Die Verschiebung des für den 26. Oktober geplanten deutsch-französischen Ministerrats – ein seit der Schaffung dieses Gremiums in 2003 noch nie dagewesenes Ereignis – ist ein beunruhigendes politisches Zeichen, sowohl im Hinblick auf die deutsch-französischen Beziehungen selbst, da sich die Meinungsverschiedenheiten in letzter Zeit häufen, als auch für die Europäische Union, deren Fortschritte lange Zeit auf deutsch-französische Initiativen zurückgingen. Der Besuch des Bundeskanzlers in Paris am selben Tag kann diesen Eindruck nicht aus der Welt schaffen.

Sicherlich gab es schon immer Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland. Doch heute, vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine und seiner Folgen, treten die Spannungen zwischen beiden Ländern umso schärfer zutage, als die „deutsch-französische Führungsrolle“ innerhalb der Europäischen Union unter anderem von den baltischen Staaten und Polen, dessen Ministerpräsident sogar von einer „Oligarchie“ spricht, in Frage gestellt wird.

Das deutsch-französische Tandem ist durch Kritik von außen geschwächt, insbesondere weil es in der jüngsten Vergangenheit eine zu große Nähe zu Russland gepflegt hat. Es sollte sich nicht auch noch selbst von innen schwächen, mit dem Risiko, dass es implodiert und sich die Europäische Union spaltet. Wenn man die Berichterstattung in der deutschen Presse über den Europäischen Rat vom 21. und 22. Oktober liest, erkennt man, wie dringend mehr deutsch-französische Einigkeit wäre: Die Kommentare über den französischen Präsidenten sind harsch, nachdem er versucht hatte, den deutschen Kanzler zu isolieren, um ihn damit bei der Deckelung des Gaspreises zum Einlenken zu bewegen – was ihm jedoch nicht gelang.

Das deutsch-französische Tandem ist durch Kritik von außen geschwächt.

Am 21. Oktober bemerkte Die Welt, der französische Präsident habe versucht, die Vorstellung für sich zu nutzen, dass innerhalb der Europäischen Union „Deutschland als reichstes und größtes Land mit einer speziellen historischen Verantwortung nicht eigensüchtig handeln“ dürfe und „in besonderem Maße zur Solidarität verpflichtet“ sei. Die Zeitung schrieb, Macron „musste im vergangenen Jahr lernen, dass sich ‚cher Olaf‘ vom Charme des Franzosen, seinen großen Gesten und der immerzu feierlichen Betonung der deutsch-französischen Freundschaft viel weniger beeindrucken lässt als die frühere Kanzlerin Angela Merkel“.

Aber über die aktuellen Meinungsverschiedenheiten hinaus muss man die gesamte Entwicklung in Deutschland betrachten, um zu verstehen, dass hier tiefgreifende Umwälzungen stattfinden, die über kurz oder lang die Gleichgewichte in Europa verschieben könnten. Die unmittelbaren Gründe für die Verstimmung sind bekannt. Sie betreffen zwei wesentliche Themen: die Verteidigung und die Energie.

Vor dem Hintergrund der Differenzen zwischen französischen und deutschen Herstellern stecken die gemeinsamen Verteidigungsprojekte fest, wie das Luftkampfsystem der Zukunft (FCAS) oder der Kampfpanzer der neuen Generation (MGCS). Die von Deutschland (ohne Frankreich) geführte Initiative, gemeinsam mit 14 EU-Staaten, die der NATO angehören, einen Flugabwehrschild mit amerikanischem und israelischem Gerät zu errichten, hat in Paris für Verwirrung und Irritationen gesorgt, da dies der angestrebten europäischen Souveränität zuwiderlaufe. Dieses Konzept sollte eigentlich auf beiden Seiten des Rheins das Gleiche bedeuten. Doch das scheint nicht der Fall zu sein.

Im Energiebereich stimmt Deutschland zwar grundsätzlich einem gemeinsamen Einkauf von Gas zu, lehnt aber weiterhin die Einführung einer Preisdeckelung ab. Doch diese Differenzen in einzelnen Teilbereichen, so wichtig sie auch sein mögen, müssen vor dem Hintergrund einer tiefergehenden Entwicklung betrachtet werden, die das gesamte Wesen der deutsch-französischen Beziehungen verändern könnte.

Deutschland richtet seinen Blick zunehmend nach Osten.

Denn Deutschland richtet seinen Blick zunehmend nach Osten. Ob es uns gefällt oder nicht: Dass sich Deutschland zunehmend seiner zentralen Stellung in Europa bewusst wird und es daher seinen Blick nach Osten richtet, relativiert seine Beziehung zu Frankreich. In seiner Prager Rede zu Europa am 29. August hat Bundeskanzler Scholz Frankreich nicht erwähnt, sondern darauf hingewiesen, dass sich mit der fortschreitenden Erweiterung der EU „das Zentrum Europas nach Osten verlagern wird“. Dies impliziere, dass „Deutschland als Land in der Mitte des Kontinents alles dafür tun wird, um Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenzuführen“.

Am 20. Oktober äußerte der bedeutende CDU-Politiker und ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Die Zukunft der Erweiterung findet geographisch im Osten statt, und die Vertiefung hängt politisch von den Osteuropäern ab.“ Das bedeute, dass es somit nicht ohne Polen gehe, da Polen – genau wie Frankreich – „eine zentrale wirtschaftliche, geographische sowie sicherheitspolitische Bedeutung“ hat.

Diese Position, die es bereits unter Angela Merkel gab, ist eine Grundströmung, die auch von Intellektuellen, insbesondere Historikern, vertreten wird. So meint der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in seinem Buch Die Macht der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, dass Deutschland aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner zentralen Position in Europa „eine quasi-institutionelle Ausgleichsrolle ausüben und die Verantwortung eines Vermittlers wahrnehmen“ müsse, insbesondere zwischen Ost und West. Interessanterweise war es Bundeskanzler Kohl, der bereits Anfang der 1990er Jahre die Osterweiterung ins Auge fasste, die dann auch bald auf die europäische Agenda gesetzt wurde. Diese Strategie ging am 1. Mai 2004 auf.

Geschickt hat Deutschland den Plan für den Beitritt der osteuropäischen Länder zur Europäischen Union mit dem der NATO-Osterweiterung gekoppelt, die Kohl bereits 1993 mit den USA diskutierte. Damit sollte der postsowjetische Raum an Deutschlands Grenzen stabilisiert werden. Damals stellte diese Schlüsselrolle Deutschlands keinen Widerspruch zu der starken deutsch-französischen Beziehung dar. Jetzt aber findet eine Verschiebung der tektonischen Platten statt. In jedem Fall muss die deutsch-französische Beziehung überdacht werden, ohne sie allerdings zu schwächen.

Der Beitrag erschien erstmals in französischer Sprache in Le Monde vom 25.10.2022.

Aus dem Französischen von Laura Schillings