Mit seinem Vorstoß, über alle Parteigrenzen hinweg ein Misstrauensvotum gegen Boris Johnson einzuleiten, reagierte Labour-Chef Jeremy Corbyn am 14. August auf hartnäckige Vermutungen, der Premier könne das Parlament in Sachen Brexit mutwillig umgehen. Diese Angst ließ auch den sonst so souveränen Sprecher des Parlaments John Bercow bereits aus der Robe fahren. Corbyns Vorschlag, selbst die Number 10 Downing Street beziehen zu wollen, konnte aber nicht von großem Erfolg gekrönt sein. Seine Position innerhalb der eigenen Partei ist umstritten, und Labours Umfragewerte schmelzen gerade dahin. Zwar entsprach der Vorschlag der üblichen parlamentarischen Logik, wonach dem Oppositionsführer bei gesicherten neuen Mehrheiten dieses Recht zufällt, aber was ist in Zeiten des Brexits schon normal?
Seit Tagen schon wuchsen die Spekulationen in den Himmel über Big Ben, Johnson könne – nach einem bewusst herbeigeführten verlorenen Misstrauensantrag – das Parlament auflösen und eine baldige Neuwahl am 1. November ansetzen. Nur einen Tag also nach einem kaltblütig einkalkulierten harten Brexit, der in der Halloween-Nacht vollzogen worden wäre. Als Ghostwriter dieser Idee gilt der Politikberater Dominic Cummings. Er pflegt ein ähnlich zerknautschtes Image wie sein Vorgesetzter. Seine politischen Gegner trauen ihm alles zu – auch, ein solches Horrorszenario entworfen zu haben.
Wie viele kulturelle Feste im Vereinigten Königreich hat auch das Feiern von Halloween seinen Ursprung in alten keltischen Riten. Ursprünglich feierte man ein Totenfest. Am „All Hallows Eve“ kleideten sich die späteren Britinnen und Briten in ein abschreckendes Kostüm, bevor sie vor die Tür gingen, um sich vor etwaig herumirrenden Seelen zu schützen. Hierin mag der Ursprung der heutigen Halloween-Verkleidung liegen – aber auch die große Vorstellungskraft vieler Inselbewohner, nach einem erfolgreichen Cummings-Szenario nur noch über ein Zombie-Parlament zu verfügen.
Kreuz- und Weißdornzweige gelten gemeinhin als Schutz gegen Untote. Warum also nicht auch die britische Krone? „Could the Queen sack Boris Johnson?“ fragte der britische Guardian Anfang August sichtlich verzweifelt. Also, kann Ihre Majestät uns von diesem Premier befreien? „The experts are divided – die Experten sind sich uneinig“ lautete die beunruhigende Antwort im politischen Nebel Londons.
Ein Autorenteam des renommierten Institute for Government zeigte kürzlich einen möglichen Ausweg auf: Laut dem so genannten „Fixed-term Parliaments Act“ aus dem Jahr 2011 würde nach einem erfolgreichen Misstrauensvotum eine 14-Tage-Frist in Kraft treten. Während dieser Frist könnten die Mitglieder des Unterhauses eine „Regierung der nationalen Einheit“ oder eine alternative Mehrheit bilden. So auch der Vorschlag Corbyns. Allein unklar sei, was passieren würde, sollte Johnson sich weigern, den Bräuchen folgend seinen Posten zu räumen und stattdessen weiterhin nicht kopf-, aber machtlos durch die Downing Street irren. „This could risk dragging the Queen into politics“, warnen Jack, Owen und White und befürchten eine ernste Verfassungskrise.
Dass die Queen selbst über den Brexit mitentscheiden würde, so sie denn könnte, daran kann kein Zweifel bestehen. Die Einheit des Vereinigten Königreiches Großbritannien und Nordirland gilt ihr als oberstes zu schützendes Gut. Ein Bruch dieser Einheit durch die zu erwartenden Brexit-Folgen für Schottland und Nordirland, so gruselt es den Economist, wäre ein „constitutional nightmare“, ein Verfassungsalptraum.
Seit 64 Jahren empfängt die Königin Premierminister zu persönlichen Audienzen. Von Winston Churchill über Margaret Thatcher und Tony Blair bis zu Boris Johnson hat sie 14 Premierminister erlebt und dabei oft politisches Feingefühl bewiesen. Es steht ihr zu, ihre Meinung zu äußern, auch wenn sie letztlich die Entscheidungen des Premierministers und des Kabinetts akzeptieren muss, unter der Voraussetzung, dass dieser im Unterhaus über eine Mehrheit verfügt. Zurzeit besteht diese Mehrheit aus einer Stimme.
Vergessen wird oft, wie sich die Monarchin trotz aller Beschränkungen zu politischen Grundsatzfragen vorsichtig geäußert und engagiert hat. So berichtete die Sunday Times 1986, die Königin sei besorgt über die Wirtschaftspolitik von Premierministerin Margret Thatcher und beunruhigt über die hohe Arbeitslosigkeit, den Umgang mit dem Bergarbeiterstreik sowie die Weigerung, Sanktionen gegen das südafrikanische Apartheid-Regime anzuordnen. 2007 berichtete der Daily Telegraph, die Queen sei „außer sich und frustriert“ über die Irak-Politik von Premierminister Tony Blair. Auch hatte sie sich positiv über den Abschluss des Karfreitag-Abkommens geäußert und auf Einladung der irischen Regierung 2011 als erste britische Monarchin die Republik Irland besucht.
In der Regel ist es der Premierminister, der über die Parlamentsauflösung bestimmt und den Moment auswählt, der für seine Partei die günstigsten Aussichten verspricht. Aber es ist das Hoheitsrecht des Souveräns, das Parlament einzuberufen, zu vertagen und aufzulösen. Ausgerechnet der Privatsekretär von King George VI – dem Vater der heutigen Königin – war es, der 1950 die bis heute geltenden Lascelles-Prinzipien aufstellte. Ihnen zufolge kann der Monarch theoretisch die Parlamentsauflösung verweigern, sollten drei Voraussetzungen gegeben sein:
Das Parlament ist weiterhin in der Lage, „seinen Job zu machen“; eine Neuwahl (in diesem Fall nach einem No-Deal-Brexit) wäre der nationalen Wirtschaft unzuträglich; und der Souverän findet einen anderen Premierminister, der fähig ist, die Regierungsgeschäfte für einen angemessenen Zeitraum und mit einer stabilen Mehrheit zu führen.
Noch bleibt Jeremy Corbyn die Möglichkeit, seinen Vorschlag unabhängig von seiner Person zu wiederholen. Queen Elizabeth könnte dann an einem sonnigen Londoner Herbstmorgen als dienstälteste Monarchin den dienstkürzesten Premier der britischen Geschichte aus den Amt entlassen und die Briten von ihrem drohenden Halloween-Alptraum befreien.