Die Wahl von Humza Yousaf als Nachfolger von Nicola Sturgeon als Chef der Scottish National Party (SNP) markiert einen massiven Einschnitt in die politische Landschaft in Schottland. Nach Alex Salmond, der die Partei 2007 im schottischen Parlament erstmals an die Macht führte, und Sturgeon, die ab 2014 für die weiteren Wahlerfolge stand, verändert das nicht nur die Situation für die SNP selbst. Der aktuelle Umbruch der politischen Debatte im Land wird sich ebenfalls beschleunigen. Vier Lehren aus der Wahl.

Erstens: Die verschiedenen Flügel der SNP werden mehr Sichtbarkeit behalten. Der letzte offene Wettbewerb um den Parteivorsitz der SNP fand 2004 statt. Insofern führte die Auseinandersetzung der letzten Wochen einer breiten Öffentlichkeit das erste Mal seit Langem vor Augen, wie tief teilweise die Gräben zwischen verschiedenen Flügeln der Partei sind. Mit dem durchgängigen Erfolg bei Wahlen und der starken Führungsrolle von Nicola Sturgeon trat die SNP meist nach außen geschlossener auf, als sie es intern war. Während die Parteiführung in den letzten Jahren vermehrt auf sozial-liberale Reformen (wie das Geschlechterselbstbestimmungsrecht ab 16) gesetzt hat, widersprach dies den Ansichten einer substantiellen Minderheit der Mitglieder, die eher sozial-konservativ eingestellt sind. Während die SNP klar als Pro-EU-Partei auftritt, gibt es nach wie vor eine signifikante Minderheit, die sich ein unabhängiges Schottland außerhalb der EU wünscht.

Die Spaltung innerhalb der Partei wird deutlich.

Yousaf konnte sich als Kontinuitätskandidat durchsetzen, der grundsätzlich an der bestehenden Strategie festhalten will. Mit nur 52 Prozent der Stimmen in der zweiten Wahlrunde wird jedoch die Spaltung innerhalb der Partei deutlich. Die bisherige Finanzministerin Kate Forbes, welche knapp auf dem zweiten Platz landete, wollte die Partei wieder stärker so positionieren, wie Alex Salmond es einst tat – nämlich als Partei der Mitte. Forbes stand für einen Fokus auf Wirtschaftswachstum mit starker Industriepolitik und sozialem Ausgleich. Yousaf will hingegen Vermögen und höhere Einkommen stärker besteuern. Während Forbes Kritik für ihre freikirchlich geprägten Ansichten bekam, insbesondere in Bezug auf die gleichgeschlechtliche Ehe und Transrechte, steht Yousaf für eine konsequente Weiterentwicklung der bestehenden sozial-liberalen Agenda. Jene 48 Prozent, die Forbes unterstützen, werden sie kaum zur Aufgabe der Diskussion bewegen. Im Gegenteil, sie haben nun mehr Sichtbarkeit. Die SNP wird von nun an das Schicksal erfahren, dass Parteien mit 40 bis 50 Prozent Stimmenanteil bei Wahlen oft widerfährt: Richtungsstreits werden nicht nur intern, sondern vermehrt auch öffentlich ausgetragen.

Zweitens: Der Weg zur Unabhängigkeit bleibt umstritten – und wird steiniger. Eine der stärksten Auseinandersetzungen im Rennen um die SNP-Führung betraf die Frage, wie das wichtigste Anliegen der Partei, die schottische Unabhängigkeit, erreicht werden sollte. Druck übte vor allem die Drittplatzierte aus, Ash Reagan, die dabei eine selbstbewusstere und härtere Gangart einforderte. Diese Meinung vertritt eine relevanter Teil der Unabhängigkeitsbewegung – auch über die SNP hinaus –, der sich stärker von den Beschränkungen in Westminster absetzen will. Yousaf hingegen verfolgt, ähnlich wie Sturgeon, einen Mittelweg, der eine rechtlich verbindliche Abstimmung als zentrales Ziel hat, aber auf leicht steigende Eskalation mit der Regierung in London setzt.

In der Bevölkerung verschieben sich die Prioritäten.

Damit steht der zukünftige Ministerpräsident und Parteichef von zwei Seiten unter Druck. Einerseits werden Gruppen wie die kleine sozial-konservative Unabhängigkeitspartei Alba, die sich unter Leitung von Alex Salmond von der SNP abgespalten hat, sowie Teile innerhalb der eigenen Partei kontinuierlich mehr von Yousaf einfordern. Er will zwar einen Staatssekretär für die Unabhängigkeitsvorbereitung ernennen, das wird diese Kräfte jedoch kaum zufrieden stellen. Andererseits verschieben sich jedoch gerade in der Bevölkerung die Prioritäten. Während nach wie vor ein großer Teil der Menschen in Schottland die Unabhängigkeit unterstützt (zuletzt im Schnitt etwas unter 50 Prozent), ist der Anteil derer kleiner geworden, die sich unmittelbar ein Referendum dazu wünschen.

Drittens: Die Opposition wird Yousaf mit Sachthemen verstärkt unter Druck setzen. Die oppositionellen Parteien im schottischen Parlament (Labour, Conservatives und Liberal Democrats) haben sich auch schon seit Wochen auf die Bilanz der Regierung eingeschossen. Neben der umstrittenen Reform zur Geschlechteridentität, werden sie aktuell nicht müde zu betonen, welche selbstgesteckten Ziele die SNP in den Bereichen Bildung (z.B. Klassengrößen), Inneres (z.B. Drogenkriminalität) und Infrastruktur (z.B. Anbindung der schottischen Inseln) verfehlt hat. Der neue Ministerpräsident steht dabei besonders im Mittelpunkt. Als Justizminister war er seit 2018 federführend bei äußerst kontroversen Antidiskriminierungsgesetzen, die teils handwerklich nicht gut vorbereitet waren. Als Gesundheitsminister musste er zuletzt Rede und Antwort stehen, warum momentan bei Wartezeiten für viele Behandlungen die Zielmarken immer wieder gerissen werden.

Die oppositionellen Parteien haben sich schon seit Wochen auf die Bilanz der Regierung eingeschossen.

Für Yousaf wird es hier nicht ausreichen zu betonen, dass er die Verantwortung für das Gesundheitssystem in der Pandemie übernehmen musste. Denn ab jetzt wird ihm alles direkt zugeschrieben werden, was als Verfehlung der SNP-Regierung aus den letzten 16 Jahren wahrgenommen wird. Schon vor sechs bis sieben Jahren konnte die Opposition bereits mit Kritik an den Ergebnissen des Regierungshandelns punkten. Kurzzeitig stiegen sogar die Kompetenzwerte für Scottish Labour unter der damaligen Parteichefin Kezia Dugdale bei mehreren Sachfragen deutlich an, bei den Unterhauswahlen 2017 verlor die SNP signifikant an Stimmen. Doch mit dem voranschreitenden Brexit verschob sich der Fokus wieder auf die Verfassungsfrage, andere Sachthemen wurden teilweise überlagert.

Viertens: Die sich verändernde politische Gesamtlage stellt die SNP vor eine große Herausforderung. Es ist noch nicht ausgemacht, ob sich dieses Mal durch Sachkritik die Stimmung – ohne eine neue gesamtbritische Verfassungskrise – nachhaltig gegen die SNP entwickelt. Nach wie vor liegt die Partei in schottischen Umfragen mit Abstand vorne. Labour hat zwar etwas aufgeholt, aber bisher vor allem im unionistischen Lager von den Konservativen Stimmen gewonnen. Zudem kann sich Yousaf noch immer durch schottische Maßnahmen, wie die Unterstützung für junge Familien, von der Regierung Rishi Sunaks abgrenzen. Die Frage ist aber, was passiert, wenn die Konservativen in Westminster bei den nächsten Unterhauswahlen abgelöst werden sollten und Keir Starmer mit der LabourParty dort die Regierungsgeschäfte übernimmt. Würde Labour auch in Schottland einen Auftrieb erhalten und die Minderheit ihrer Wählenden, welche die Unabhängigkeit unterstützen, vergrößern können? Oder würde die Zustimmung für die Unabhängigkeit sogar ganz fallen, wenn die Konservativen nicht mehr als Feindbild in London existieren?

Darüber lässt sich aktuell nur spekulieren. Klar ist jedoch, dass Yousaf eine Partei und Regierung von Nicola Sturgeon übernimmt, die  eine Vielzahl von Herausforderungen gleichzeitig vor sich hat. Diese muss der neue Parteichef und Ministerpräsident ohne die Strahlkraft seiner Vorgängerin, aber mit einer nach außen weniger geschlossenen Partei  angehen, während sich die politische Lage im Vereinigten Königreich insgesamt im Fluss befindet. Für den 37-Jährigen, die schottische Unabhängigkeitsbewegung und die Scottish National Party selbst  werden die nächsten Jahre die herausforderndsten sein, seitdem sie an die Regierung gekommen sind.