In der Wirklichkeit geschehen immer wieder Dinge, die sich kein Drehbuchautor ausdenken kann. So auch die erzwungene Landung des Ryanair-Flugs 4978 in Minsk. Dabei ging es nicht nur darum, den Journalisten Roman Pratassewitsch festzunehmen, sondern auch, ein Drohsignal an alle Bürgerinnen und Bürger des Landes zu schicken. Niemand ist sicher. Der Arm des KGB ist lang. Jeder und jede müssen mit Verfolgung und Verhaftung rechnen.
Sanktionen gegen Belarus sind nach der beispiellosen Flugzeugentführung das Gebot der Stunde. Ziel muss es sein, das Regime und seine Schergen persönlich, politisch und wirtschaftlich hart zu treffen. Doch solange vor allem Russland, aber auch die Ukraine, Kasachstan, China, Indien oder Brasilien nicht mitziehen, ist nicht davon auszugehen, dass die Sanktionen zu Verhaltensänderungen bei Alexander Lukaschenko führen werden.
Dennoch sind sie angesichts der von Lukashenko betriebenen Eskalation eine notwendige Bestrafung des Regimes und ein Signal der moralischen Unterstützung für die Opposition. Aber sie ändern zumindest kurzfristig nichts an den Machtverhältnissen. Letztendlich verstärken sie die belarusische Abhängigkeit von Russland, und es ist anzunehmen, dass Putin eine solche Chance zur Festigung des russischen geopolitischen Einflusses ungeachtet der damit verbundenen finanziellen Kosten nutzen wird.
Deshalb muss die Isolierung des Regimes von einer Öffnung Europas für die belarusische Bevölkerung begleitet sein. Die Menschen müssen hier und jetzt erfahren, dass Europa an ihrer Seite steht und ihnen hilft. Das Versprechen von Kommissionspräsidentin von der Leyen, ein demokratisches Belarus mit drei Milliarden Euro unterstützen zu wollen, hilft da in der momentanen Situation nicht wirklich. Wenn die Protestbewegung die politische Kraft hätte, Lukaschenko zu stürzen, würde sie dies auch ohne die drei Milliarden tun, und solange der Sicherheits- und Repressionsapparat loyal zum Diktator steht, hilft auch ein Milliardenversprechen aus Brüssel nicht.
Die von der EU und einzelnen Mitgliedsstaaten auf den Weg gebrachten Unterstützungsprogramme für die belarusische Zivilgesellschaft, die Unterstützung unabhängiger Medien und Stipendienprogramme für belarusische Studierende sind wichtige Sofortmaßnahmen. Doch angesichts dessen, dass der KGB gleichsam von Haus zu Haus geht, um Demokratieaktivisten einzuschüchtern, zu verfolgen und zu verhaften, braucht es ein stärkeres europäisches Signal, dass wir sie nicht alleine lassen. Dass die Tür nach Europa offen ist und Menschen bei uns willkommen sind, die mutig für Demokratie und Freiheit eintreten.
Nichts delegitimiert eine Regierung mehr als wenn ihr das Volk abhandenkommt.
Solange Lukaschenko den Belarusen das Wahlrecht verwehrt, sollte Europa ihnen die Möglichkeit geben, mit den Füßen abzustimmen. Die Abwanderung von Spezialisten und Fachkräften dürfte zudem die belarusische Volkswirtschaft stärker und nachhaltiger treffen als alle anderen Wirtschaftssanktionen. Nichts delegitimiert eine Regierung mehr als wenn ihr das Volk abhandenkommt. Gleichzeitig würde ein solches Angebot den Menschen Schutz bieten, die wegen ihrer Beteiligung an den Protesten gegen Lukaschenko in ständiger Angst vor den Sicherheitsorganen leben.
Die EU oder einzelne Mitgliedsstaaten in unmittelbarer oder mittelbarer Nachbarschaft, wie Polen oder Deutschland, sollten den Menschen aus Belarus, solange Lukaschenko an der Macht ist, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse aus humanitären Gründen gewähren. Als Sofortmaßnahme sollte ein Kontingent von mindestens 100 000 Plätzen bereitgestellt werden. Eine schnelle Arbeitsaufnahme sollte durch entsprechende Sprach- und Eingliederungshilfen ermöglicht werden.
Die Öffnung böte vielen Belarusinnen und Belarusen in dieser schwierigen Situation konkrete Hilfe und eine persönliche Zukunftsperspektive. Eine solche Solidarität ist nicht nur aus humanitären Gründen geboten, sie verhindert zudem eine ungewollte Isolierung der Menschen von Europa als Folge der Sanktionen.
Damit diese Soforthilfe nicht zur dauerhaften Abwanderung der besten und klügsten Köpfe führt, ist sie von vornherein zeitlich zu beschränken und mit Rückkehrhilfen in ein demokratisches Belarus zu verbinden. Statt der Gefahr eines langfristigen Braindrains kann sie, richtig konzipiert, ein entscheidender Baustein für eine Östliche Partnerschaft mit einem demokratischen Belarus sein.
Arbeitserlaubnisse sollten nur bis zum Ende der Diktatur ihre Gültigkeit behalten, damit die oft gut ausgebildeten Fachkräfte zum Aufbau eines wirtschaftlich erfolgreichen Belarus wieder in ihre Heimat zurückkehren. Als Starthilfe sollten die belarusischen Rückkehrer sowohl ihre eigenen als auch die Arbeitgeberbeiträge zur Rentenversicherung und die von ihnen gezahlte Lohnsteuer für ihren Neustart im demokratischen Belarus ausbezahlt bekommen.
Dies könnte mit einem KfW-Förderprogramm für Unternehmensgründungen zusätzlich unterstützt werden, damit möglichst viele Mittel bei der Rückkehr produktiv investiert werden. Diese direkten personengebundenen Transfers wären eine korruptionsfreie Aufbauhilfe an das demokratische Belarus und eine Zukunftsinvestition in eine gute deutsch-belarusische Nachbarschaft.