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Die „Grand débat national“, die Emmanuel Macron ins Leben gerufen hat, um einen Weg aus der durch die Gelbwesten aufgezeigten Krise zu finden, neigt sich ihrem Ende zu. Welche vorläufige Bilanz ziehen Sie?
Die Grand débat kann als ein „formales Zugeständnis“ betrachtet werden, bei dem die Regierung den Demonstranten - ohne ihnen inhaltliche Zugeständnisse zu machen - einen Raum zur Beteiligung bietet. Für den Präsidenten, dem ein monarchischer Stil und Volksferne nachgesagt wird, geht es darum zu zeigen, dass er zuhört. Von Anfang an wurde die Grand débat als eine Strategie zur Ablenkung und Schwächung der Gelbwesten wahrgenommen, die sich auch nicht an der Debatte beteiligen wollten. In dieser Hinsicht scheint die Strategie zumindest bislang erfolgreich gewesen zu sein, da die Zustimmungsrate der Regierung laut Umfragen etwas angestiegen und es ihr gelungen ist, ein wenig Zeit zu gewinnen und die Gelbwesten etwas an den Rand zu drängen.
Aber die Grand débat kann auch als gewaltige und unerwartete kollektive Meinungsäußerung interpretiert werden. Mit 1,7 Millionen Beiträgen auf der Internetplattform der Regierung und 10 000 organisierten lokalen Versammlungen ist die Grand débat ein Erfolg in Sachen Bürgerbeteiligung. Erste Umfragen zeigen, dass es sich bei den Teilnehmenden eher um die städtische, männliche, ältere und gut gebildete Bevölkerung handelte. Junge Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund und die Arbeiterschicht haben sich so gut wie nicht an der Grand débat beteiligt. Die Beobachter erstaunte die große Zahl derer, die zum ersten Mal zu einer politischen Versammlung gekommen sind, um eine Idee vorzubringen und mit anderen zu diskutieren. Die soziologischen Daten der Teilnehmer an der Grand débat unterscheiden sich zwar von denen der Bewegung der Gelbwesten, die zweifellos eher die Arbeiterschicht vertritt, aber der Wunsch, am politischen Entscheidungsprozess teilzunehmen, ist derselbe.
Unter welchen Voraussetzungen kann die Grand débat als Erfolg enden?
Wenn die politische Antwort auf die Debatte nicht den Erwartungen entspricht, könnte der Frust groß sein und die ganze Idee der partizipativen Demokratie dauerhaft beschädigt werden. Es ist gut möglich, dass nur marginale politische Zugeständnisse gemacht werden und dass die Regierung aus den Beiträgen der Grand débat nur die Vorschläge aufgreifen wird, die mit ihrer neoliberalen Politik übereinstimmen.
Ich kann im Übrigen nicht erkennen, wie angesichts des Umfangs und der Vielseitigkeit der während der Grand débat gesammelten Informationen (Antworten auf den Fragebogen der Internetplattform, offene Beiträge auf der Plattform, Protokolle der lokalen Informationsveranstaltungen, von den Bürgermeistern der Landgemeinden zusammengetragene Beschwerdelisten, Ergebnisse der ausgelosten regionalen Bürgerkonferenzen, Briefe von Einzelpersonen usw.) eine Zusammenfassung möglich sein soll. Die Summe zahlreicher individueller Äußerungen oder Meinungen ergibt noch keine Politik. Die Mechanismen künstlicher Intelligenz und die Algorithmen, die die Beiträge der Bürgerinnen und Bürger verarbeiten, werden sicherlich keine klare und eindeutige Vorstellung davon liefern, was die Franzosen wollen.
Neue Instrumente der partizipativen Demokratie, wie Bürgerversammlungen mit ausgelosten Teilnehmern werden manchmal als die Lösung für die Krise der repräsentativen Demokratie dargestellt. Was sagt das über den derzeitigen Zustand der französischen Gesellschaft aus?
Auffällig an der gegenwärtigen demokratischen Krise in Frankreich, aber auch in der gesamten westlichen Welt ist doch, dass sich Instrumente wie die ausgelosten Bürgerversammlungen so erfolgreich verbreiten und dass solche demokratischen Innovationen große Hoffnungen wecken. Wer hätte gedacht, dass politische Akteure die Idee einer dritten parlamentarischen Kammer vertreten würden, die ganz oder teilweise durch das Los bestimmt wird, oder sogar die Idee, den Senat durch eine solche Versammlung zu ersetzen. Dieses Interesse an Auslosungen zeugt von dem großen Misskredit, in den die traditionellen Institutionen der repräsentativen Politik geraten sind. Das gleiche gilt für das „Referendum über Bürgerinitiativen“, dem von den Gelbwesten geforderten „RIC“ (référendum d'initiative citoyenne), das sowohl Bürgerinitiativen in Verfassungs- und Gesetzesfragen als auch die Aufhebung von Gesetzen und die Abberufung von Volksvertretern ermöglichen soll.
Wie lassen sich die hohen Erwartungen an diese partizipativen Instrumenten erklären?
Die üblichen Repräsentanten gelten heute als unfähig, das Volk in seiner Vielfalt und seinen Interessen getreu zu vertreten. Das gilt für die als kostspielig und unnötig erachtete parlamentarische Versammlung (im Endeffekt entscheide ohnehin die Exekutive über Gesetze), politische Parteien, Medien oder andere zwischengeschaltete Organe.
Auslosungen und Bürgerinitiativen erscheinen in vielerlei Hinsicht als mögliche Lösungen, wenn nicht sogar als Wunderformeln. Es soll erreicht werden, dass das Volk endlich wieder wirklich vertreten wird oder sich direkt äußern kann. Es ist zwar eine Illusion zu glauben, dass eine Demokratie ohne jegliche Form der Repräsentation auskommt. Aber die Krise und das Misstrauen sind so groß, dass nur noch solche Lösungen denkbar erscheinen. Niemand ist mehr bereit zu glauben, dass das System sich selbst reformieren kann. Auffällig bei den Gelbwesten ist ihre Unnachgiebigkeit und Radikalität in Sachen Demokratie. Sie fordern eine „wahre Demokratie“ nach dem Vorbild der „Empörten“ in Spanien, der Occupy-Bewegung von 2011 oder der etwas kleineren Bewegung „Nuit debout“ von 2016. Immer mehr Menschen glauben, dass wir nicht in einer Demokratie leben. Sie versuchen, ein anderes politisches Modell zu entwickeln.
Ist diese umfassende Bürgerbefragung ein Weg Macrons, eine direkte Verbindung zum Volk auf Kosten anderer repräsentativer Institutionen zu stärken? Oder ist sie bereits Teil einer allgemeineren Überlegung, wieviel Bürgerbeteiligung notwendig ist, durch die Frankreich künftig zu einem einzigartigen demokratischen Versuchslabor werden könnte?
Die von Emmanuel Macron seit 2017, aber genauso die zuvor von Nicolas Sarkozy und François Hollande verfolgte Politik bestand darin, die zwischengeschalteten Organe im Namen der Reformnotwendigkeit zu delegitimieren und die französische Gesellschaft und Wirtschaft an die Erfordernisse der Globalisierung anzupassen. Zwischengeschaltete Organe, in erster Linie die Gewerkschaften, wurden als „Bremsen“ der „Modernisierung“ wahrgenommen, die gesamte Strategie der Regierung bestand darin, den in Frankreich so genannten „sozialen Dialog“ zu umgehen und Reformen per Gesetz durchzusetzen.
Macrons Präsidentschaft hat diese Tendenz noch verstärkt, was dazu führte, dass sich immer mehr eine Art „technokratische“ oder epistokratische Denkweise in der Politik durchsetzte. Nach dieser Logik besteht überhaupt keine Notwendigkeit, die Maßnahmen zu diskutieren, da es nur eine einzige mögliche Politik gibt, und zwar die, die der Euro und die internationalen Finanzmärkte erfordern. Darüber hinaus wendet die Exekutive immer häufiger (vor allem digitale) Instrumente zur Befragung der Bürger an. Schon vor der Grand débat hat die Regierung die Absicht bekundet, die Bürger in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Aber es handelt sich dabei eher um eine Außendarstellung, die mehr der politischen Kommunikation dient als dass sie den echten Wunsch nach partizipativer Demokratie ausdrückt.
Welches Modell würden Sie empfehlen, um Strukturen der horizontalen und repräsentativen Demokratie in Frankreich zu schaffen?
Ich glaube, die „reine“ horizontale oder direkte Demokratie ohne Repräsentanten ließe sich nur in Gruppen einiger hundert Menschen umsetzen. Sobald es darüber hinausgeht, braucht man Mechanismen zur Bündelung von Interessen und zur Regelung von Konflikten, die eine gewisse Form der Repräsentation voraussetzen. Es gibt heute eine wachsende Debatte über Murray Bookchins „libertären Kommunalismus“, bei dem die politische Macht von unten nach oben um autonome und demokratische Kommunen herum aufgebaut ist, in denen die Bürger die Macht über das Gemeinschaftseigentum wiedererlangen. Wie aber soll von oben herab durchgesetzt werden, dass sich alle Kommunen auf diese Art selbst verwalten? Wie sollen Konflikte zwischen den Kommunen behandelt werden? Wie soll den Problemen (insbesondere Umweltproblemen) oder Bedrohungen von außen begegnet werden, die eine Koordination auf nationaler, wenn nicht gar globaler Ebene erfordern?
Sie empfehlen eine Mischung aus repräsentativen und partizipativen Elementen?
Meiner Meinung nach wäre es äußerst kompliziert, mit den Institutionen der repräsentativen Demokratie gänzlich zu brechen, um unsere Gesellschaft zu verändern, und gleichzeitig die sie stützenden Solidarsysteme aufrechtzuerhalten. Ich befürworte daher verschiedene Strategien, ähnlich wie Erik Olin Wright in seinem wichtigen Werk „Reale Utopien“: Wo immer es möglich ist, sollte man Initiativen erproben, in denen die Bürger in den von den kapitalistischen und staatlichen Systemen nicht regulierten Freiräumen mit neuen Formen des demokratischen Lebens oder der Zusammenarbeit experimentieren können. Auch „symbiotische“ Ansätze, die versuchen, bestehende wirtschaftliche und politische Institutionen und Organisationen zu verändern, sollten unterstützt werden.
Wenn man die Dinge verändern und unsere Demokratien demokratischer machen will, muss man auch von den politischen Parteien und von Wahlen Gebrauch machen. Denn gerade weil heute die nationale und europäische Politik von Kräften dominiert wird, die auf keinen Fall wollen, dass die Dinge sich ändern und das System transformiert wird, steuern unsere Demokratien auf einen Abgrund zu. Die Bürger müssen mit ihrer Stimmabgabe echten Einfluss ausüben können, damit sich die Dinge wirklich ändern.
Die Fragen stellte das Büro FES Paris.
Aus dem Französischen von Laura Schillings.