Hat die Schweiz ein politisches Erdbeben erlebt, oder ist sie eine Insel der Stabilität? Es ist Ansichtssache. Nach der „grünen Welle“ bei der Parlamentswahl 2019 schlug das Pendel am Sonntag wieder zurück. Aber der Rechtsrutsch ist nicht ganz so stark wie 2015. Damals kam die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) auf beinahe 30 Prozent.
Angela Merkels „Willkommenskultur“ hatte in der Schweiz einen Abwehrreflex ausgelöst und die SVP zu ungeahnten Höhen getrieben. Jetzt ist die Migrationskrise in Europa erneut ein Thema, ebenso die geopolitischen Krisenherde in Nahost und der Ukraine. Nicht nur davon profitierte die SVP, sondern auch von ihrem eingängigen Wahlkampfmotto „Keine zehn Millionen Schweiz!“. Was ist damit gemeint? Erst kürzlich wurde die Marke von neun Millionen Einwohnern überschritten. Die Schweiz wächst so stark wie kaum ein anderes Land in Europa und ein Ende ist nicht in Sicht. Viele Arbeitskräfte wandern zu, auch aus Deutschland. Dies erzeugt Abwehrreflexe unter den Einheimischen. Ein gängiger Begriff lautet „Dichtestress“.
Das Schüren von Ängsten (vor Einwanderern) und das Bewirtschaften von Problemen waren stets die Kernkompetenz der SVP. Diese Rechnung ist einmal mehr aufgegangen, die Partei konnte um drei Prozentpunkte zulegen und kommt auf 28,6 Prozent Wähleranteil. Sie stellt mit 62 Sitzen mit Abstand die meisten Abgeordneten. Doch Probleme verschwinden nicht, indem man sie anprangert. Der Arbeitskräftemangel ist eine Realität. Unternehmen und staatliche Institutionen suchen händeringend nach Personal. Sobald konkrete Rezepte gefragt sind, flüchtet sich die SVP in Floskeln wie „Es kommen zu viele und die Falschen“. Doch wie viele sind genug und wer sind „die Richtigen“? Eine Antwort bleibt aus, denn anders als die meisten Rechtspopulisten in Europa propagiert die SVP eine neoliberale Tiefsteuer-Politik und heizt damit die Zuwanderung selbst an.
Sobald konkrete Rezepten gefragt sind, flüchtet sich die SVP in Floskeln.
Sie kommt damit durch, weil es die übrigen Parteien seit jeher versäumen, den Widerspruch anzusprechen, sei es aus Rücksicht auf die Wirtschaft (die Rechten) oder um nicht als rassistisch zu gelten (Linke und Grüne). Denn die Lage auf dem Arbeitsmarkt bleibt wie erwähnt angespannt. Und auf dem Wohnungsmarkt tickt eine veritable Zeitbombe. Die Bautätigkeit ist erlahmt, denn Grundstücke sind knapp und teuer, und auch in der Schweiz kämpft die Bauwirtschaft mit steigenden Kosten. Hält die Zuwanderung an, werden die schon hohen Mieten in Städten wie Genf und Zürich weiter steigen. Die größte Sorge der Wählerschaft aber sind gemäß Umfragen die immer teureren Krankenkassen. Sie werden in der Schweiz durch ein System mit Kopfprämien finanziert.
Davon profitiert haben die Sozialdemokraten (SP), allerdings nicht so stark wie erhofft, und im französischsprachigen Landesteil mehr als in der Deutschschweiz. Sie konnten ihren Stimmanteil um 1,2 Prozentpunkte auf 18 Prozent steigern, das macht für sie zwei Sitze mehr, nun 41. Ihre Gewinne gingen teilweise zulasten der Grünen, die vor vier Jahren einen für Schweizer Verhältnisse erdrutschartigen Erfolg erzielen konnten (plus 17 Sitze im 200-köpfigen Nationalrat, der größeren der beiden Parlamentskammern). Damals sprach man von einer Klimawahl.
In der aktuellen politischen Großwetterlage hat es der Klimaschutz in ganz Europa schwer.
Jetzt haben die Grünen und die einst von ihnen abgespaltene Grünliberale Partei (GLP) herbe Verluste erlitten. Doch für die Klimakrise gilt das Gleiche wie für den Personalmangel: Sie verschwindet nicht, ganz im Gegenteil. Die Schweizer Gletscher sind in den letzten beiden Jahren in einem beinahe unfassbaren Tempo geschmolzen. Doch in der aktuellen politischen Großwetterlage hat es der Klimaschutz in ganz Europa schwer. Die Probleme der beiden Öko-Parteien sind auch hausgemacht. Die Grünliberalen wurden für einen uninspirierten und inhaltsleeren Wahlkampf abgestraft. Und die in der Schweiz weit links stehenden Grünen haben es verpasst, ein eigenständiges Profil außerhalb der Umweltpolitik zu entwickeln. Weshalb viele zu den Sozialdemokraten zurückkehrten. Die Grünen haben fast vier Prozentpunkte verloren und liegen mit 9,4 Prozent nun wieder unter der Zehn-Prozent-Schwelle. Sie büßen fünf Sitze ein und halten neu deren 23. Die Grünliberalen haben mit 7,2 Prozent Wähleranteil zwar nur 0,6 Prozent verloren, müssen aber sechs ihrer bisher 16 Sitze abgeben.
Und dennoch: Grüne und GLP liegen über ihrem Ergebnis von 2015. In den nächsten vier Jahren wird es für sie noch wichtiger und auch anspruchsvoller sein, die nötigen Allianzen zu bilden unter anderem mit der SP und mit der sogenannten Mitte-Partei, die sich leicht auf 15 Prozent der Stimmen steigern konnte. Diese entstand aus einer Fusion der traditionsreichen Christdemokraten (CVP) mit einem SVP-Ableger. Mehrheiten für eine ökologische und soziale Politik sind weiterhin machbar. Und am Ende findet zu den wichtigen Themen in der Schweiz ohnehin häufig ein Referendum statt. Die SVP hingegen könnte schon bald feststellen, dass sie mit ihrem „Triumph“ nicht glücklich wird. Schon vor acht Jahren war der Rechtsrutsch im Parlament ziemlich rasch verpufft. Dieses Mal dürfte es noch schwieriger werden, denn ihre wichtigste Bündnispartnerin, die FDP, verzeichnet das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Und das will etwas heißen, denn die Freisinnigen, wie sie genannt werden, haben die moderne Schweiz vor 175 Jahren gegründet. Jetzt verfügen sie noch über einen Wähleranteil von etwas mehr als 14 Prozent.
Die häufigen Referenden stärken die Demokratie, führen aber oft zu Reformblockaden.
Die Herausforderungen für die oft als „heile Welt“ empfundene Eidgenossenschaft und ihr politisches System bleiben enorm. Der Bundesrat, eine Mehrparteienregierung mit nur sieben Mitgliedern und jährlich wechselndem Präsidium, wirkt häufig überfordert und zerstritten. Im Ausland wird dies wahrgenommen, was den Druck auf die Schweiz erhöht. Die häufigen Referenden stärken die Demokratie, führen aber oft zu Reformblockaden. In Sachen Gesundheitspolitik oder Altersvorsorge sind „große Würfe“ beinahe unmöglich geworden. Das einst fast grenzenlose Vertrauen in die Wirtschaft erodiert, gleichzeitig wächst die Anspruchsmentalität. „Der Liberalismus geht geschwächt aus diesen Wahlen hervor, Selbstverantwortung zählt weniger denn je“, klagt die Neue Zürcher Zeitung.
Außenpolitisch stößt die „heilige Kuh“ Neutralität an ihre Grenzen, und das Verhältnis des Nichtmitglieds Schweiz zur Europäischen Union bedarf der Klärung. Der Bundesrat hatte die Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen vor zwei Jahren einseitig für beendet erklärt, ohne über einen Plan B zu verfügen. Seither ringt er mit Brüssel um einen Neustart.
Die Schweiz bleibt trotz der Verschiebungen bei den Wahlen politisch bemerkenswert stabil. Auch deshalb wird sie oft und zu Recht als Erfolgsmodell bezeichnet. Aber wer sich auf den Lorbeeren des Erfolgs ausruht, erlebt irgendwann einen Crash mit der Realität.