Die Zeitenwende ist in der Schweiz angekommen. Und sie tut sich schwer damit. Denn die Neuordnung Europas durch den Ukraine-Krieg wird zur Herausforderung für ihre „heilige Kuh“: die Neutralität. Sie wurde der Eidgenossenschaft auf dem Wiener Kongress 1815 von den europäischen Mächten mehr oder weniger aufgezwungen, ist ihr nun aber lieb und teuer.

In Umfragen kommt sie bei den Schweizerinnen und Schweizern regelmäßig auf eine Zustimmung von 90 Prozent und mehr. Das sind fast nordkoreanische Dimensionen. Man kann es verstehen. Die Neutralität hat dem Land – vermeintlich – gute Dienste erwiesen. Seit mehr als 200 Jahren wurde die Schweiz nicht mehr von fremden Truppen angegriffen. Sie wurde von den Kriegen und Katastrophen verschont, die Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwüsteten, obwohl sie mittendrin liegt. Die Überzeugung, man habe dies einzig der Neutralität zu verdanken, hält sich in Teilen der Bevölkerung hartnäckig. Die Realität war weniger erbaulich, denn die Schweiz hatte mit Nazi-Deutschland fleißig Geschäfte gemacht, um einen möglichen Einmarsch abzuwenden. In den Augen der Alliierten aber war sie damit eine schäbige Kriegsprofiteurin. Und im Kalten Krieg war die Schweiz offiziell neutral, während sie in Wirklichkeit im westlichen Lager verankert war.

In der komplexen Welt des 21. Jahrhunderts funktioniert diese Art von außenpolitischem Tunnelblick immer weniger.

Solche Widersprüche störten das Selbstverständnis der Schweiz. Sie wurden mit Vorliebe verdrängt und schöngeredet. Die Schweiz hatte eine eigentliche Scheuklappen-Neutralität entwickelt. Lange konnte sie sich damit durchmogeln, doch in der komplexen Welt des 21. Jahrhunderts funktioniert diese Art von außenpolitischem Tunnelblick immer weniger. So glaubte die offizielle Schweiz viel zu lange, sie könne ausländischen Steuerflüchtlingen helfen, unter dem Deckmantel des Bankgeheimnisses Geld zu verstecken. Sie glaubte es noch, als der Druck vor allem aus Deutschland und den USA immer größer wurde. Am Ende musste sie kapitulieren und den Informationsaustausch in Steuerfragen übernehmen.

Und nun der russische Krieg gegen die Ukraine. Die Warnsignale waren nicht zu übersehen, dennoch wirkte der Bundesrat, die siebenköpfige Schweizer Vierparteien-Regierung, vollkommen überrumpelt, als Wladimir Putin am 24. Februar 2022 den Angriffsbefehl gab. Erst recht unerwartet kam für ihn die Entschlossenheit des Westens, Russland wirtschaftlich zu sanktionieren. Unmittelbar nach Kriegsbeginn versuchte der Bundesrat, sich in einem hochnotpeinlichen Zickzack-Kurs den von der Europäischen Union verhängten Sanktionen zu entziehen. Als ihm die Dynamik und der Druck bewusst wurden, kippte er um und übernahm sämtliche Sanktionspakete, zum Ärger der rechtsnationalen Schweizerischen Volkspartei (SVP).

Die Probleme waren damit nicht aus der Welt. Im Gegenteil. Nun ging es um Rüstungsgüter. Deutschland wollte in der Schweiz gekaufte Munition für den Gepard-Panzer an die Ukraine weitergeben. Die Schweiz untersagte es. Dänemark erging es genauso bei der geplanten Lieferung von Radschützenpanzern und Spanien bei der Lieferung von Flugabwehrgeschützen. Zwei Gründe wurden für die verweigerte Exporterlaubnis angeführt: Das Völkerrecht, das neutralen Staaten die Lieferung von Waffen in Kriegsgebiete untersagt. Und das Schweizer Kriegsmaterialgesetz, das vom Parlament in Bern erst kürzlich verschärft wurde und Waffenlieferungen in Konfliktzonen praktisch vollständig verbietet.

Im Kriegsfall wäre kein Verlass auf die Schweiz.

Zuvor hatte der Bundesrat unter dem Einfluss der Rüstungslobby versucht, die bisherigen Regeln zu lockern, und einen Shitstorm geerntet. Nun aber droht die Verschärfung zum Eigentor zu werden und die Rüstungsindustrie dauerhaft zu schädigen. Denn Deutschland und andere haben realisiert, dass im Kriegsfall kein Verlass auf die Schweiz wäre.

Die Verweigerung von Waffen für die Ukraine wird für die Schweiz ebenfalls zur Hypothek. Auf dem World Econonic Forum in Davos hielt sich das Verständnis in engen Grenzen. Ausländische Gäste wie der deutsche Vizekanzler Robert Habeck, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg oder der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko äußerten ihr Missfallen. Jetzt gibt es Bestrebungen von Parlamentariern, das Kriegsmaterialgesetz wieder zu lockern, sodass demokratisch regierte Länder in der Schweiz beschaffte Waffen weitergeben könnten, ohne erst einen Bittbrief nach Bern schicken zu müssen. Das Problem des Neutralitätsrechts lässt sich damit umgehen, aber aus der Welt geschafft ist es nicht.

Die Schweiz stößt an die Grenzen ihrer Realitätsverweigerung.

Die Schweiz stößt an die Grenzen ihrer Realitätsverweigerung. In gewisser Weise betrifft dies auch eine weitere Großbaustelle, das Verhältnis zur Europäischen Union. Die Schweiz möchte nicht beitreten, wegen der Neutralität und mehr noch wegen der direkten Demokratie. Aber von den Vorzügen des gemeinsamen Marktes will sie dennoch profitieren. Sie hat deshalb verschiedene bilaterale Verträge abgeschlossen – Kritiker sprechen von Rosinenpickerei. Weil die Verträge statisch sind und das EU-Recht sich ständig weiterentwickelt, will Brüssel sie in einem institutionellen Rahmen „dynamisieren“. Einen entsprechenden Vertragsentwurf hatte der Bundesrat jedoch vor eineinhalb Jahren zurückgewiesen. Ein Neustart erweist sich als schwierig. Dabei wäre das Schweizer Wohlstandsmodell mehr denn je auf gute wirtschaftliche Beziehungen zur EU angewiesen, durch den Ukraine-Krieg wie auch den Trend zur Deglobalisierung. Mit dieser Erkenntnis tut sich die Schweiz jedoch genauso schwer wie mit dem Abschied von ihrer Scheuklappen-Neutralität.

Der Druck aber dürfte bald wieder zunehmen. Es geht um 7,5 Milliarden Franken von russischen Oligarchen, die von der Schweiz „eingefroren“ wurden. Im Raum stehen Forderungen, diese Gelder für den Wiederaufbau der Ukraine zu konfiszieren. Die Schweiz wehrt sich mit Verweis auf den Rechtsstaat, doch es ist fraglich, ob sie damit durchkommt. Anscheinend versteht die Schweiz nur auf die harte Tour, dass sie nicht länger eine isolierte „Insel der Glückseligen“ sein kann.

In der Bevölkerung scheint die Zeitenwende anzukommen.

Einen ersten Schritt hat die Regierung immerhin unternommen. Seit Anfang des Jahres ist die Schweiz erstmals im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vertreten, obwohl die SVP dies als flagranten Neutralitätsbruch gegeißelt hatte.

Und auch in der Bevölkerung scheint die Zeitenwende anzukommen. Gemäß einer nach Beginn des Ukraine-Kriegs von der Militärakademie der Eidgenössisch-Technischen Hochschule in Zürich durchgeführten Erhebung sind nur noch 58 Prozent der Befragten überzeugt, dass die Neutralität die Schweiz vor internationalen Konflikten schützt. Zunehmend als Hindernis für die Neutralität wird auch die internationale Verflechtung der Schweiz eingestuft. Sie gehört zu den Profiteuren der wirtschaftlichen Globalisierung. Auch deshalb fällt es der Politik schwer, sich von der Scheuklappen-Neutralität zu verabschieden. Aber ein Umdenken ist unvermeidlich. Es ist Zeit, dass die Schweiz dies anerkennt.