gefordert wurden eine Reform des Bildungswesens, ein Moratorium auf privaten Waffenbesitz und die Übernahme von Verantwortung durch die Regierung.
In den vergangenen zehn Jahren ist es zu einem eklatanten Verfall demokratischer Standards gekommen.
Bei den Protesten, die nur die Spitze eines Eisbergs sind, geht es aber auch um die Demokratie in Serbien. Unter der Oberfläche, aber bereits gut sichtbar, erscheint ein Land, in dem demokratische Rechte und Freiheiten nur noch partiell vorhanden sind. In den vergangenen zehn Jahren ist es zu einem eklatanten Verfall demokratischer Standards gekommen und die Organisation Freedom House bezeichnet Serbien schon seit einigen Jahren als hybrides Regime, welches sich auf autokratische Herrschaft stützt. Betroffen sind die Medien, die Gewaltenteilung, aber auch die parlamentarischen Beziehungen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird stark von der Regierung dominiert, private Sender bieten Präsident Vučić eine Plattform für fast tägliche Auftritte und eine große Zahl an Boulevardzeitungen unterstützen die Regierung, verbreiten pro-russische und anti-westliche Narrative und fahren persönlich gefärbte Kampagnen gegen Oppositionspolitikerinnen und -politiker. Die regierende Fortschrittspartei hat mit ihren 700 000 Mitgliedern weitgehenden informellen Einfluss in allen Teilen der Gesellschaft, bis in die Wirtschaft hinein. Über Verstrickungen der Exekutive in die organisierte Kriminalität wird spekuliert und zum Teil auch ermittelt, wie im Fall Jovanjica, bei dem es um illegalen Cannabis-Anbau geht.
Eine pro-europäische Opposition ist überhaupt erst seit den letzten Wahlen vom April 2022 im Parlament vertreten, und dies auch nur aufgrund der Intervention des Europäischen Parlamentes im Rahmen des Inter-Party Dialogue. Sosehr diese Rückkehr des Pluralismus in Serbien begrüßt wurde, sosehr hat die Realität der Parlaments- und Regierungsarbeit des vergangenen Jahres enttäuscht.
Die Zustände und Arbeitsbeziehungen im Parlament sind von einer zunehmenden Polarisierung zwischen Regierung und Opposition geprägt.
Die Zustände und Arbeitsbeziehungen im Parlament sind von einer zunehmenden Polarisierung zwischen Regierung und Opposition geprägt. Sitzungen wurden ad hoc anberaumt, der Sprecher des Parlamentes dominiert den Sitzungsablauf, eine ausreichende Befassung mit Gesetzesvorlagen fand nicht statt. Die Opposition beklagt, dass die Regierungsfraktion vorsätzlich ihre Rechte vorenthalte. Die Regierung hingegen beklagt einen mangelnden Kooperationswillen der Opposition, was aber angesichts der beschriebenen Mängel im parlamentarischen Ablauf nicht überrascht. Und es überrascht auch nicht, dass die Opposition nach der Sommerpause die Verabschiedung des Haushaltes boykottierte und Neuwahlen forderte.
Die Regierung bekennt sich zwar zum EU-Beitritt des Landes und Vučić ist weiterhin wichtigster Partner der EU in Serbien, aber gleichzeitig vertritt er eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West. Am Tag nach dem Anschlag in Banjska zum Beispiel besuchte Vučić als Erstes den russischen Botschafter, und auch sonst wird auf die traditionelle Verbundenheit mit Russland verwiesen. Die Zustimmung zur EU hat daher auch in den vergangenen Jahren stark nachgelassen. Die Bevölkerung wendet sich enttäuscht ab und traut auch der Europäischen Union nicht mehr. Nur noch 38 Prozent der Menschen in Serbien unterstützen einen EU-Beitritt des Landes. Der Rest pendelt emotional zwischen EU und Russland, wird apolitisch oder verlässt im Zuge von Arbeitsmigration das Land. Wer kann, verlässt das Schiff – ein düsteres, aber reales Bild. Ein Teil der Bevölkerung rückt auch weiter nach rechts, denn neben der grünen, linken, liberalen und zentristischen Opposition gibt es auch eine Opposition am rechten Rand, die nicht zu vergessen ist.
Damit wird auch klar, dass das alleinige Setzen auf Stabilität, wie es noch zu Zeiten der Regierung von Angela Merkel an der Tagesordnung war, nicht weiterhelfen wird. Vučić wurde in der EU als Garant für Stabilität angesehen, nicht nur was das Kosovo anbelangt, sondern eben auch was die inneren Verhältnisse in Serbien angeht.
Das hat auch dazu geführt, dass der Blick auf die pro-europäische Opposition zu undifferenziert blieb. Gerne wird bei Debatten um die demokratische Entwicklung in Serbien darauf verwiesen, dass es ja außer Vučić und der Fortschrittspartei nichts und niemanden gebe und dass sich die pro-europäischen Kräfte in den Untiefen der Transformation der 1990er Jahre delegitimiert hätten, wie unter anderem die Demokratische Partei, einstmals von Zoran Đinđić geführt. Auch die Tatsache, dass nicht jede oder jeder aus der serbischen pro-europäischen Opposition einer Unabhängigkeit des Kosovo zustimmen kann oder will, scheint viele im Westen abzuschrecken.
Es geht kein Weg an der Opposition vorbei, gerade auch in der Kosovo-Frage.
Dabei geht kein Weg an der Opposition vorbei, gerade auch in der Kosovo-Frage. Wichtig ist es zu verstehen, dass die oben beschriebenen Zustände, die mangelnden Möglichkeit der Opposition, sich in den politischen Dialog einzubringen, die Gefahr politischer Schmutzkampagnen und die Übermacht der Serbischen Fortschrittspartei wesentlich zu der Schwierigkeit der Opposition beitragen, sich solide aufzustellen. Das Setzen auf Stabilität war auch hier folgenschwer. Außerdem sollten die jüngsten Proteste gezeigt haben, dass in Serbien eine neue Generation von Politikerinnen und Politikern herangewachsen ist, die bereit ist, Verantwortung zu übernehmen.
Diese pro-europäische Opposition hat sich in den vergangenen Monaten verständigt und ein Bündnis gebildet, von links-grün (Parteien Moramo, Zaedno) über sozialdemokratische Parteien (Demokratische Partei, Freiheit und Gerechtigkeit) bis in die Mitte (Srce) und ins liberale Lager hinein (PSG), und auch mit der gemäßigt rechten Partei Nationale Bewegung gibt es eine Verständigung. Dieses Bündnis, obwohl nicht in Stein gemeißelt, möchte gemeinsam bei den Wahlen antreten. Politisches Personal und politische Ideen sind da – es kommt nun darauf an, mit diesen Kräften den offenen, konstruktiven und wo notwendig auch kritischen Dialog zu suchen. Genaue Zahlen sind im Moment schwer zu eruieren, aber Analysten schätzen das Potenzial dieses Bündnisses auf bis zu 30 Prozent. Eine ernst zu nehmende Kraft also.
Außerdem braucht es ein entschiedenes und unnachgiebiges Eintreten für Medienfreiheit und freie und faire Wahlbedingungen von Seiten der europäischen Partner. Erst wenn die Opposition ihre Positionen angemessen in den öffentlichen Diskurs einbringen kann, sich nicht der Gefahr von Schmutzkampagnen ausgesetzt sieht und wenn die Wählerinnen und Wähler frei von Druck sind, können Wahlen tatsächlich frei und fair sein und damit die Voraussetzungen für ein demokratisches Miteinander darstellen.
Bei aller Dringlichkeit der Situation im Kosovo muss die internationale Gemeinschaft ihren Blick auf die inneren Verhältnisse in Serbien und unter die Oberfläche eines vermeintlichen stabilen Landes lenken. Erst wenn demokratische Verhältnisse wiederhergestellt sind, wird es zu einem nachhaltigen Frieden zwischen Belgrad und Pristina kommen können. Ein weiteres Abdriften Serbiens in noch tiefere autokratische Zustände hingegen würde eine weitere Destabilisierung der nachbarschaftlichen Beziehungen bedeuten. Ein Titanic-Szenario, das die EU nicht wollen kann.