Je mehr Zeit nach der spektakulären Meuterei der Wagner-Truppen verstreicht, desto intensiver wird die Diskussion durch Spekulationen, Mythen und Verschwörungstheorien dominiert. Es gibt deutlich mehr Fragen als Antworten. Hat Jewgeni Prigoschin auf eine nennenswerte Kollaboration seitens der ordentlichen russischen Streitkräfte gesetzt? Ist der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko nur ein respektabler „Pressesprecher“, der nur angerufen wurde, um den protokollarischen Anstand zu wahren, oder hat er wirklich die Rolle des Schiedsrichters eingenommen in einem Konflikt, in dem der russische Präsident Wladimir Putin nicht mehr die höchste Instanz, sondern Konfliktpartei war? Was genau war der ausschlaggebende Punkt, der den Wagner-Voraustrupp, der schon 200 Kilometer vor dem scheinbar ungeschützten Moskau stand, zum Umkehren gebracht hat?

Auch ohne die Antworten zum jetzigen Zeitpunkt zu haben, kann man sich einer Sache sicher sein: Prigoschins Revolte ist der bisher größte game changer im russisch-ukrainischen Krieg. Mehr als das – das Machtsystem von Wladimir Putin steht vor ungewöhnlich fundamentalen Herausforderungen. 

Was ist die „Private Military Company Wagner“? Es ist wichtig zu verstehen, dass „Söldner“ in diesem Kontext nicht „Freischärler“ meint, sondern „Paramilitärs“, also Formationen, die mit glaubhafter Abstreitbarkeit von Seiten der russischen Regierung black ops und sonstige Operationen global durchführen können. „Wagner“ ist eine Kreation des russischen Militärgeheimdienstes und Prigoschin war vielmehr der vom Auftraggeber bestellte CEO, weniger ihr Kommandeur. Sie ist ein nützliches außen- und sicherheitspolitisches Instrument für die russische Föderation und wird es auch bleiben, egal ob der Name „Wagner“ bestehen bleibt und wie viele der Kämpfer noch weitermachen wollen und dürfen.

Prigoschins Revolte ist der bisher größte game changer im russisch-ukrainischen Krieg.

Prigoschin ist ein alter Wegbegleiter Putins, noch aus der gemeinsamen Petersburger Zeit, aber kein enger Vertrauter. Vielmehr hat er sich als verlässlicher und erfinderischer „Generalbevollmächtigter“ des Regimes für Sonderprojekte erwiesen – im unternehmerischen Bereich, als Modernisierer der altbackenen Staatspropaganda („Trollfabriken“) und zuletzt eben als das Gesicht eines unbürokratischen militärischen Start-ups, das zu den effektiveren Teilen des russischen Militärs gezählt werden darf. Er ist ein klassischer Oligarch der Putin-Ära, seine Machtquelle ist nicht der Besitz von Ressourcen und Konzernen, sondern die Beteiligung an Geldfluss aus Staatsaufträgen, die wiederum nur an loyale und verlässliche Akteure gehen. Seine Revolte wird am ehesten verständlich, wenn man sie als Versuch analysiert, mit allen Mitteln zu verhindern, aus der Gunst Putins zu fallen – dieses Szenario zeichnete sich mit den Plänen der Eingliederung der Wagner-Kämpfer in die russische Armee bereits deutlich ab. Prigoschin machte das, was ihm in der Vergangenheit stets geglückt war – er bluffte und pokerte. Aber er blieb durch und durch Teil des Systems und es ist sehr fraglich, ob er wirklich bis auf den Roten Platz gefahren wäre. Vieles deutet darauf hin, dass er viel interessierter an der Verhinderung der wirklichen Konfrontation war, als Putin selbst.

Bemerkenswert ist das politische Gespür von Prigoschin. Seine große Popularität – in der Bevölkerung wie in den Sicherheitsbehörden – verdankt er genau dem Umstand, dass er sich gekonnt bei den regierungs- und kriegskritischen Stimmungen bedient hat. Erstaunlich sind seine letzten Social-Media-Auftritte vor dem „Marsch der Gerechtigkeit“, in denen er die Gründe für den Krieg als Lüge und Betrug brandmarkte und sich einer Rhetorik bediente, die auch von Russlands inhaftiertem wichtigstem Oppositionspolitiker Alexej Nawalnij hätte stammen können. Er spürt, dass es genau ein Thema gibt, das die Mehrheit der Russinnen und Russen bewegt – Korruption als das fundamentalste Grundübel ihres Landes. Ja, seine Tonlage ist nationalistisch und populistisch, aber letztlich schöpft er seine Reputation aus der genuinen Frustration der russischen Bevölkerung über ihren Staat. Nun ist er in den Augen seiner ehemaligen Unterstützer ein doppelter Verräter, kein Volkstribun, sondern lediglich ein Rädchen im System, ein Mitglied der Elite, das einfach nur einen besseren Deal haben wollte – und ihn vielleicht auch bekommen hat. 

Umso bemerkenswerter ist der Konflikt zwischen „Wagner“ und den offiziellen Strukturen des russischen Staates. Erstmals seit dem zweiten Tschetschenienkrieg wurde die Hoheit über die innere Sicherheit dem Kreml streitig gemacht. Selbst diese so kurze Episode lässt nun Zweifel aufkommen, inwiefern der Grundpfeiler des Putin’schen Gesellschaftsvertrags noch intakt ist – nämlich die als sakral behandelte Stabilität des öffentlichen Raums. Das Gewaltmonopol in Südrussland ist kurzzeitig ins Wanken geraten, und es sieht schon länger nicht gut aus: Verschiedene Gruppen wie die ukrainisch-unterstützten russischen Freiwilligencorps, die Wagner-Truppen und die regulären Streitkräfte stehen sich gegenseitig im Wege und das im Kontext einer sich weiter entfaltenden ukrainischen Gegenoffensive. So stellt man sich das nicht vor, wenn professionelle Geheimdienstler das Land regieren.

Bisher wurden Interessenkonflikte der Elite im Verborgenen ausgetragen, durch Wladimir Putin moderiert und in der Regel ohne öffentliche Aufmerksamkeit beigelegt.

Die Rückkehr der öffentlichen und massiven Gewalt als Konfliktmodus unter den Mächtigen ist auch in einem weiteren Punkt signifikant: Bisher wurden Interessenkonflikte der Elite im Verborgenen ausgetragen, durch Wladimir Putin moderiert und in der Regel ohne öffentliche Aufmerksamkeit beigelegt. Nun ist Putin immer entrückter geworden, unzugänglich in seiner selbstauferlegten historischen Mission, während formelle Institutionen sich nicht mehr dazu eignen, in solchen Konfliktszenarien zu wirken. Wenn am politischen Olymp gestritten wird, schaut das Land einfach zu. Ohne Instruktionen aus dem Kreml wissen Gouverneure, Polizeifunktionäre oder Militärs oft gar nicht, welches Verhalten von ihnen erwartet wird. Politik ist in Russland schon zu lange vor allem Inszenierung – auch deswegen ist jeglicher Widerstand gegen die Möchtegern-Putschisten ausgeblieben, denn auch Angehörige der russischen Armee und Polizei konnten gar nicht mehr aus dem Stand nachvollziehen, ist es nun Theater oder der Ernstfall? Eine derartig geringe Identifikation mit den politischen Inhalten könnte man als Opportunismus oder Fatalismus bezeichnen. Egal wie, sie verheißt nichts Gutes für die Kriegsunterstützung. Dieser Krieg war und bleibt unpopulär in der Bevölkerung, denn auch er ist vor allem eins – ein Projekt der politischen Eliten. 

Prigoschin geht, die Stimmung bleibt. Der russische Staat, der seit vielen Jahren immer brutaler gegen die liberale Opposition vorgeht, muss feststellen, dass seine aktivste Dissidenz ganz woanders ist, nämlich am rechten Rand der Gesellschaft. Die bevorstehende Präsidentschaftswahl 2024 sollte eigentlich um jeden Preis ohne Niederlagen und Krisen durchgeführt werden. Die Präsidialwahl in Russland ist ein wichtiger Moment für die regelmäßige Erneuerung der unangefochtenen Anführerschaft Putins, dabei geht es keineswegs um einen fairen und freien politischen Wettbewerb, sondern um das genuin Plebiszitäre. Putin stützt sich auf eine echte Unterstützung aus der Bevölkerung, um seine Machtvertikale zu disziplinieren. So eine Wahl darf nicht zu sehr frisiert und manipuliert werden, denn dann würde der ausführende Apparat die Frage stellen: Warum genau braucht es genau diesen Präsident, wenn die Wahl sowieso zu 100 Prozent fake ist? 

Die Frage, ob Wladimir Putin der beste Garant für politische Stabilität, innere Sicherheit und einen funktionierenden Konfliktschlichtungsmechanismus zwischen den Eliten ist, wurde durch die jüngsten Ereignisse drastisch vorgezogen. Wir können bereits jetzt sehen, wie das System reagiert, halbtäglich gibt es neue öffentliche Auftritte des Präsidenten, Ansprachen, Reden, Termine. Der kriegsführende Vater der Nation ist herabgestiegen und macht wieder Wahlkampf – Selfies, rote Schleifen, Bürgergespräche.

Der kriegsführende Vater der Nation ist herabgestiegen und macht wieder Wahlkampf – Selfies, rote Schleifen, Bürgergespräche.

Und was heißt das für den Krieg? Die Ukraine profitiert von dieser Krise in doppelter Hinsicht. Nach einem Schockmoment reagieren autoritäre Systeme in der Regel durch neue Härte. Der Kreml scheint Pläne zu haben, die bisher eher polizeilich-repressiv ausgestattete Nationalgarde, geführt von General Solotow, einem ehemaligen Leibwächter Putins, durch Aufrüstung mit schwerem Gerät zu einer vollwertigen Binnenstreitkraft nach Vorbild des sowjetischen „Volkskommissariats für innere Angelegenheiten“ (NKWD) aufzuwerten. Bei der jetzigen Versorgungslage kann dieses Gerät eigentlich nur den Beständen oder Reserven der in der Ukraine kämpfenden Armee entnommen werden.

Viel wichtiger ist die Auswirkung der innenpolitischen Krise auf die russische grand strategy im Krieg gegen die Ukraine und im Konflikt mit dem Westen. Diese beruhte zuletzt auf dem Grundsatz „die Zeit arbeitet für uns“. Es wurde auf eine langanhaltende Konfrontation gesetzt, um die ukrainische, europäische und amerikanische Durchhaltefähigkeit und Solidarität zu untergraben. Man ist in Moskau davon ausgegangen, dass man am längeren Hebel sitzt und über kurz oder lang einfach durch die Beibehaltung des jetzigen Konfrontationsniveaus siegreich sein wird. Doch die Grundannahme dieser Strategie ist erschüttert. Kann sich Russland wirklich alle Zeit der Welt leisten? Kann die Regelung der Nachfolge von Wladimir Putin, selbst wenn er sich durch einen repressiven und propagandistischen Kraftakt schnell wieder stabilisiert, parallel zu einem laufenden Krieg bewerkstelligt werden?

Wir wissen nicht, was Prigoschin mit seinem „Marsch“ wirklich beabsichtigt hat. Aber eins hat er getan, aus Versehen wurde eine in Moskau längst totgeglaubte Beschäftigung wiederbelebt. Politik ist wieder zurück. Echte Politik, kein Theater.