Der russische Angriff auf die gesamte Ukraine führte zunächst zum Zusammenrücken der ukrainischen Gesellschaft und Politik. Der Schulterschluss aller Kräfte im Kampf gegen den Angreifer bestimmte vor allem zu Kriegsbeginn das gesellschaftspolitische Leben des Landes und half den Ukrainern, das Jahr 2022 zu überstehen. Doch diese Erfolgsformel hatte auch eine Kehrseite. Im Dreieck Regierung-Opposition-Militär gab es kriegsbedingt keine Spielräume für eine grundlegende Kritik an den Plänen des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Nur vereinzelt waren Gegenstimmen zu hören, die diese oder jene Maßnahme kritisch hinterfragten, nicht aber die Strategie im Ganzen.

Nun scheint dieses informelle Tabu gebrochen zu sein. Beflügelt von den sinkenden Umfragewerten Selenskyjs und der Tatsache, dass sich der Krieg vermutlich in die Länge ziehen wird, kehrt die Innenpolitik aktiv zurück in den ukrainischen Alltag. Insbesondere zwei Personen stehen hier im Mittelpunkt: der Befehlshaber der Armee Walerij Saluschnyj sowie Oppositionsführer und Ex-Präsident Petro Poroschenko. Beide vertreten öffentlich andere Meinungen als der Präsident, doch ihre jeweiligen Streitigkeiten mit Selenskyj sind unterschiedlicher Natur.

Kurz vor dem russischen Großeinmarsch in die Ukraine saß der ukrainische Präsident nicht mehr besonders fest im Sattel. Während Selenskyj in der Stichwahl 2019 noch über 73 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, lag er zweieinhalb Jahre später in Umfragen nur noch bei 24 Prozent. Nur 17 Prozent der Befragten waren bereit, für seine Partei „Diener des Volkes“ zu stimmen (Wahlergebnis 2019: 43 Prozent). Selenskyjs Machtbasis war am Bröckeln. Ihm wurden das schleppende Reformtempo sowie Klientelpolitik vorgeworfen. Im Februar 2022 wurden die Karten jedoch neu gemischt. Selenskyj wurde zu Recht zum Nationalhelden und seine Zustimmungswerte lagen teilweise bei über 90 Prozent.

Im 22. Kriegsmonat ist seine Popularität jedoch wieder im Sinkflug und hat sich halbiert. Selenskyjs emotionale Art, Außenpolitik zu gestalten und seine Landsleute zu motivieren, finden viele mittlerweile nicht mehr zielführend und zeitgemäß. Überwiegende Teile der Gesellschaft sind wider Erwarten nicht kriegsmüde und zeigen sich nicht bereit, hinsichtlich der Wiederherstellung der territorialen Integrität ihres Landes Kompromisse einzugehen. Die Menschen nehmen jedoch ebenso wahr, dass eine schnelle Befreiung der besetzten Regionen unmöglich ist, die nötige Hilfe aus dem Westen auf sich warten lässt und infolgedessen der Krieg noch lange dauern wird. Im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen an der Front und die drastische Kürzung der ausländischen Unterstützung vermissen sie jedoch neue Konzepte, Ansprachen und Botschaften. Und auch neue Gesichter.

Die zivile und die militärische Spitze der Ukraine führen eine Debatte über die künftige Kriegsstrategie.

Saluschnyj verkörpert für viele Ukrainer diese Alternative: ein charismatischer Kriegsherr in schwierigen Zeiten. Hätte er eine Partei gegründet, käme sie in den Dezember-Umfragen auf Platz 1. Allerdings gibt es gegenwärtig keine belastbaren Indizien für die politischen Ambitionen Saluschnyjs. Bislang verzichtet er auf den Gang in die Politik und konzentriert sich auf sein Kerngeschäft: die Kriegsführung. Das ukrainische Präsidialamt wiederum handelt im Umgang mit Saluschnyj in der Tradition einer defizitären Demokratie: Potenzielle (oder vermeintliche) Konkurrenten werden präventiv geschwächt. Bereits im April 2022 versuchte Andrij Jermak, der einflussreiche Leiter des Präsidialamtes, die Gründung des Wohltätigkeitsfonds „Wir werden siegen!“ von Saluschnyj zu torpedieren. Jermak befürchtete eine mögliche politische Bewegung der Militärs.

Der zweite Dissens ereignete sich im Juli 2022, als Selenskyj die Idee des Generalstabs, den wehrpflichtigen Ukrainern den Wohnsitzwechsel ohne Einwilligung der Militärbehörde zu verbieten, als „Leibeigenschaft“ verurteilte. Beide Vorfälle blieben im Ausland fast unbemerkt. Die ausländische Presse widmete sich dem Konflikt größtenteils erst nach dem Interview von Saluschnyj im Economist Anfang November 2023, in dem er die Misere der ukrainischen Offensive und die Patt-Situation an der Front schilderte. Die Diskussion darüber ist jedoch nicht neu und wird in den ukrainischen Medien, die für Kriegsverhältnisse erstaunlich offen berichterstatten, schön länger geführt. Neu ist die Tatsache, dass sich die derzeit zweitwichtigste Person des Landes auf der internationalen Bühne klar darüber äußert.   

In der Hauptfrage, der Abwehr der russischen Aggression, sind die beiden Spitzenmänner jedoch einig: Ohne mehr Qualität und Quantität bei den westlichen Waffenlieferungen sei die vollständige Befreiung der besetzten Gebiete nicht möglich. Der Unterschied besteht vielmehr in der Strategie. Selenskyj, nach der ukrainischen Verfassung der Oberbefehlshaber, will kraft seines Amtes in jedem Teilbereich des Kriegsgeschehens das Sagen haben. Ukrainische Quellen behaupten, das Staatsoberhaupt habe alternative Kommunikationskanäle zu den zwei wichtigsten Generälen in Saluschnyjs Umfeld aufgebaut, zum Befehlshaber des Heeres Oleksandr Syrskyj und zum Befehlshaber der Luftwaffe Mykola Oleschtschuk. Abgeordnete von Selenskyjs Partei fordern vom Generalstab einen detaillierten Plan der nächsten Schritte an der Front, der laut ihnen einer Abstimmung unter anderem im Verteidigungsausschuss des Parlaments bedarf, obwohl dieses Gremium dafür nicht zuständig ist.

Saluschnyj bemüht sich seinerseits um mehr Autonomie bezüglich Planung, Umsetzung sowie der Ernennung des Personals – ohne flächendeckende Kontrolle aus dem Präsidialamt. Er präferiert seine eigene Handschrift im Krieg und verzichtet auf risikoreiche Vorstöße der ukrainischen Streitkräfte, auch wenn dies Selenskyj und der westlichen proukrainischen Gemeinschaft missfällt. Die Streitigkeiten zwischen Selenskyj und Saluschnyj sind somit nicht persönlicher, sondern institutioneller Art. Die zivile und die militärische Spitze der Ukraine führen eine Debatte über die künftige Kriegsstrategie, und das öffentlich.

Die jüngste Handlung des Präsidialamtes spielt Poroschenko in die Karten.

Im Gegensatz dazu trägt die Auseinandersetzung zwischen Poroschenko und Selenskyj einen „klassisch“ politischen Charakter. Derzeit würde Poroschenko dem amtierenden Staatschef in einer Präsidentschaftswahl unterliegen. Doch der Oppositionsführer hat noch Aufstiegspotenzial. Er leitet die liberal-konservativ verortete Partei „Europäische Solidarität“, die gegenwärtig über die zweitgrößte Parlamentsfraktion und weitere Ressourcen wie Regionalverbände, kommunale Mandate und teilweise Mehrheiten in den Gebietsräten verfügt. All dies ist in der ukrainischen Politik sehr wichtig. Aufstrebende Politiker wie der laut Umfragen (nach Selenskyj und Saluschnyj) auf Platz 3 rangierende prominente Fernsehmoderator Serhiy Prytula sind dagegen nicht landesweit politisch institutionalisiert. Nicht auszuschließen wäre ein Zweckbündnis Poroschenkos mit den parlamentarischen Fraktionen der Mitte-rechts-Partei „Stimme“, mit der Vaterlands-Partei von Julia Tymoschenko sowie mit einigen Unabhängigen und Fraktionslosen. Das könnte Selenskyj potenziell in Bedrängnis bringen.

Die jüngste Handlung des Präsidialamtes spielt Poroschenko in die Karten und beflügelt seine Popularität als „schikanierter Politiker“. Die ukrainischen Behörden verhinderten zuletzt seine Auslandsreise wegen der „Vorbereitung einer Provokation seitens Russlands“. In einigen ukrainischen Medien läuft zudem eine Verleumdungskampagne gegen den Ex-Präsidenten, in der er ohne jeden Beleg als „Teil einer mit Moskau verhandlungsbereiten Gruppe“ dargestellt wird. Dies setzt Poroschenko unter Druck und zwingt ihn zur Offensive. Im vergangenen Jahr war er gegenüber Selenskyj nur sehr begrenzt kritikbereit. Erst im zweiten Halbjahr 2023 griff Poroschenko die Regierung spürbar an. Der Oppositionsführer und seine Abgeordneten werfen den Regierenden florierende Korruption, die fragwürdige Ausweitung der Machtbefugnisse und allgemeine Planlosigkeit vor. Laut Poroschenko dürfe die Ukraine nicht „Geisel der innenpolitischen Probleme in den USA“ sein. Auch hier gilt das Kritik-Tabu also nicht mehr.

Auch wenn die innenpolitische Grundsatzdebatte in der Ukraine ihr Comeback feiert: Der prowestliche und patriotische Grundpfeiler der ukrainischen Politik wird personenunabhängig weiterbestehen. Seine zentralen Komponenten sind die Alternativlosigkeit der Westbindung des Landes, einschließlich der angestrebten Mitgliedschaft in der EU und der NATO, sowie die Distanz zu Russland auch nach Kriegsende. Ob Selenskyj, Saluschnyj oder Poroschenko: In ihrer Zukunftsaussicht demonstriert die ukrainische Elite Konsens. Jeder Versuch, Frieden mit Moskau auf Kosten der ukrainischen Territorien auszuhandeln, ist nicht mehrheitsfähig und wäre zum Scheitern verurteilt. 74 Prozent der Befragten lehnten dies Mitte Dezember kategorisch ab. Allein eine Anspielung darauf dürfte einem ukrainischen Politiker derzeit seine Karriere kosten. Das zeigt das Beispiel von Oleksij Arestowytsch. Noch 2022 war er in seiner Eigenschaft als Präsidentenberater der am meisten zitierte Kommentator und zudem eine Zeit lang die zweitbeliebteste Persönlichkeit im Land. Nach seinem Einstieg in die Politik und der Verkündung eines Friedensplans, der faktisch die Anerkennung des Status quo an der Front vorsah, liegt seine Beliebtheit laut Umfrage der Ratinggroup bei unter einem Prozent.