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Als das britische Gesundheitssystem bereits unter wachsenden Druck durch das Coronavirus geriet, weigerte sich die britische Regierung schlichtweg, an einem gemeinsamen EU-Beschaffungsprojekt für dringend benötigte Atemgeräte teilzunehmen. Die Gründe dafür waren schleierhaft: Zuerst behauptete Premierminister Boris Johnson, das Königreich mache einen Alleingang, „weil es die EU verlassen hat“, aber später gab er einem Verwaltungsfehler die Schuld.
Bis dahin waren bereits zwei Wochen einer katastrophalen britischen „Herdenimmunitäts“-Strategie vergangen, während der sich die britische Regierung weigerte, Bewegungseinschränkungen zu verhängen und – wie wir nun wissen – die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen massenhaften Tests durchzuführen.
Einige nahmen an, Johnson sei – ebenso wie US-Präsident Donald Trump zur gleichen Zeit – bereit, eine große Zahl von Menschenleben zu opfern, um die Wirtschaft zu retten. Aber der wahre Grund ist sogar noch einfacher und grausamer: Der gesamte Februar wurde verschwendet, um Johnsons „Brexit“-Projekt zu retten.
Obwohl Downing Street bis zum 3. März keine offiziellen Aussagen zum Coronavirus gemacht hatte, hatte Johnson in ihm bereits genau einen Monat vorher eine Bedrohung für den Brexit erkannt. In einer blumigen Rede inmitten der Pracht des britischen Marine-College aus dem Greenwich des 18. Jahrhunderts hatte er angekündigt, Großbritannien werde die Vereinbarungen brechen, die es in der gemeinsamen politischen Erklärung mit der Europäischen Union im Oktober 2019 unterschrieben hatte.
Er betonte, London werde seine Zusage eines „fairen Spielfelds“ bei sozialen, ökologischen und arbeitsrechtlichen Regulierungen nicht einhalten und keinerlei gemeinsame Gesetzgebung akzeptieren. Und für den Fall, dass die EU damit nicht einverstanden sei, würden bereits im Juni die Vorbereitungen auf einen Brexit ohne Abkommen beginnen.
Anstatt den Regeln seines engsten Handelspartners nachzukommen, sollte das Vereinigte Königreich nun also ein Land werden, das sich die Zerstörung sämtlicher Handelsblöcke auf die Fahnen schreiben und den Welthandel aggressiv neu ordnen würde – genau wie während seiner Seeherrschaft in der Zeit von Robert Clive und Horatio Nelson.
Die meisten Menschen haben es damals nicht gemerkt, aber dieses gesamte Narrativ wurde um eine Reaktion auf das Coronavirus herum gestrickt. „Besteht die Gefahr, dass neue Seuchen wie das Coronavirus eine Panik und das Bedürfnis nach einer Marktsegregation auslösen, die über das medizinisch Sinnvolle hinausgehen und echten und unnötigen wirtschaftlichen Schaden anrichten“, sagte Johnson, „braucht die Menschheit irgendwo eine Regierung, die bereit ist, sich massiv für … das Recht der Völker der Erde einzusetzen, miteinander Handel zu treiben“.
Während andere europäische Länder die Bewegungsfreiheit ihrer Bevölkerung einschränkten und Zehntausende Menschen täglich testeten, wollte Johnson die Sache ursprünglich „sportlich nehmen“ und eine Erkrankung von 80 Prozent der Bevölkerung zulassen.
Dieses Land sollte also Großbritannien sein. Und um „unnötigen wirtschaftlichen Schaden“ zu verhindern, unterwarf Johnson dann die gesamte britische Bevölkerung einem öffentlichen Gesundheitsexperiment, das – wäre es nicht auf den Ratschlag von Forschern des Imperial College hin korrigiert worden – eine Viertelmillion Menschen hätte töten können.
Während andere europäische Länder die Bewegungsfreiheit ihrer Bevölkerung einschränkten und Zehntausende Menschen täglich testeten, wollte Johnson die Sache ursprünglich „sportlich nehmen“ und eine Erkrankung von 80 Prozent der Bevölkerung zulassen. Er hatte Angst, und wie sich herausstellte, zu Recht, Covid-19 könnte sich als weiterer Nagel im Sarg des Handels und der finanziellen Globalisierung erweisen und damit die Voraussetzungen für sein Brexit-Projekt torpedieren. Auch wenn er die Strategie der „Herdenimmunität“ aufgegeben hat, bleibt Johnson immer noch bei seiner Drohung mit einem Brexit ohne Abkommen.
Aber ein Blick auf den jetzigen Stand der Weltwirtschaft zeigt, dass diese Drohkulisse jeglicher Grundlage entbehrt. Sowohl auf der Nachfrage- als auch auf der Angebotsseite der Realwirtschaft steht uns eine Vielzahl „plötzlicher Unterbrechungen“ bevor. Als Reaktion darauf findet in zwei entscheidenden Sektoren eine Kapitalflucht statt: aus den Entwicklungsländern und aus den Unternehmensanleihen der Industriestaaten. Und während sich die Investoren um kurzfristige Staatsanleihen als Bargeldersatz reißen, stürzen sogar die Anleihenmärkte ins Chaos.
Laut der Rating-Agentur Fitch ist es wahrscheinlich, dass das weltweite Bruttoinlandsprodukt im Gesamtjahr 2020 um 1,9 Prozent sinkt. Großbritannien und die Eurozone sollen sogar einen Jahresrückgang von 3,3 beziehungsweise 4,2 Prozent verzeichnen. Und dies wird bereits prognostiziert, bevor wir überhaupt das wahre Ausmaß eventueller sekundärer Nachbeben kennen.
Unter den aktuellen Bedingungen an der Frist vom Dezember 2020 und der Drohung mit einem harten Brexit im Juni festzuhalten, ist reine Selbstzerstörung.
Das bestmögliche Szenario ist eine V-förmige Rezession, bei der sich das BIP bis Ende 2021 wieder auf Vorkrisenniveau erholt. Können die Zentralbanken und Finanzministerien allerdings das finanzielle Chaos nicht eindämmen, wird eine längere U-förmige Rezession wahrscheinlich. Und sollten sparsüchtige Politiker in den Haushaltsrunden von 2021 die Löhne und die öffentlichen Ausgaben kürzen, könnten Teile der Welt eine L-förmige Rezession im griechischen Stil erleben, in deren Folge einige Staaten bankrott gehen.
Unter diesen Bedingungen an der Frist vom Dezember 2020 – und der Drohung mit einem harten Brexit im Juni – festzuhalten, ist reine Selbstzerstörung. Aber selbstzerstörerisch war bereits die britische Weigerung, bei der Beschaffung medizinischer Ausrüstung mitzumachen, und auch die Strategie der „Herdenimmunität“.
Johnson hatte sich selbst davon überzeugt, er könne durch das disruptive Verlassen des gemeinsamen Markts eine Kettenreaktion auslösen, die dem Aufstieg des Protektionismus und der Entstehung von Handelsblöcken entgegenwirken würde. Nur zwei Monate später ist diese Illusion allerdings selbst zerstört. Wenn überhaupt, dann hat das Coronavirus die Deglobalisierung der Welt, die nach 2008 begonnen hatte, noch beschleunigt.
Da das Virus wohl noch jahrelang wellenförmig wiederkehren wird, kommt auf rein physischer Ebene wahrscheinlich der internationale Reiseverkehr zum Erliegen. Und während sich die großen Wirtschaftsmächte um industrielle Kapazitäten zur Herstellung von Atemgeräten, Tests und Impfstoffen bemühen, werden überall Rufe nach sichereren und verlässlicheren lokalen Angebotsketten im medizinischen Bereich laut.
Würde Großbritannien unter diesen Umständen einen harten Brexit ohne Abkommen durchführen, wäre dies völlig verrückt.
Dasselbe gilt auch für die Lebensmittelversorgung: Die Wellen der Panikkäufe, die im März durch die Supermärkte der Industriestaaten gingen, spiegelten eine rationale Angst der Menschen am Ende der globalen Angebotsketten wider – nämlich, dass diese Ketten dann, wenn sich das Virus in den lebensmittelproduzierenden Ländern der Welt verbreitet, zerstört werden oder unter politischen Blockaden leiden könnten.
Und die nächste Deglobalisierung wird im Finanzsektor stattfinden. Bis jetzt haben sich die Haushaltsstimuli vieler Länder noch nicht in den Defizitwerten und Schuldenprognosen niedergeschlagen. In Großbritannien dürften die Staatsschulden beispielsweise um mindestens 200 Milliarden Pfund steigen. In den USA schätzt Wells Fargo, die staatliche Kreditaufnahme könnte sich durch die Krise um 2,8 Billionen Dollar erhöhen. Und was die Eurozone betrifft, hängt die abschließende Zahl davon ab, ob die Randstaaten den Widerstand Deutschlands und der Niederlande gegen eine Vergemeinschaftung der Schulden brechen können.
Sobald wir aus dieser Rezession wieder auftauchen, wird sich die Welt auf qualitative Weise verändert haben. Die gesamten Staatsschulden der G7-Länder werden dann weit über dem Vorkrisendurchschnitt von 118 Prozent des BIP liegen. Und einige Zentralbanken werden dann damit begonnen haben, diese Schulden zu „monetarisieren“ – also Staatsanleihen direkt vom Finanzministerium zu kaufen. Dadurch werden die freien, grenzüberschreitenden Kapitalflüsse und auch einige Währungen unter Druck geraten.
Ob Johnson nach der Krise die unvermeidliche öffentliche Debatte über die getroffenen Entscheidungen politisch überlebt, ist noch völlig unklar.
Würde Großbritannien unter diesen Umständen einen harten Brexit ohne Abkommen durchführen, wäre dies völlig verrückt. Immerhin stammten sogar die Notvorräte, die die britischen Minister stolz vor den Kameras präsentierten, aus den Reserven, die als Vorbereitung auf einen solchen Brexit angelegt wurden.
Der Mangel an globaler Führung und Koordinierung in Zeiten des Coronavirus zeigt, dass der Ausstieg aus dieser Lage durch Konkurrenz, Einzelmaßnahmen und in manchen Fällen Autarkie bestimmt sein wird.
So setzt China seine frühe Erholung dafür ein, die Länder, die an seiner Belt and Road-Initiative beteiligt sind, offen diplomatisch und handelspolitisch zu beeinflussen. Russland nutzt die Krise für den Versuch, Osteuropa zu destabilisieren, indem die staatlichen Medien ständig wiederholen, die EU breche zusammen. Und die Vereinigten Staaten, die die größten finanziellen Direktmaßnahmen durchgeführt haben und deren Zentralbank immer noch eine globale Führungsrolle übernimmt, berauben die medizinische Angebotskette und machen dabei ihren gesamten geopolitischen Einfluss geltend.
Im britischen Inland ist Johnsons Projekt bereits gestorben. Der einzige Sinn eines harten Brexit lag darin, den Arbeitsmarkt zu deregulieren, die sozialen Schutzmechanismen und Umweltstandards zu verringern und für alle Probleme die „Migranten“ und „Europa“ verantwortlich zu machen. Ob Johnson nach der Krise die unvermeidliche öffentliche Debatte über die getroffenen Entscheidungen politisch überlebt, ist noch völlig unklar.
Ob Johnson nach der Krise die unvermeidliche öffentliche Debatte über die getroffenen Entscheidungen politisch überlebt, ist noch völlig unklar.
Die Welt, in der er seine Greenwich-Rede hielt, ist jedenfalls bereits jetzt verschwunden. Dass das Vereinigte Königreich im Alleingang eine zweite Welle der Globalisierung auslösen könnte, war immer schon eine Illusion. Hätte es dabei einer ähnlich ausgerichteten US-Regierung assistieren können, hätte dies vielleicht funktionieren können. Aber Trump plant genau das Gegenteil, und es ist kaum absehbar, das der US-Präsident nach dem Trauma der Epidemie noch den Willen zeigt, eine offene, multilaterale Weltordnung wiederzubeleben.
Das britische Finanzministerium hat es bereits aufgegeben, die negativen wirtschaftlichen Effekte eines harten Brexit zu prognostizieren: Die Leitlinien, die es seinen eigenen Prognostikern beim Amt für Budgetverantwortung für den März-Haushalt gegeben hat, waren bestenfalls oberflächlich. Im November 2018 hatte das Ministerium allerdings bereits vorhergesagt, das britische BIP könnte 15 Jahre nach einem harten Brexit 9,3 Prozent niedriger sein als bei einem Verbleib in der EU. Und eine etwa gleichzeitige Modellrechnung der Bank of England kam zu dem Ergebnis, dass ein harter Brexit kurzfristig auf einen Produktionsverlust in Höhe von drei bis sieben Prozent innerhalb eines einzigen Jahres hinauslaufen würde.
Selbst durch einfache Addition – ganz zu schweigen von den Multiplikatoreffekten nachfolgender Krisen – wird es offensichtlich, dass ein Brexit ohne Abkommen am 31. Dezember eine scharfe sechsmonatige Rezession in einen zwei- oder dreijährigen Abschwung verwandeln könnte.
Der neue Labour-Parteichef Keir Starmer weiß, dass das Brexit-Projekt immer schon als politische Falle geplant war. Handelt er im Interesse des Landes und der Wähler, indem er auf ein Abkommen besteht, das faire Bedingungen mit einem Zugang zum Gemeinsamen Markt verbindet, wird seine Partei beschuldigt werden, den „Brexit sabotieren“ zu wollen. Und setzt er sich für eine einjährige Verzögerung ein, könnte die politische Rechte erneut von „Verrat“ sprechen.
Um das Virus zu schlagen, sind nicht nur globale Haushaltsstimuli erforderlich, sondern auch geldpolitische Zusammenarbeit und eine transnationale industrielle Mobilisierung.
Starmer hat gesagt, ein erneuter Eintritt in die EU stehe in absehbarer Zukunft nicht auf der Tagesordnung. Angesichts seiner Strategie, die Partei wieder mit den Bevölkerungsgruppen zu verbinden, die durch tiefe Fremdenfeindlichkeit und Euroskepsis geprägt sind, ist dies verständlich.
Aber in einer Weltordnung, die vor ihrer eigenen Auflösung steht, gelten weiterhin geographische Tatsachen. Die EU ist der größte Handelspartner des Königreichs, und nach fast einem halben Jahrhundert der Mitgliedschaft ist die europäische Integration in Recht, Brauchtum und Kultur des Landes tief verwurzelt. In einer immer unsichereren Welt hängt die britische Sicherheit von der Sicherheit Europas ab. So lange sich die EU um einen gemeinsamen Markt eint, ist der sicherste Platz für Großbritannien in dessen Umfeld.
Starmers interne Kritiker aus dem sozialkonservativen „Blauen-Labour“-Flügel und der wirtschaftsnationalistischen Linken wollen, dass die Partei den Brexit vergisst. Aber das ist leider nicht möglich. Labour muss sich unverzüglich für eine einjährige Verzögerung des Brexit und die Ablehnung des britischen Verhandlungsdokuments vom Februar 2020 einsetzen, um ein gemeinsames Handelsabkommen zu erreichen, das das Land in einer engen Partnerschaft mit der EU hält – und gleichzeitig die Einwanderungspolitik so offen wie möglich gestaltet.
Und schließlich ist es erwähnenswert, wie sehr sich die globale Rolle Großbritanniens heute von derjenigen des Jahres 2008 unterscheidet. Der damalige Premierminister Gordon Brown leitete zu dieser Zeit einen G20-Gipfel, auf dem eine echte und dauerhafte Zusammenarbeit nach der Krise beschlossen wurde – sowohl bei den Haushaltsstimuli als auch im Regulierungsbereich. Johnson mag unter den Wandbildern von Greenwich darin geschwelgt haben, Großbritanniens ehemalige Größe zu beschreiben, aber Brown hat damals tatsächlich etwas getan.
Und dies ist der letzte Teil der Kritik, die Labour üben muss: Um das Virus zu schlagen, sind nicht nur globale Haushaltsstimuli erforderlich, sondern auch geldpolitische Zusammenarbeit und eine transnationale industrielle Mobilisierung.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff.
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.