Präsidentschaftswahlkampf in Russland ist anders. Praktisch alle Vertreter des politischen Establishments ergehen sich in Lobeshymnen auf Wladimir Putin, sekundiert von einer regierungstreuen Medienmacht. Koordiniert wird das Ritual von der mächtigen Präsidialverwaltung, die als Zielvorgabe ein besseres Ergebnis für Putin mit einer gleichzeitig höheren Wahlbeteiligung als beim vergangenen Mal hat. All das ist eine in Jahrzehnten eingespielte Maschinerie. Wer außer Putin auf dem Wahlzettel steht, entscheidet außerhalb der zahmen Systemparteien im Parlament faktisch der Kreml – der nun über die regierungsnahe Wahlkommission keinen solchen Kandidaten zugelassen hat. Dennoch ist die Möglichkeit, geheim auch für andere Kandidaten als den Langzeitpräsidenten abzustimmen, ein wichtiges demokratisches Relikt in Russland und so lohnt sich ein Blick darauf, wer bei der Präsidentschaftswahl vom 15. bis 17. März wählbar ist.

Ein trauriges Bild bieten dabei die Kandidaten der drei Parlamentsfraktionen außerhalb von Putins Machtpartei „Einiges Russland“. Das gilt etwa für die kommunistische KPRF. Diese hatte bei der letzten Wahl 2018 mit Pawel Grudinin noch jemanden ins Rennen geschickt, der Putin so nahe kam, dass er fast schon als ernsthafter Konkurrent gewertet werden musste. Die Kremlmedien mussten ihn im Wahlkampf mit einer Schmutzkampagne überziehen, um seinen Stimmenanteil zu reduzieren. Diese Gefahr besteht 2024 mit Kandidat Nikolai Charitonow nicht. Der greise Staatsduma-Abgeordnete – mit 75 sogar noch vier Jahre älter als Putin – kandidierte bereits 2004 gegen den Amtsinhaber und holte mit lediglich 13 Prozent ein für die damals noch vitalere KPRF mageres Ergebnis. Ansonsten ist er ein recht farbloser Kriegsunterstützer.

Seit Charitonows erster Gegenkandidatur sind die Kommunisten, wie die meisten ihrer Anhänger, um 20 Jahre gealtert. Zuvor vorübergehend von manchen Unzufriedenen als Alternative zu Putins „Einiges Russland“ gesehen, haben sie sich seit dem Beginn der Invasion in der Ukraine an den herrschenden Mainstream in Russland angepasst, kriegskritische Akteure wurden aus der Partei entfernt. Sie haben sich damit zurückgezogen auf ihren vorgesehenen Platz als Nischenheimat für Sowjetnostalgiker. Charitonow, der seine politische Karriere noch selbst in der UdSSR begonnen hat, passt gut in diese Rolle. Dennoch waren viele überrascht, dass die KPRF einen derart schwachen Kandidaten gegen Putin aufstellt, der auch kaum zum Wahlkampf motiviert.

Bekanntere Vertreter der Systemopposition haben keinen Bedarf, in der Öffentlichkeit gegen Putin den programmierten Verlierer zu geben.

Bekanntere Vertreter der Systemopposition haben jedoch keinen Bedarf, in der Öffentlichkeit gegen Putin den programmierten Verlierer zu geben. Dafür spricht auch das Verhalten des Vorsitzenden der Parlamentspartei „Neue Leute“. Sie soll als wirtschaftsliberal geplantes Kreml-Projekt, in Russland „Spoiler“ genannt, bürgerliche Wähler von der liberalen Opposition abwerben. Doch der Vorsitzende, Kosmetikunternehmer Alexei Netschajew, tritt nicht selbst gegen Putin an, sondern schickt den eher unbekannten Historiker und Soziologen Wladislaw Dawankow vor. Der 40-Jährige sitzt erst seit 2021 in der Staatsduma und erzielte bereits bei der Bürgermeisterwahl in Moskau nur 5,3 Prozent der Stimmen. In der Duma beschäftigt er sich mit Gesetzesinitiativen zu Themen wie Parkgebühren oder Elektrorollern.

Durch Dawankow und Charitonow ist das Feld der sicheren Mitbewerber Putins so schwach, dass sich das Kremlumfeld Gedanken macht, die kommende Wahl könnte sich zu offensichtlich als Farce darstellen. Hilfe bekommen die Mächtigen hier von der vom verstorbenen Populisten Wladimir Schirinowski gegründeten Dumapartei LDPR. Diese stellt pflichtgemäß ihren Parteivorsitzenden Leonid Sluzki zur Wahl, einen studierten Wirtschaftswissenschaftler und Vorsitzenden des Außenpolitischen Duma-Ausschusses. Dass dies im Sinne der Mächtigen ist, zeigt sich etwa darin, dass die KPRF sich jüngst in der Russischen Staatsduma beschwerte, Sluzki erhalte in den staatstragenden Medien wesentlich mehr Sendezeit als Charitonow.

Oppositionelles ist von Sluzki nicht zu erwarten. Bereits zu Zeiten, als die Kommunisten noch immer wieder innenpolitisch gegen das Machtumfeld aufbegehrten, zeichnete sich die LDPR trotz Populismus durch vorbehaltlose Unterstützung aller wichtigen Kremlinitiativen aus. Sie lässt sich am besten als Zweig des Machtapparats beschreiben, der Wähler mit Vorlieben für harte und bodenständige Töne abholen soll. Leonid Sluzki ist hier würdiger Nachfolger seines Mentors, des Parteigründers Schirinowski. Im Februar 2023 glänzte er mit der Aussage, im Krieg „gibt es nur eine Partei – die Partei des Sieges“. Skandale um ihn gab es unter anderem wegen Beschuldigungen bezüglich sexueller Belästigung durch russische Journalistinnen und eines steuerlich nicht deklarierten Luxuslebens. Dennoch wird Sluzki durch Fans lauter Töne ein gutes Ergebnis zugetraut. Mit Unterstützung der Kreml-Medien trauen ihm viele Platz 2 hinter Putin zu und damit die Verdrängung der schwachen Kommunisten, die diesen traditionell innehaben.

Neben den Dumaparteien können zusätzlich auch andere Kräfte Präsidentschaftskandidaten nominieren. Doch dieses Jahr scheiterten alle an den Zugangshürden zur Kandidatur. Erwähnenswert ist Boris Nadeschdin. Unter denjenigen, die den ersten Schritt zu einer Kandidatur schafften und zur Unterschriftensammlung zugelassen wurden, war der 60-Jährige der Einzige, der sich kritisch zur russischen Invasion der Ukraine stellte. Diese Zulassung – im Gegensatz zu anderen Kriegskritikern – ist darauf zurückzuführen, dass Nadeschdin sich gemäßigter gibt. Bisher war er mäßig erfolgreich in liberalen Parteien unterschiedlicher Kremlnähe aktiv und kritisiert das System in einem akzeptablen Rahmen, also nicht fundamental.

Von Nadeschdin ist offen zu hören, der Krieg sei ein fataler Fehler Putins.

Von Nadeschdin ist aber offen zu hören, der Krieg sei ein fataler Fehler Putins. So wurde der Physiker und Mathematiker die große Hoffnung derjenigen politisch interessierten Russinnen und Russen, die gegen die Invasion sind oder sie zumindest kritisch sehen. Das dokumentierten lange Schlangen vor den Orten, an denen man nötige Unterstützungsunterschriften für Nadeschdin sammelte. Er will fast die doppelte der nötigen Anzahl an Unterschriften erreicht haben, Schritt 2 für die Kandidatur, was auch realistisch sein dürfte.

Dass er aber nun doch nicht bei der Präsidentschaftswahl antreten darf, liegt an der Menge der von der russischen Wahlkommission bemängelten Unterschriften. Dies führt häufiger zu einer Nichtzulassung zur Wahl und es gibt zahlreiche Indizien dafür, dass die Unterschriften kremlferner Kandidaten wesentlich härter in Frage gestellt werden – notfalls über von der Kommission engagierte Grafologen. Nadeschdin will die Entscheidung trotz geringer Erfolgsaussichten vor Gericht anfechten.

In der deutschsprachigen Debatte wurde Nadeschdin vor dessen Aus unterstellt, er dürfe nur antreten, da er ein U-Boot des Kreml sei. Dabei hätte ein erfolgloser, echter Kriegsgegner durchaus im Interesse des Kreml sein können. Die Wahlbeteiligung würde steigen, zumal die Behörden über ein erprobtes Reservoir an Möglichkeiten verfügen, Ergebnisse zu beeinflussen.

Die Wahl ist eine Volksabstimmung über Putins grundsätzliche Linie, gerade im Hinblick auf den geführten Krieg.

Die Wahl erfüllt auch nicht die Funktion einer echten Auswahl, da Putin als Gewinner gesetzt ist. Stattdessen ist sie eine Volksabstimmung über Putins grundsätzliche Linie, gerade im Hinblick auf den geführten Krieg. Es ist dem Kreml bewusst, dass die diesbezügliche Aussagekraft nun gering ist bei einer Wahl zwischen Kandidaten, die weitgehend dieser Linie folgen. Dass man Nadeschdin dennoch stoppte, nachdem er von erstaunlich vielen Russinnen und Russen Unterstützung bekam, ist ein Zeichen von Schwäche und Nervosität. Trotz Übermacht überwiegt die Angst, mit einer echten Alternative zur eigenen Agenda die Kontrolle über den Wahlvorgang zu verlieren. Dann lieber ein Ritual.