Stabilität ist ein hohes Gut, das höchste, wenn es nach der russischen Führung geht. Und so zeugen auch die Ergebnisse der dreitägigen Wahl zum gesamtrussischen Parlament, der Staatsduma, von einem gewissen Gleichmaß. Am Wahlsieg der Partei „Einiges Russland“ konnte es keinen Zweifel geben. Auch wenn er diesmal etwas kleiner ausfällt, wird es voraussichtlich zu einer verfassungsgebenden Mehrheit reichen.
In Nuancen gibt es dennoch Änderungen. Die Kommunisten (KPRF) sind deutlich stärker. Die Kandidaten der KPRF waren überproportional auf den Listen der „Smart Voting“-Kampagne des Dissidenten Alexei Nawalny vertreten und konnten somit zusätzliche Proteststimmen einsammeln. Viel wichtiger ist aber vermutlich, dass sie besser als alle anderen den Unmut von sich verschärfender sozialer Ungleichheit, hoher Inflation und schleppender Lohnentwicklung aufgreifen konnten. Zudem war es der eher traditionell, konservativ-patriotisch geprägten Partei in letzter Zeit gelungen, eine Reihe junger politische Talente mit deutlich linkeren Positionen zu rekrutieren, die eine gewisse Aufbruchstimmung erzeugten. Es gibt auch eine neue Partei im russischen Unterhaus. Der parlamentarische Newcomer nennt sich „Neue Leute“. Sie zählt zu den jüngsten Neugründungen, die sehr schnell eine Registrierung erhielten. Diese Parteien stehen somit im Ruf, vom Kreml zum Aufsaugen von Proteststimmen ins Rennen geschickt worden zu sein.
Die Duma-Wahlen sind auch keine Wahlen, die an den Machtverhältnissen im Land wirklich etwas ändern.
Grundlegende Veränderungen gibt es allerdings nicht. Die Duma-Wahlen sind auch keine Wahlen, die an den Machtverhältnissen im Land wirklich etwas ändern. Das Parlament ist relativ schwach im russischen Institutionengefüge. Selbst mit einer mehrheitlich oppositionellen Besetzung wäre die Gestaltungsmacht des Präsidenten nicht grundsätzlich gefährdet. Dennoch erfüllen die Wahlen zum Parlament aus Kreml-Sicht eine wichtige Funktion: Sie sind ein Symbol des Maßes an Unterstützung in der Bevölkerung für die Macht des Kremls und geben damit Legitimität.
Genau auf diese hatte es Nawalnys „Smart Voting“-Kampagne abgesehen. Sie gab für jeden Bezirk denjenigen Kandidaten an, der die besten Chancen hatte, den Kandidaten von Putins Partei „Einiges Russland“ zu schlagen. Damit umging die Kampagne das Problem der stets zerstrittenen Opposition und schuf eine Möglichkeit zur wirksamen Protestwahl. Allerdings fanden so auch Vertreter der Systemopposition Unterstützung, das heißt von Parteien, die sich zwar oppositionell geben, aber in entscheidenden Momenten mit der Partei der Macht abstimmen. Ausschlaggebend für die Kampagne war lediglich, ob ein Kandidat die Partei der Macht schwächen würde. Viele derjenigen, die sich als wirkliche Opposition verstehen und die Politik gestalten wollen, sahen das kritisch. Durch diese Zuspitzung gerät aus dem Blick, dass es auch oppositionelle Kandidaten mit eigener Agenda gibt, die prioritär konkrete Projekte für ihre jeweiligen Regionen umsetzen wollen und weniger an den großen politischen Linien interessiert sind. Übersehen wird dadurch auch, dass es in der Duma durchaus Abgeordnete gibt, die sich für Themen einsetzen, Gesetze initiieren und durch Anfragen Probleme verdeutlichen. Wird die Wahl auf die Frage reduziert „Bist Du mit der Macht oder gegen sie?“, drohen diese kleinen Erfolge politischer Arbeit unterzugehen.
Trotz wachsender Unzufriedenheit mit der Partei der Macht setzt ein großer Teil der Bevölkerung sein Kreuz weiterhin bei „Einiges Russland“.
Aber muss die Staatsmacht diese Frage überhaupt fürchten? Kaum. Denn trotz wachsender Unzufriedenheit mit der Partei der Macht setzt ein großer Teil der Bevölkerung sein Kreuz weiterhin bei „Einiges Russland“. Dies liegt zum einen an der großen Staatsquote bei den Beschäftigten, die direkt beim Staat oder staatsnahen Unternehmen angestellt sind, sowie an denjenigen, die auf staatliche Leistungen wie Rente oder Beihilfen angewiesen sind. Zum anderen sind dies Menschen, die alles wollen, nur keine Wiederholung der schwierigen 90er Jahre. Sie stimmen lieber für eine etwas bleierne Stabilität als eine unbekannte Zukunft. Es gibt aber auch die überzeugten Wähler, die mit dem Status quo zufrieden sind. Für sie zählt, dass die Wirtschaft stabil bleibt, Russland wieder eine geachtete Weltmacht ist und die Krim Teil Russlands wurde. Selbst, wenn diese Menschen die Partei „Einiges Russland“ vielleicht nicht schätzen, würden sie sie wählen, weil sie für einen starken Staat und die Politik des Präsidenten steht.
Trotz dieser relativen Sicherheit, wirkte der Kreml sehr besorgt über den Ausgang. Im Vergleich zu früheren Wahlen legte er eine unverhältnismäßige Aktivität an den Tag, um die angestrebten Ergebnisse zu erreichen. Ein Grund für diese Sorge vor Wahlen hängt mit der Außenpolitik zusammen, die in Russland alle Politikfelder dominiert. Das Leitbild der russischen Außenpolitik sieht das Land von Feinden umgeben, die jede Schwachstellen zur Destabilisierung Russlands ausnutzen. Diese Sorge wird immer wieder von Politikern geäußert. Viele Vertreter dieses Narrativs sehen Wahlen daher als Gefährdung der Stabilität. Mit den farbigen Revolutionen der letzten Jahrzehnte und den aktuellen Entwicklungen in Belarus vor Augen gilt es gemäß dieser Logik, keine Unklarheiten oder Proteste zuzulassen, die ausländischen Mächten die Möglichkeit zur Einmischung gäben. Die Wahlen müssen daher eindeutig sein.
Durch eine zunehmende Freund-Feind-Dynamik bei Wahlen kommt zudem genau jene Instabilität auf, die im Kreml so gefürchtet wird.
Aus dieser Perspektive heraus lässt sich der kompromisslose Kampf gegen Nawalnys „Smart Voting“ Kampagne erklären. Unter der breiten Mehrheit der Bevölkerung herrscht großes Desinteresse an der Politik. Die Aktivierung einer kleinen, aber umtriebigen Schicht gegen die Politik des Kremls wird daher als Gefahr für die Stabilität des ganzen Landes gesehen.
Riskant an dieser Auseinandersetzung ist, dass die Wahlen immer mehr zugespitzt werden auf die Frage „Bist Du mit dem Staat oder dagegen?“. Der bereits kaum stattfindende politische Diskurs über inhaltliche Alternativen wird dadurch vollends unmöglich. Durch eine zunehmende Freund-Feind-Dynamik bei Wahlen kommt zudem genau jene Instabilität auf, die im Kreml so gefürchtet wird. Eine lebendige Debatte unter Beteiligung der äußerst vielgestaltigen Opposition wäre hierfür das beste Gegenmittel.