„Respice finem“ – Bedenke das Ende. Diese Ermahnung aus einer mittelalterlicher Sagensammlung zu klugem und zielorientiertem Handeln sollten wir uns stets zu Herzen nehmen. Erst recht im Fall des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands, der nun schon seit Monaten viel Tod und Leid über die Ukraine sowie ihre Bevölkerung bringt und sowohl die sozialdemokratische Friedenspolitik als auch die europäische Außen- und Sicherheitspolitik ernsthaft auf den Prüfstand stellt.

Ein Ende der Kämpfe, die Rückeroberung aller besetzten Gebiete, der Sieg der Ukraine scheinen leider immer noch nicht in Sicht. Im Gegenteil, die russische Mobilmachung, die anhaltenden Luftangriffe auf ukrainische Städte, der Ankauf iranischer Waffen und das Verhängen des Kriegsrechts lassen vermuten, dass Putin und der militärisch-industrielle Komplex im Kreml sich auf einen längeren, brutalen Stellungskrieg einstellen.

Ist dann jetzt schon der richtige Zeitpunkt, über ein Ende des Krieges nachzudenken? Dürfen wir dies als Deutschland überhaupt? Ich meine: Wir müssen sogar. So unangenehm es auch sein mag, es ist notwendig, eine konstruktive Vorstellung davon zu entwickeln, wie wir auf absehbare Zeit auch mit unseren Feinden zumindest friedlich koexistieren können.

Wir haben es nicht nur mit einem Krieg zu tun, der allein diese zwei Länder betrifft. Wenn die Ukraine aber in diesem Abwehrkrieg auch die Demokratie in Europa, die europäische Sicherheitsarchitektur und die Prinzipien der internationalen Ordnung verteidigt, so ist auch der Ausgang dieses Krieges nicht nur für diese zwei Länder von Bedeutung, sondern für ganz Europa – vielleicht auch den gesamten Globus.  

Dabei ist klar, die Weltordnung nach dem Krieg darf nicht auf einem der Ukraine aufgezwungenen Diktatfrieden gründen. Auch nicht darauf, dass die Ukraine einen Teil ihres Staatsgebiets in der Hoffnung aufgibt, dass Putin dann endlich die Ukraine und alle Nachbarländer in Ruhe lässt. Deshalb bleibt das Ziel: Putins Russland darf nicht siegen. Die Entscheidungen, die einzig und allein die Ukraine als freies und unabhängiges Land treffen darf, können wir ihr als Westen nicht abnehmen. Wir dürfen nicht diktieren, aber wir müssen strategische Visionen entwickeln.

Deshalb bleibt das Ziel: Putins Russland darf nicht siegen.

Es ist zugegebenermaßen schwer, sich derzeit ernsthafte konstruktive Gedanken über die Zukunft eines Landes zu machen, das von einem Kriegsverbrecher geführt wird, der aufs Völkerrecht pfeift, bereit war, ein freies und unabhängiges Land zu zerstören und ihre Zivilbevölkerung zu töten, in seinem eigenen Land junge und kampfunerfahrene Menschen zu mobilisieren und sie für seine krankhaften Fantasien von einem Großrussland in den Grenzen des alten Zarenreichs zu opfern.

Es mag manchem verständlich erscheinen, sich gemeinsam mit der Ukraine nach all der Brutalität ein am Boden liegendes Russland zu wünschen, von dem nie wieder eine Kriegsgefahr ausgehen kann. Aber kann es wirklich im Interesse der Ukraine und im europäischen Interesse liegen, einen Nachbarn zu haben, der wirtschaftlich ruiniert und ausgegrenzt ist und somit anfällig für weitere undemokratische Bewegungen und Herrscher ist? Ein Land, in dem sich keine Demokratie entwickeln und festigen kann und wo jederzeit eine erneute Etablierung eines faschistoiden oder kleptokratischen Regimes droht? Dies scheint kein erfolgreiches Rezept zu sein, um uns den ersehnten Frieden in Europa zu bringen.

Im Gegenteil, einem langfristigen Frieden ist ein demokratisches und prosperierendes Russland viel zuträglicher. Nicht umsonst hat die EU in ihrem Grundlagendokument zur Nachbarschaftspolitik an prominenter Stelle deutlich gemacht, dass „Wohlstand und Frieden in der Nachbarschaft der EU“ von entscheidender Bedeutung für unsere eigene Stabilität sind.

Entgegen aller Unkenrufe ist an unserer sozialdemokratischen Friedens- und Entspannungspolitik kaum etwas auszusetzen. Die Befreiung Polens, des Baltikums und vieler ehemaliger Sowjetrepubliken und auch das geeinte Deutschland wären ohne sie nicht denkbar. Kein Grund also, mit gesenktem Kopf herumirren zu müssen. Der Grund, warum wir diese bisher 70 Jahre lang erfolgreiche Politik nun auf den Prüfstand stellen müssen, liegt in dem Umstand, dass wir uns orientierungs- und prinzipienlos in der neoliberalen Phase durch die Industrie treiben ließen.

Hinzu kommt die Tatsache, dass wir es auf der anderen Seite nicht mehr mit denselben Partnern zu tun hatten – nicht mehr mit einem kontrollierenden Politbüro im machtpolitischen Gleichgewicht, mit Gorbatschows Sowjetunion, Jelzins Russland oder Putins Russland, wie wir es noch aus seiner Rede 2001 im Deutschen Bundestag verstehen wollten. Die naive Fehleinschätzung von Putins totalitärer Herrschaft nach dem Georgienkrieg 2008 und die ausgebliebene Unterstützung der demokratischen Kräfte in Russland waren unsere offensichtlichen Fehler.  

Die naive Fehleinschätzung war unser offensichtlicher Fehler.  

Trotzdem gilt: Bedenke das Ende. Das Ziel darf nicht die Zerstörung Russlands sein, sondern ein demokratisches Russland ohne Putin. Auch wenn dies in der nahen Zukunft nicht zu verwirklichen ist. Deshalb müssen wir heute jede noch so kleine demokratische, zivilgesellschaftliche Anstrengung unterstützen. Und wenn die Situation es endlich erlaubt, müssen wir die Demokratisierung der russischen Zivilbevölkerung offensiv ausbauen, auch wenn an einen baldigen regime change derzeit nicht zu denken ist. Woher sollten sonst die Impulse für ein demokratisches, „post-putinsches“ Land kommen?

Für ein Russland, das in den Kreis demokratischer Staaten zurückkehrt, braucht es eine europäische Demokratieförderung, mit der wir den Aufbau funktionierender demokratischer Strukturen nach den Verirrungen der großrussischen Ideologie und dem faschistischen Irrweg Putins wieder langfristig unterstützen. Dabei ist nicht nur die Unterstützung der demokratischen Bewegungen und der Kampf gegen Korruption und Kleptokratie entscheidend. Genauso wichtig ist die Hilfe bei Aufbau und Festigung der Zivilgesellschaft und des interkulturellen Austauschs unter Jugendlichen, Studierenden sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Ebenso notwendig ist die Unterstützung der russischen Initiativen zur Umweltrettung sowie beim Kampf gegen die Klimaerwärmung, die Methankatastrophe oder radioaktive Fallouts durch veraltete Atomkraftwerke.

Es liegt auch in unserem gemeinsamen europäischen Interesse, dass Russland nach Putin wirtschaftlich wieder auf die Beine kommt. Außerhalb der Großstädte hat das Regime das Land teilweise erbarmungslos verarmt. Veraltete Industriestrukturen, niedrige Lebenserwartungen, Perspektivlosigkeit: An vielen Orten haben sich die putinschen Wachstumsversprechen als potemkinsche Dörfer erwiesen.

Daher müssen wir Russland nach Putin auch beim Aufbau einer zukunftsfähigen industriellen Infrastruktur unterstützen, wenn nämlich seine fossilen Rohstoffe (Öl, Gas) nicht mehr nachgefragt werden. Wie überall in Europa brauchen auch die Menschen in Russland eine positive Vision von einer prosperierenden Zukunft. Wenn Öl und Gas nicht nur wegen der negativen Klimafolgen wegfallen, wie sähe es denn mit der Wasserstoff-Produktion in Russland aus? Eignen sich die großen Flächen Russlands für die Produktion von erneuerbaren Energien aus Wind, Wasser, Sonne und Biomasse?

Wir sollten uns ein Ende des Krieges vorstellen, in dem nicht nur die unmittelbaren Fragen nach ukrainischen Reparationsforderungen oder nach der Verfolgung russischer Kriegsverbrecher gelöst sind, sondern auch ein Weg, wie wir ein demokratisches Russland an eine europäische Sicherheitsstruktur anbinden können. Auch wichtig sind Überlegungen, wie Russland einen konstruktiven Beitrag zur Erreichung unserer gemeinsamen Klimaziele leisten kann.

Europa braucht die Russinnen und Russen, die sich schon nach der Perestroika eine ehrliche und positive Entwicklungsperspektive – sozial, ökonomisch und ökologisch – gewünscht haben, in Frieden und in Freiheit. Ebenso die Jüngeren, die sich wünschen, in einem demokratischen und freien Land zu leben. Putin ist 70, allein aus biologischen Gründen brauchen wir eine Vision für die Zeit nach ihm. An diesen Zielen müssen wir unsere heutigen politischen Entscheidungen für eine Zukunft der Ukraine und Russlands ausrichten.