Im August dieses Jahres hielt Kyriakos Mitsotakis, der griechische Premierminister, eine vielbeachtete Rede vor dem amerikanischen Kongress. Darin sang er ein Loblied auf die USA, auf Griechenland und vor allem auf die Demokratie, deren Wiege er in beiden Ländern verortete. Beide Länder bezeichnete er als „Wächter der Demokratie“ und als Antwort auf autoritäre Tendenzen in anderen Ländern sagte er: „Wir müssen unsere demokratischen Institutionen stärken, um die Ursachen für die Wut und das Misstrauen unserer Bürger zu beseitigen.“
Gerade in der Adressierung der Unzufriedenheit von Bürgerinnen und Bürgern präsentiert sich die griechische Regierung, die allein von der rechtskonservativen Partei Nea Demokratia (ND) gestellt wird, als fortschrittlich. So schreitet die Digitalisierung vieler Bereiche voran. Verwaltungsvorgänge, die früher mit langen Behördengängen verbunden waren, lassen sich mittlerweile schnell und effizient online erledigen. Das macht Eindruck. Die Selbstdarstellung der Nea Demokratia als Garantin einer modernen, unerschütterlichen und lupenreinen Demokratie überdeckt allerdings systematische anti-demokratische Tendenzen der aktuellen Regierung, die dem Ausdruck „Stärkung der Institutionen“ eine ganz andere Bedeutung geben.
Über den Umgang mit Pushbacks von Migrantinnen und Migranten, die von den griechischen Behörden systematisch durchgeführt werden, ist international bereits ausgiebig berichtet worden. Genannt sei an dieser Stelle nur die den deutschen Leserinnen und Lesern leicht zugängliche Reportage Tod in der Ägäis sowie der eigentlich geheime, aber nun vom Spiegel veröffentlichte Bericht der EU-Untersuchungseinheit OLAF. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich jedoch dabei nicht um ein nationales, sondern ein EU-weites Themenfeld mit starker europäischer Beteiligung, in dem die Stärkung der Institution vor allem in einer EU-Abschottungspolitik nach außen ohne Rücksicht auf Menschenrechte besteht.
Die autoritären Tendenzen der Regierung Mitsotakis zeigen sich an ganz anderen Stellen – in der Schwächung von Bürgerrechten (insbesondere dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung), den Möglichkeiten des Parlaments als Kontrollorgan der Regierung sowie beim Umgang mit der Presse: Griechenland ist in den letzten Jahren im Pressefreiheitsranking von Reporter ohne Grenzen auf den letzten Platz in Europa gerutscht – hinter Ungarn und Polen. Hierzu nutzt die Regierung sowohl Gesetzgebung als auch andere, informellere Mittel. Beispielhaft und zugleich besonders frappant werden diese Elemente in einer Abhör-Affäre deutlich, die das Potenzial gehabt hätte, die politische Landschaft als griechische Version von Watergate zu erschüttern, am Ende aber schon nach wenigen Wochen sang- und klanglos aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand.
Im Jahr 2020 fanden 13 751 Überwachungen begründet mit „Fragen nationaler Sicherheit“ statt.
Was geschah? Im Juli dieses Jahres wurde bekannt, dass das Telefon des aktuellen Vorsitzenden der griechischen Sozialdemokraten, Nikos Androulakis, vom griechischen Geheimdienst abgehört worden war und dass versucht wurde, die in der EU geächtete Spy-Software Predator auf sein Handy aufzuspielen. Soweit, so unerfreulich, aber durchaus im Spektrum der Affären europäischer Demokratien. Was dann folgte, offenbart das ganze Ausmaß des autoritären Shifts.
Die erste autoritäre Verschiebung fand lange vor der Affäre statt, nämlich in einer Umstrukturierung: Direkt nach Amtsantritt wurde der Inlandsgeheimdienst EYP direkt dem Premierminister unterstellt, statt wie bis dato dem Innenministerium. Zugleich wurden die formalen Qualifikationsanforderungen für den Posten des Chefs des Geheimdienstes geändert: Statt eines Masterabschlusses reicht nun ein Bachelor-Abschluss. Böse Zungen behaupten, dies sei geschehen, um den Posten mit einem Freund Mitsotakis’ besetzen zu können. Im Stab des Premierministers war sein Generalsekretär für den Geheimdienst zuständig – ein Neffe. Diese Aspekte sorgten dafür, dass der Geheimdienst eng an den Premierminister angebunden wurde und legen es nahe, dass Mitsotakis selbst durchaus über das Abhören seines politischen Konkurrenten informiert war. In jedem Fall aber ist er politisch dafür verantwortlich, ein Umstand, der im Zuge der eigentlichen Affäre kaum weiter thematisiert wurde.
Eine zweite autoritäre Verschiebung betrifft Einschränkungen des EU-weit gültigen Bürgerrechts auf informationelle Selbstbestimmung im Namen der „Nationalen Sicherheit“. Androulakis erfuhr erst im Juli 2022, dass er abgehört worden war, nachdem er als EU-Abgeordneter sein Handy durch einen Service des EU-Parlaments untersuchen lassen hatte. Dass er von den griechischen Behörden darüber nicht informiert werden musste, lag daran, dass im Frühjahr 2021 durch Änderung des betreffenden Gesetzes die Regelung abgeschafft worden war, dass Abgehörte im Nachhinein über die Überwachung zu informieren sind, wenn der Grund der Überwachung „Fragen nationaler Sicherheit“ betrifft. Androulakis ist hier nur ein Beispielfall unter vielen: Im Jahr 2020 fanden 13 751 Überwachungen begründet mit „Fragen nationaler Sicherheit“ statt, im Jahr 2021 dürften es, wenn sich die bisherige Tendenz fortsetzt, noch mehr gewesen sein. Dem standen 2020 übrigens lediglich 3 190 Überwachungen im Zuge krimineller Strafverfolgung gegenüber.
Drittens die mangelnde parlamentarische wie juristische Aufklärung der Affäre (die an den skandalösen Umgang in Deutschland mit den Beweisen der Verstrickung des Verfassungsschutzes in den NSU erinnert). Zwar mussten der Geheimdienstchef Panagiotis Kontoleon ebenso wie der Generalsekretär des Premiers, Grigoris Dimitriadis, infolge des Abhörskandals ihre Posten räumen. Auch wurde ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingerichtet, doch dieser gab sich nicht einmal den Anschein, gründlich zu arbeiten. Bevor er überhaupt beginnen konnte, wurde die Akte zur Überwachung von Androulakis vernichtet. Dies zog weder einen längeren Aufschrei beziehungsweise veröffentlichte Nachforschungen der griechischen Presse nach sich, noch wurde es im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss weiter verfolgt.
Auf Journalistinnen und Journalisten, die kritisch berichten, wird Druck ausgeübt.
Geheimdienstchef Kontoleon und Generalsekretär Dimitriades wurden gar nicht erst vom Untersuchungsausschuss eingeladen, um zur Überwachung selbst oder zur Aktenvernichtung Stellung zu nehmen. Der vorherige Geheimdienstchef dagegen wurde zu den Abhörpraktiken der Vorgängerregierungen angehört. Dabei ging es darum nachzuweisen, dass auch die von der linken SYRIZA geführte Regierung abgehört habe, um damit die eigenen Vergehen zu normalisieren und davon abzulenken. Auch wurde niemand, der mit der Nutzung von Spyware in Verbindung gebracht werden konnte, vor den Ausschuss geladen.
Von den Politikerinnen und Politkern, die in Verbindung stehen, wurde nur das Opfer Nikos Androulakis angehört. Die parlamentarische Untersuchung wurde nach lediglich vier Wochen durch die Parlamentarische Mehrheit der ND für abgeschlossen erklärt. Oppositionspolitikerinnen und -politiker haben inzwischen Klage eingereicht, um eine gerichtliche Fortführung der Untersuchung zu erreichen. Es gibt nach wie vor auch keine offizielle Untersuchung der Firma Intellexa, die die Spyware Predator in Griechenland vertreibt, sowie keinerlei offizielle Untersuchung über das Ausmaß der Nutzung von Predator-Software in Griechenland.
Dafür verklagte Grigoris Dimitriadis, der zurückgetretene Generalsekretär, einige Medien, Fake News über ihn verbreitet zu haben – auf Grundlage eines im November 2021 eingeführten Gesetzes, das Beobachterinnen und Beobachter als ein weiteres Instrument zur Einschränkung der Pressefreiheiteinschätzen. Die neue Regelung stellt die Verbreitung von Fake News, die „geeignet sind, die Öffentlichkeit zu beunruhigen oder zu verängstigen oder das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Volkswirtschaft, die Verteidigungsfähigkeit des Landes oder die öffentliche Gesundheit zu untergraben“, unter Strafe. Das Strafmaß liegt bei bis zu fünf Jahren Gefängnis.
Kritikerinnen und Kritiker befürchten, dass damit kritische Berichterstattung und investigativer Journalismus unterbunden werden (was der Fall von Dimitriadis zu bestätigen scheint), aber auch, dass dies die Selbstzensur von Journalistinnen und Journalisten sowie der Medien weiter stärkt. Damit kommt die Peitsche zum Zuckerbrot. Laut einem Bericht des Nachrichtenportals Politico haben sich seit Beginn der Pandemie die Bedingungen unabhängiger Berichterstattung, die schon zuvor nicht gut waren, weiter verschlechtert. Die Regierung habe staatliches Geld – unter anderem für eine Aufklärungskampagne im Zusammenhang mit der Pandemie – nur an Medien ausgegeben, die linientreue Berichterstattung versprachen. Auf Journalistinnen und Journalisten, die kritisch berichten, wird Druck ausgeübt oder sie werden abgehört.
Am Ende muss sich die Regierung an ihren selbst gesetzten Maßstäben messen lassen.
Wie schlecht und gefährlich die Arbeitsbedingungen im Journalismus in Griechenland sind, zeigt auch der Mord an Giorgos Karaivaz. Der Journalist war ein sehr bekannter investigativer Kriminalreporter, der im Frühjahr 2021 von Auftragsmördern auf offener Straße gleichsam hingerichtet worden ist. Die langsame – manche sagen verschleppte – Bearbeitung dieses Falles zeigt die geringe Priorität, die dem Schutz von Journalistinnen und Journalisten in Griechenland eingeräumt wird. Ein fast zeitgleicher und paralleler Fall in den Niederlanden – der Mord an Peter de Vries im Sommer 2021 – belegt den Unterschied: In seinem Fall wurden schon kurz nach der Tat Verdächtige festgenommen und im Sommer 2022 begann der Prozess gegen diese.
Vor dem Hintergrund der Einschränkungen der Pressefreiheit mag es kaum überraschen, dass die griechischen Mainstream-Medien den Skandal nur sehr langsam aufnahmen und zurückhaltend behandelten. Besonders fiel auf, dass in diesen Medien versucht wurde, Mitsotakis eher wenig mit dem Fall in Verbindung zu bringen. Medieninsider sind sich außerdem einig: Dieselben Medien hätten bei einer linken Regierung aus „allen Rohren geschossen“ und den Fall schneller und aggressiver verfolgt.
Am Ende muss sich die Regierung an ihren selbst gesetzten Maßstäben messen lassen – und das Ergebnis ist mager. Die eigene Rollenbeschreibung als „Wächter der Demokratie“ scheint die rechtskonservative Regierung vor allem im Sinne einer zunehmend autoritären Aufrechterhaltung des Status quo zu verstehen, die „Stärkung der Institution“ als deren Abschottung vor Kritik. Gesellschaftliche Schieflagen und Probleme adressiert die Mitsotakis-Regierung nicht etwa durch deren Beseitigung, sondern vor allem durch die Unterdrückung der Berichterstattung darüber, wenn es das Bild der erfolgreichen, modernen und makellosen Regierung stört.
Von einer demokratischen Regierung kann man erwarten, dass sie kritischen Journalismus auch dann fördert, wenn einzelne Ergebnisse von Recherchen für sie unangenehm sind, sowie dass sie Schieflagen offen zugibt und daran arbeitet. Das Abwehren von Kritik zugunsten einer Selbstinszenierung als perfekte Regierung und einer Hochglanzfassade, an der alles abperlt, ist hingegen das genaue Gegenteil von demokratisch. Die Opposition muss nun zeigen, dass sie nicht nur schön reden, sondern diese Dinge tatsächlich besser machen kann. Die Möglichkeit dazu hat sie bald: Im Frühjahr 2023 sind Parlamentswahlen.