Der Oligarch Jewgeni Prigoschin wirkte in der Vergangenheit wie eine düstere, geheimnisvolle Gestalt aus den Tiefen der Kreml-Geheimnisse. So ist er für die russische Regierung schon lange ein Ansprechpartner für „Jobs“, die im halboffiziellen Graubereich stattfinden – etwa Söldneraufgaben in Syrien oder Afrika oder bereits zuvor der Betrieb der Petersburger Trollfabrik mit einem Netzwerk aus Scheinmedien und Desinformations-Maschinerie. Da seine Söldnerarmee PMC Wagner (Private Military Company), zu der er sich erst sehr spät offen bekannte, in immer mehr Kriegen erhebliche Kampferfahrung sammelte, wuchs Prigoschins persönliche militärische Macht immer weiter an. Die Wagner-Kämpfer waren seine persönlichen Soldaten. Das sollte sich auch bei dem nun von Prigoschin angeführten Militäraufstand zeigen, als sie auf seinen Befehl sofort die Großstadt Rostow besetzten, auf Moskau vorrückten und Befehle der russischen Behörden, Prigoschin zu verhaften, schlicht ignorierten. Da Wagner die größte in Russland beheimatete Söldnerformation ist – laut Britischem Verteidigungsministerium wuchs sie im Januar auf bis zu 50 000 Soldaten an –, machte sie Prigoschin zu einem Machtfaktor in Russland.

Doch während ihm im Ausland aufgrund seiner geheimnisvollen Aura ein hohes Maß an Macht zugesprochen wurde, zeigt sich diese in der Realität bei weitem nicht so umfassend. So ist der Pool an den von ihm kontrollierten Medien wesentlich kleiner, als der von „Geschäftsleuten aus Putins wirklich engem Umfeld“, was der russische Journalist und Kremlkenner Andrej Perzew nach Kriegsbeginn in einer Analyse feststellte. Bei Umfragen zu den wichtigsten Politikern in Russland tauchte sein Name in den Ergebnissen nie auf, seine früheren Aufrufe zu einer allgemeinen Mobilmachung stießen bei den Russen auf keinerlei Gegenliebe.

Auch für Putin genoss die Interaktion mit Prigoschin bis zu seinem offenen Aufstand nie eine Sonderstellung. Der Oligarch stand dem Staatsoberhaupt nach Ansicht der russischen Politologin Tatjana Stanowaja nie so nahe, dass er ihm ein wichtiges politisches Amt anvertraut hätte. Prigoschins Aufgaben blieben stets informell, er nutzte die Nischen, die offizielle Staatsorgane nicht ausfüllen konnten oder wollten. In die erste Reihe der russischen Politik wurde er nie integriert.

Prigoschin wurde nie in die erste Reihe der russischen Politik integriert.

Doch gerade diese fehlende Integration führte zum Entstehen einer für das Gesamtgefüge der russischen Macht gefährlichen Doppelstruktur. Prigoschin inszenierte sich zunehmend als Gegen-Elite, obwohl er dieser Gesellschaftsschicht selbst entstammt, und trug zunehmend Machtkämpfe mit der offiziellen Militärhierarchie rund um das russische Verteidigungsministerium aus. Das gelang auch, weil er offiziell immer „Privatmann“ blieb, ohne Amt in den Spitzen der Macht. Die militärische Machtspitze versuchte, die Situation unter Kontrolle zu bringen, indem es alle Freiwilligeneinheiten wie Wagner mit vertraglichen Strukturen wieder dem eigenen Kommando unterordnen wollte. Prigoschin verweigerte sich. Doch auch hier zeigte sich seine politische Isolation und Schwäche innerhalb des russischen Apparats. Alle übrigen Führer derartiger Einheiten, etwa der Tschetschenische Machthaber Ramsan Achmatowitsch Kadyrow, beugten sich der Anordnung. Putin selbst sprach zugunsten seines – von Prigoschin immer wieder attackierten – Verteidigungsministers Schoigu ein Machtwort und bezeichnete die Vertragsschließungen als notwendig.

Somit entstand eine Situation, die auch für Prigoschin als Person gefährlich werden konnte, und es kam zu seinem, für alle Beobachter überraschenden, Aufstand. Nach harter Kritik an der gesamten Kriegsführung in der Ukraine mobilisierte er seine Söldner, nahm im Handstreich das Hauptquartier der russischen Südstreitkräfte in Rostow ein und schickte eine Vorausabteilung der PMC-Wagner-Kämpfer auf den Weg nach Moskau: ein offener Militäraufstand.

Beim Wagner-Aufstand zeigte sich sofort die große Diskrepanz zwischen Prigoschins militärischem und seinem politischen Einfluss.

Doch auch hier zeigte sich sofort die große Diskrepanz zwischen Prigoschins militärischem und seinem politischen Einfluss. Seine Soldaten standen rasch 200 Kilometer vor Moskau, zerstörten unterwegs bereits ersten Widerstand von Regierungstruppen, indem sie beispielsweise drei Hubschrauber und ein Flugzeug vom Himmel schossen. Seine Söldner folgten bedingungslos seinem Befehl, verweigerten Prigoschins vom Inlandsgeheimdienst FSB angeordnete Verhaftung und sicherten die Macht in Rostow mit einer massiven Militärpräsenz ab.

Doch genauso zeigte sich sein fehlender politischer Einfluss. Reihenweise ergingen sich regionale Gouverneure in Treuebekundungen zu Putin, Kadyrow stellte sogar Truppen zur Verfügung, die die PMC Wagner aus Rostow zurückdrängen sollten. Niemand aus dem Umfeld der Präsidialverwaltung äußerte in dieser Situation Kritik an der Führung – man vereinte sich hinter dem Kreml. Prigoschin handelte militärisch schnell und verschaffte sich so gegenüber dem trägen Staatsapparat situative Vorteile. Doch es war klar, dass sich bei einem längeren bewaffneten Konflikt der gebeutelte Apparat konsolidieren würde und Prigoschin beim Scheitern seines Aufstands ein schneller Tod oder eine lange Haft drohte.

Dass der Kreml es trotzdem nicht darauf ankommen ließ und den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko mit einer Vermittlung beauftragte, lag wiederum an militärischen Unsicherheiten. Denn niemand wusste, inwiefern kriegsmüde russische Armeeeinheiten wirklich die Söldner-Landsleute bekämpfen oder sogar teilweise überlaufen würden. Auch nach Rostow hatten die Wagner-Kämpfer ja ohne nennenswerten Widerstand einrücken können und keiner wusste, wie viele Militärs seinen Anti-Establishment-Populismus teilen. Das schnelle Ende der Revolte brachte zudem oberflächlich ein zentrales Element zurück ins russische Hinterland, das ein zentrales Element der Herrschaft Putins ist: Stabilität.

Der Aufstand wird einen bleibenden Schaden für das System Putin hinterlassen.

So zogen sich beide Seiten mit einer wahren Blitzeinigung aus der Affäre. Prigoschin konnte mit von Putin garantiertem freien Geleit nach Belarus ausreisen, seine Gefolgsleute erlangten Straffreiheit und zogen sich in den Rückraum des Kampfgebietes des Donbass zurück. Eine Unsicherheit verbleibt für den Oligarchen durch den Umstand, dass er noch „heimlich“ getötet werden könnte. „Das ist der Stil der aktuellen Regierung“, stellt dazu der Historiker Nikolai Swanidse fest. Auch der FSB scheint noch gegen Prigoschin zu ermitteln. Aber all das ist besser, als der fast sichere Tod, der ihm und vielen seiner Männer bei einer Fortsetzung des Aufstands gedroht hätte.

Für den Kreml bedeutete dieses Vorgehen eine Schadensbegrenzung, auch wenn das Image, Garant für Sicherheit und Stabilität in Russland zu sein, in Mitleidenschaft gezogen wurde. Prigoschin erreichte dadurch mehr, als er sich vorher erhoffen konnte – alleine schon dadurch, dass er unbeschadet ins Ausland entkam. 

Einen bleibenden Schaden wird der Aufstand jedoch für das System Putin hinterlassen. So erklärt Maxis Trudoljubow, Chefredakteur der exilrussischen Zeitung Meduza, dass Prigoschin und seine Wagner-Armee Putins persönliches Projekt waren. So nutzte Putin ihn auch im Krieg gegen die Ukraine dazu, die in seinem persönlichen Feldzug erfolglosen Generäle zu demütigen. Durch den „PMC-Aufstand“ wurde nun jedoch, trotz seiner kurzen Dauer, die Verletzlichkeit des Putin’schen Machtsystems offengelegt.