Vor fünf Jahren zitterte ganz Deutschland monatelang und fragte sich – und ich gelegentlich auch mich –, ob Frankreich davor stehe, von einer Rechtsextremistin als Präsidentin geführt zu werden, die bald den „Frexit“ anordnen würde. Ein Austritt Frankreichs aus der EU hätte zu einer Implosion der Union und zu einer Eiszeit der deutsch-französischen Beziehungen geführt. Dazu kam es bekanntlich nicht. Emmanuel Macron siegte bei der Stichwahl 2017 mit einer Zweidrittelmehrheit gegen Marine Le Pen.
Eine regelrechte „Macronmania“ machte sich anschließend in Deutschland breit. Nach den Panikattacken vieler Deutschen vor einem möglichen Sieg Le Pens war die Erleichterung groß. Das quinquennat – die fünfjährige Amtszeit – von François Hollande hatte nur mäßig überzeugen können. Der neue smarte Staatschef versprach einen neuen Elan für sein Land und für Europa. Die geschickte Inszenierung am Wahlabend vor einem Nationalheiligtum, dem Louvre, aber mit der Europahymne als Untermalung hatte Symbolcharakter. Die kühle Angela Merkel wurde beim Antrittsbesuch des neuen französischen Präsidenten in Berlin für ihre Verhältnisse überschwänglich und zitierte Hermann Hesse: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“
Wie häufig in Europa bedurfte es einer Krise, damit schneller Kompromisse und Reformen gefunden und umgesetzt werden konnten.
Der Zauber hielt sich dann bekanntlich stark in Grenzen. Während die französische Politartillerie Deutschland und die EU mit zig neuen Vorschlägen überflutete, bunkerte sich Angela Merkel ein. Berlin schwieg. Paris erhielt keine Antwort. Das vielversprechende Europa-Kapitel des Koalitionsvertrags der neuen deutschen Regierung blieb zunächst reine Theorie. Die Macronmania ließ auch außerhalb des Kanzleramts nach. Bei der CDU-CSU wurden schnell kritische Stimmen laut. Noch im Frühjahr 2017 titelte „Der Spiegel“: „Ein teurer Freund: Emmanuel Macron rettet Europa… und Deutschland soll zahlen.“ Das Nachrichtenmagazin hat erfahrungsgemäß noch nie durch Frankophilie geglänzt.
Wie häufig in Europa – und demzufolge auch zwischen Frankreich und Deutschland – bedurfte es einer Krise, damit schneller Kompromisse und Reformen gefunden und umgesetzt werden konnten. Die Corona-Pandemie mit ihren dramatischen wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen führte zu einem Umdenken. Deutschland opferte eine heilige Kuh auf dem europäischen Altar und akzeptierte zum ersten Mal eine Vergemeinschaftung von Schulden in der EU: Der Wiederaufbaufonds, basierend auf einer deutsch-französischen Initiative, war geboren. Dieser deutsche „Tabubruch“ erfolgte ohne nennenswerte Diskussionen in Deutschland. Ich musste mir wie viele die Augen reiben. Zugegeben, die Christdemokraten, angeführt von Angela Merkel, wurden nicht müde zu betonen, dass es bei dieser einmaligen Ausnahme bleiben sollte.
Nicht nur bei industriellen Fragen ist die Dringlichkeit einer größeren Souveränität der EU zum Konsens geworden.
Darüber hinaus konnte man feststellen, dass viele deutsche Wirtschaftsexperten und Politikerinnen sich von klassischen ordoliberalen Vorstellungen verabschiedeten. Die notwendige Rolle des Staates bei großen Investitionen und bei politisch strategischen Projekten gilt nicht mehr per se als verdächtig. Der Begriff „Industriepolitik“ ist kein Schimpfwort mehr. Das merkt man in Deutschland, aber auch im bilateralen Verhältnis mit Frankreich: In den letzten Jahren sind wichtige gemeinsame Initiativen, zum Beispiel zur Herstellung von Autobatterien, entstanden, die die Souveränität Europas gewährleisten sollen. Der Begriff der Souveränität zieht sich wie ein Faden durch die erste Amtszeit von Emmanuel Macron. Mittlerweile wurde er auch in den deutschen politischen Diskurs übernommen. Für die europäische Union ist er aktueller denn je.
Nicht nur bei industriellen Fragen ist die Dringlichkeit einer größeren Souveränität der EU zum Konsens geworden. Dies gilt jetzt besonders wegen des Ukraine-Krieges in Energiefragen. Frankreich und Deutschland verfolgen zwei entgegengesetzte Ansätze, die regelmäßig zu Missverständnissen und Reibungen führen. Die Rolle des Atomstroms in Frankreich führt zu einer geringeren Abhängigkeit gegenüber Russland. Die deutsche Energiepolitik wird in Frankreich seit langem mit Argwohn betrachtet. Nun verfolgt man gebannt, wie sich ein grüner Wirtschafts- und Klimaminister bemüht, in einem rasenden Tempo die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren und dabei viele Grundprinzipien seiner Partei opfert. Vielleicht werden die Pläne einer gemeinsamen EU-Einkaufstour in Sachen Energie helfen, nationale Alleingänge und Divergenzen in diesem Bereich zu reduzieren.
Die größere Übereinstimmung zwischen Deutschland und Frankreich, spätestens seit dem Amtsantritt der Ampelkoalition, könnte für die Zukunft dazu beitragen, gemeinsame und europäische Vorschläge voranzutreiben.
Die größere Übereinstimmung zwischen Deutschland und Frankreich, spätestens seit dem Amtsantritt der Ampelkoalition, könnte für die Zukunft dazu beitragen, gemeinsame und europäische Vorschläge voranzutreiben. Dies setzt voraus, dass Emmanuel Macron wiedergewählt wird. In weniger als zwei Wochen, am 10. April, findet der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen statt. Der Vorsprung des Amtsinhabers vor seinen Konkurrenten ist seit Monaten stabil. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs ist er sogar noch etwas größer geworden. Zurzeit werden pro Tag mehrere Umfragen unter den Wählerinnen und Wählern durchgeführt. Sie alle deuten auf ein „Remake“ von 2017 hin, mit einer Stichwahl zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen. Es ist davon auszugehen, dass Präsident Macron am 24. April für weitere fünf Jahre gewählt wird – auch wenn sein Vorsprung im Vergleich zu 2017 vermutlich schmelzen wird. Im Juni werden in Frankreich noch Parlamentswahlen abgehalten werden. Danach wird voraussichtlich erstmal eine Periode der Stabilität für das deutsch-französische Tandem anbrechen. Bis zur nächsten Wahl.