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Paris – Agonie der Linken
Der Wahlsieg des Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen ist die beunruhigende Nachricht aus Frankreich. Den Rechtspopulisten gelang es mit knapp einem Viertel der Stimmen (23,3 Prozent) das Wahlbündnis von Präsident Emmanuel Macrons La République en Marche (LRM) auf den zweiten Platz zu verweisen (22,1 Prozent) - dies trotz des starken persönlichen Engagements des Präsidenten im Wahlkampf. Dieser zweite Platz im ersten Stimmungstest nach den Präsidentschaftswahlen von 2017 ist sicher eine bittere Pille für Macron und ein Denkzettel für seinen Regierungsstil und -kurs. Ein Misstrauensvotum, zu dem die Populisten von rechts und links die Wahlen hochstilisieren wollten, bedeutet es jedoch nicht: Nur etwa 38 Prozent der Wähler wollten mit ihrem Votum die Regierung abstrafen.
Mit Erleichterung wird allseits hervorgehoben, dass die Wahlbeteiligung – dem europäischen Trend folgend – alle Erwartungen übertraf und mit 50,1 Prozent den höchsten Wert seit 20 Jahren erreichte. 2014 lag sie bei lediglich 42,4 Prozent. Diese überraschend starke Beteiligung wird als Mobilisierung der Bürgerinnen und Bürger gegen die Nationalisten gewertet – und im Ergebnis als eine Stärkung der demokratischen Legitimation der EU. Daneben wird aber auch die deutlichePolarisierung hervorgehoben zwischen den Bürgern, die mehr von Europa wollen, und denjenigen, die weniger Europa wollen. Bedenklich zudem: 73 Prozent der unter 25-Jährigen haben nicht gewählt, ebenso wie 57 Prozent in den populären Sektoren.
Bestätigt haben die Wahlergebnisse das Ende des politischen Duopols von Konservativen und Sozialisten. Zusammen kommen die beiden traditionellen Parteien gerade noch auf 15 Prozent. Die konservativen Republikaner, die jeweils ein Drittel ihrer Wähler an RN und LRM verloren, stürzten auf 8,5 Prozent ab. Die schon nach den Präsidentschaftswahlen am Boden liegenden Sozialisten konnten mit dem jungen Intellektuellen Raphael Glucksmann als Spitzenkandidaten wenigstens „die Ehre wahren“ und das Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde vermeiden (6,2 Prozent). Glucksmann legte gleich am Wahlabend den Finger in die Wunde der Linken: Ohne ernsthaften Willen, sich zu einen und personelle Egoismen zu überwinden, würde eine nachhaltige Wiederbelebung nicht gelingen. Das unterstreicht auch das überraschend schlechte Abschneiden der Linkspopulisten von Jean-Luc Mélenchon (6,3 Prozent), die sich der Hegemonie im linken Lager schon sicher wähnten.
Gegenüber der Agonie der Linken sticht auch in Frankreich der Durchbruch der Grünen hervor: Europe Écologie – Les Verts (EELV) mit Yannick Jadot profitierte von der ökologischen Woge und kam mit 13,5 Prozent der Stimmen auf den dritten Rang. Darin drückt sich nicht zuletzt die Enttäuschung über Macrons Umwelt- und Klimapolitik aus.
Thomas Manz, Leiter des FES-Büros in Paris
London – Klare Brexit-Strategie, bitte!
Die Irrungen und Wirrungen des Brexit überschatteten die Europawahlen in Großbritannien. Niemand im Land hat sich dafür interessiert, welche Abgeordneten man über den Kanal entsenden wird. Stattdessen dominierten Fragen der nationalen Politik. Nach dem angekündigten Rücktritt von Theresa May beginnt der Nachfolgekampf, Neuwahlen sind sehr wahrscheinlich. Der Brexit ist weiterhin ungelöst und die gesellschaftlichen Gräben sind tiefer als zuvor.
Der Wahlerfolg von Farage und der Brexitpartei mit 33 Prozent wird die Tories tiefer ins Territorium der harten Brexiteers treiben. Sie haben mit lediglich neun Prozent auf Rang fünf abgeschlossen. Es dominiert die Furcht, von Farage rechts überholt zu werden. Sie werden ihre Hoffnungen auf Boris Johnson richten. Dem Brexiteer der frühen Stunde wird als einzigem Konservativen zugetraut, Farage in Schach zu halten. Der Preis dafür wird eine zunehmend rechtspopulistische Positionierung der Tories werden. Der ehemals moderat konservative Flügel, repräsentiert von David Cameron, wird weiter ins Hintertreffen geraten.
Auf der anderen Seite ist Labour mit einem Dilemma konfrontiert: Die schwammige Brexithaltung hat die Partei mit weniger als 15 Prozent auf Rang drei hinter die Liberaldemokraten (fast 21 Prozent) gebracht. Sie hat dazu geführt, dass der Nimbus von Corbyn angekratzt ist. Er hat eine Wahl verloren, gerade weil er wie ein „normaler Politiker“ agiert hat. Die Proteststimmen sind bei Farage gelandet und viele der jungen Unterstützer von Corbyn haben sich den eindeutigen Remain-Parteien wie den Grünen (12,5 Prozent) oder den Liberaldemokraten zugewandt. Damit tut sich ein Riss zwischen Corbyn und vielen seiner enthusiastischen Unterstützern auf. Denn in der Frage „Wie hältst Du es mit Europa“ vertreten sie eine fundamental andere Haltung. Das kann die Dynamik der Labourpartei in künftigen Wahlkämpfen dämpfen. Die Europafrage wird aber gleichzeitig auch die soziale und ökonomische Agenda von Corbyn überschatten. Intern wächst der Druck, sich deutlich für ein zweites Referendum auszusprechen oder gar eine eindeutige Remain-Haltung einzunehmen.
Damit hat die Europawahl nur neue politische Ungewissheiten geschaffen, obwohl jeder der Beteiligten die Ergebnisse so liest, wie er es gerne hätte. Die beiden sich zunehmend unversöhnlich gegenüberstehenden Lager von Leave und Remain haben in der Summe fast gleich abgeschnitten. Die alten Parteien der politischen Mitte, Tories und Labour, haben an beide Seiten verloren und geraten zunehmend unter Druck.
Christos Katsioulis, Leiter des FES-Büros in London
Wien – Eigenmarketing-Rückstand der Sozialdemokraten
„Sebastian Kurz ist ein egoistischer Politiker, warum soll er länger Kanzler sein?“ Mit diesen Worten gab am Wahlabend Andreas Schieder, der Spitzenkandidat der österreichischen Sozialdemokraten für die EU-Wahl, den Grundton für die anstehenden vorgezogenen Neuwahlen im September dieses Jahres aus. Kurz, der Machttaktiker, der nur an seinen persönlichen Vorteil denkt und Österreich zum zweiten Mal binnen zwei Jahren in Neuwahlen treibt, so will die SPÖ den populären Konservativen jetzt zeichnen.
Die EU-Wahlen waren in Österreich die Testwahl für die Nationalwahlen, alles drehte sich um die Ibizaaffäre, die eine Woche zuvor geplatzt war und zum Rücktritt des FPÖ-Parteichefs Heinz-Christian Strache geführt hatte - und in Folge zum Bruch der Koalition durch Kurz. Doch bei den EU-Wahlen verlor die FPÖ nur zwei Prozent, Kurz ging mit 35 Prozent als klarer Sieger hervor und die SPÖ gewann nichts dazu.
Die Lehren daraus sind aus sozialdemokratischer Sicht schmerzhaft. Österreichs Rechtspopulisten konnte der Ibiza-Skandal wenig anhaben, im Gegenteil, er half bei der Mobilisierung ihrer EU-skeptischen Wählerschaft. Die Täter-Opfer-Umkehr funktionierte, die FPÖ-Offensive, die Strache als Opfer einer Verschwörung darstellte, verfing. Auch Kurz kam mit seiner Erzählung vom Kanzler, der zuerst die blauen Eskapaden erduldete und das Land dann davon befreite, durch. „Genug ist genug“, sagte er, als er Neuwahlen ausrief, und das traf erst einmal die Stimmung im Land. In Folge warb er für sich auch noch überzeugend als Garant für Stabilität. Dabei war er es doch, der die Koalition zuerst gegründet und dann aufgekündigt hatte.
Es zählt nicht, was der Wahrheit am nächsten ist, sondern welche Wahrheit am überzeugendsten an die Wählerschaft verkauft wird. FPÖ und ÖVP haben hochprofessionelle eigene TV- und Social Media Kanäle, Kurz und Strache jeweils fast 800 000 Facebook-Follower. Die SPÖ kann da nicht mithalten. Wie sie ihren Eigenmarketing-Rückstand in den nächsten vier Monaten bis zur Wahl aufholen soll, ist unklar.
Barbara Toth, Ressortleiterin beim österreichischen Magazin Der Falter
Warschau – Wahlbeteiligung verdoppelt
Die Regierungspartei PiS unter Führung Jarosław Kaczyńskis hat die Europawahlen in Polen eindeutig gewonnen. Sie erzielte 45,6 Prozent, ihr bisher bestes Ergebnis bei nationalen Wahlen überhaupt. Mit 27 Mandaten schickt die PiS nun deutlich mehr Abgeordnete nach Straßburg als die CDU (23). Enttäuschend endeten die Wahlen für die in der „Europakoalition“ (KE) zusammengeschlossenen bürgerlichen und sozialdemokratischen Oppositionsparteien. Das Bündnis umfasst die EVP-Parteien PO und PSL, die S+D-Partei SLD sowie die Grünen und die Restbestände der liberalen Nowoczesna. Zusammen kamen diese Parteien auf 38,3 Prozent, was einen Verlust von über zehn Prozent gegenüber den letzten EP-Wahlen darstellt. Unter den Erwartungen blieb auch „Wiosna“, die neue Partei Robert Biedrońs, die sechs Prozent erzielte (drei Mandate). Noch schlechter schnitten die nationalistischen Kräfte rechts der PiS ab, die mit 4,5 Prozent (Konfederacja) und 3,7 Prozent (Kukiz 15) den Einzug ins Europaparlament verpassten. Die Wahlbeteiligung verdoppelte sich fast, von 23,8 auf 45,6 Prozent.
Der eigentliche Einsatz dieser Wahlen waren weniger die Mandate in Straßburg, sondern die Frage nach der Ausgangsposition für die im Herbst anstehenden Parlamentswahlen. Sieg oder Niederlage bei den EP-Wahlen, so die allgemein geteilte Ansicht, würde die Ausgangslage für den Herbst drastisch verändern. Angesichts der verhärteten Polarisierung und einer geringen Anzahl von echten „Wechselwählern“ rückte die Mobilisierung der eigenen Wählerschaft ins Zentrum der Kampagne. Dies gelang der PiS deutlich besser als der Opposition. Diese hatte gehofft, mit dem Schreckgespenst eines von der PiS betriebenen „Polexit“ die äußerst EU-freundlichen Polen für die KE zu mobilisieren. Als dieser Plan nicht aufging – die Wähler glauben schlicht nicht an den „Polexit“ – stand dem heterogenen Bündnis kein Plan B zur Verfügung. Vielmehr bestimmte die PiS über weite Strecken Themen und Rhythmus des Wahlkampfs. Europapolitische Themen spielten für keine Seite eine große Rolle. Vielmehr dominierten innerpolnische Angelegenheiten: von großzügigen Sozialleistungen der Regierung, über einen großen Lehrerstreik bis hin zur Pädophilie im katholischen Klerus. Das Wochenmagazin wProst kam auf nicht weniger als elf vermeintliche „game changer“ im Verlaufe des Wahlkampfes. Am Schluss waren die Wähler tatsächlich mobilisiert – und die PiS fuhr einen in dieser Höhe von niemandem erwarteten Sieg ein.
Für die polnische Linke ist das Ergebnis bitter. Sie erhielt zusammen acht Mandate, etwas mehr als ein Zehntel der polnischen Sitze (52). Dabei gelten die Europawahlen aufgrund der höheren Mobilisierung urbaner und europhiler Wähler als für die Linke vergleichsweise günstige Wahlen. Während die SLD im Rahmen der KE mit der erwarteten Wahl von fünf MdEP eine Minimalchance auf Wiederbelebung wahrte, kam das relativ schwache Abschneiden der Partei Robert Biedrońs überraschend. Die Hoffnung war, in die Nähe der 10-Prozent-Marke zu kommen. Die gesellschaftlichen Debattenthemen der letzten Wochen – vor allem ein im Internet ansehbarer Dokumentarfilm über die systematische Vertuschung von Pädophilie in der katholischen Kirche, der in kurzer Zeit über 21 Millionen Seitenaufrufe hatte – waren für die dezidiert laizistische Wiosna eigentlich günstig. Letztendlich hat sich der Raum zwischen den beiden großen Blöcken aber doch enger als erwartet erwiesen. Hinzu kam eine aggressive Kampagne der Europakoalition gegen Biedroń, der als Konkurrent im eigenen Lager gesehen wurde. Auch für Wiosna hat gestern der Kampf ums Überleben begonnen.
Ernst Hillebrand, Leiter des FES-Büros in Warschau
Rom – Triumph für die Rechtspopulisten
Die rechtspopulistische Lega Nord von Matteo Salvini triumphiert mit 34 Prozent, die zur S&D-Fraktion gehörende sozialdemokratische Partito Democratico (PD) schafft nach dem Wahldesaster von 2018 die Trendwende, die Fünf Sterne brechen dramatisch ein: Auf diese Formel lässt sich der Ausgang der Europawahlen in Italien bringen.
In Rom regiert seit dem 1. Juni 2018 eine Koalition des Movimento5Stelle (M5S – 5-Sterne-Bewegung) unter Luigi Di Maio und der Lega Nord unter Matteo Salvini. Bei den Wahlen vom März 2018 hatte das M5S knapp 33 Prozent, die Lega gut 17 Prozent der Stimmen gewonnen.
Di Maio und Salvini sind in der Regierung unter dem parteilosen Giuseppe Conte als Vizepremiers vertreten, Di Maio ist außerdem Wirtschafts- und Arbeitsminister, Salvini Innenminister. Salvini nutzte dieses Amt, um sich als starker Mann der Regierung zu profilieren. Vorneweg setzte er auf rigide Flüchtlingsabwehr und rief die Politik der „geschlossenen Häfen“ aus; zudem trieb er Law-and-order-Kampagnen voran. Beides erwies sich als sehr populär, ebenso wie die Rhetorik gegen das „Europa der Juncker, Merkel und Macron“. Die mit Marine Le Pens Rassemblement National und der AfD verbündete Lega konnte binnen eines Jahres ihren Stimmenanteil verdoppeln und geht als weitaus stärkste Partei aus der Wahl zum Europaparlament vom Sonntag hervor.
Spiegelbildlich musste das M5S, das Salvini gewähren ließ und außer der Einführung der Grundsicherung keine breiter wahrgenommenen Akzente setzen konnte, eine Halbierung der Stimmen auf nur noch 17 Prozent hinnehmen. Die ideologisch amorphe („weder rechts noch links“) Bewegung geht einer schweren Krise entgegen; auch die Führungsrolle Di Maios dürfte gefährdet sein. Zudem wächst die Versuchung für die Lega, die Koalition zu beenden und mit einer reinen Rechtsallianz zu Neuwahlen zu schreiten.
Solche Neuwahlen kämen für die sozialdemokratische PD zu früh. Unter ihrem neuen Vorsitzenden Nicola Zingaretti präsentierte sich als eindeutig proeuropäische Kraft mit geschärftem sozialem Profil. Darüber gelang es ihr, sich von den miserablen 18,7 Prozent der nationalen Wahlen 2018 auf jetzt knapp 23 Prozent zu verbessern. Dies stärkt die Autorität Zingarettis an der Spitze erheblich. Noch aber ist die PD weit davon entfernt, die Rechte schlagen zu können.
Michael Braun, Mitarbeiter des FES-Büros in Rom
Madrid – Der Linksschwenk hält an
Die sozialdemokratische PSOE geht nach den nationalen Parlamentswahlen am 26. April (28 Prozent) mit fast 33 Prozent auch aus der Europawahl klar als Sieger hervor. Sie stellen jetzt mit 20 Abgeordneten das Gros der 54-köpfigen spanischen Delegation. Gleichzeitig fanden Regional- und Kommunalwahlen statt. Auch dort konnten sich die Sozialdemokraten vielfach durchsetzen. Ein Wertmutstropfen: In der Stadt wie der Region Madrid droht eine Koalition unter Beteiligung der Rechtspopulisten.
Der Einbruch der konservativen Partido Popular (PP) setzt sich fort. Statt der stattlichen 26,1 Prozent (2014) kommen sie nur noch auf 20 Prozent. Der Druck auf den Parteivorsitzenden Pablo Casado und seinen Rechtsschwenk wird steigen, auch wenn es die rechtsliberale Partei Ciudadanos mit ihren leichten Gewinnen nicht geschafft hat, der PP den Rang abzulaufen. Die Hochzeiten der linkspopulistischen Podemos scheinen trotz ihrer leichten Gewinne vorbei.
Erneut ziehen zudem verschiedene Regionalparteien ins Europaparlament ein – und damit allen voran Puigdemont, der ehemalige katalanische Regionalpräsident im selbsterklärten politischen Asyl in Brüssel, der immer noch per spanischem Haftbefehl gesucht wird. Noch ist unklar, wie er sein Mandat antreten will. Dazu müsste er in Madrid erscheinen. Die rechtspopulistische VOX (sechs Prozent) ist nach dem Kongress nun auch im EP und hat sich innerhalb einer Halbjahresfrist ebenfalls in allen Regionalparlamenten des Landes etabliert.
In der neuen Legislaturperiode werden die spanischen Sozialdemokraten nun zur stärksten Gruppe der S&D-Parteienfamilie. Passend zum dezidiert proeuropäischen Kurs der neuen Regierung von Pedro Sánchez möchte die PSOE gerne mehr Verantwortung in der EU übernehmen. Nach einem Jahrzehnt der Zurückhaltung möchte Sánchez auch personell an die 2000er Jahre anknüpfen, die etwa mit Namen wie Javier Solana verbunden sind, dem EU-Außenbeauftragten von 1999 bis 2009. Die Liste der PSOE führte mit Josep Borrell ein erfahrener Europaparlamentarier an: Von 2004 bis 2007 war der derzeitige spanische Außenminister Parlamentspräsident. Schwer vorstellbar, dass er mit seinen 72 Jahren seinen zweiten europäischen Frühling als einfacher Abgeordneter verbringen möchte. Um das Gewicht der Sozialdemokratischen Partei Europas bei den anstehenden Personalentscheidungen einzubringen, wurde Sánchez mit der Verhandlungsführung beauftragt.
Gero Maass, Leiter des FES-Büros in Madrid
Budapest – Orbán verfehlt seine Ziele
FIDESZ hat seine selbst gesetzten Ziele nicht erreicht und konnte „nur“ einen zusätzlichen Sitz im Europäischen Parlament erobern. In den von FIDESZ kontrollierten Medien wird dies als ein „historischer Sieg“ dargestellt, der den Kampf für ein Europa der Nationen, einen Stopp der Migration und den Schutz des Christentums voranbringt. In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob FIDESZ in der EVP bleiben kann und will, falls die Suspendierung aufgehoben wird. Die ungarische Bereitschaft hierzu dürfte seit gestern wieder gestiegen sein. Angesichts der absehbar schwierigeren Koalitionsbildung im EP ist zudem zu erwarten, dass sich Premier Orbán und seine rechts-nationalen Kollegen noch stärker auf den Europäischen Rat als Ort der Auseinandersetzung setzen werden.
Trotz einer monatelangen Mobilisierung und eines stark polarisierenden anti-europäischen Wahlkampfs konnte FIDESZ seinen bemerkenswerten Stimmenanteil von 50 Prozent nur marginal erhöhen. In der Opposition gibt es grundlegende Verschiebungen zwischen den Parteien. Die großen Gewinner sind DK (Mitglied der S&D-Fraktion) und Momentum (ALDE-Mitglied), die ihre Sitze von eins auf vier beziehungsweise von null auf zwei ausbauen konnten. Damit füllen letztere die liberale Nische in der ungarischen Parteienlandschaft.
Die sozialdemokratische MSZP konnte nach einem engagierten Wahlkampf zusammen mit Párbeszéd allerdings nur noch einen ihrer beiden Sitze halten. Es gelang ihnen nicht, ihr Profil zu schärfen und die Unterschiede zu den anderen Parteien hervorzuheben. Der Parteivorstand wird jedoch bleiben und den Wahlkampf für die im Herbst anstehenden Kommunalwahlen in Angriff nehmen. Verloren hat auch Jobbik, die inzwischen eher im Lager der Pro-Europäer angekommen sind. Größter Verlierer aber ist wohl die grüne LMP, die unterhalb der 5-Prozent-Hürde blieb und vor ihrer faktischen Auflösung stehen dürfte.
Noch nie zuvor haben so viele ungarische Wählerinnen und Wähler an Europawahlen teilgenommen: Die Wahlbeteiligung lag bei rund 43 Prozent im Vergleich zu 29 Prozent im Jahr 2014.
Beate Martin und Jörg Bergstermann leiten das FES-Büro in Budapest
Athen – Endlich Neuwahlen
Spät am Wahlabend schaffte es Griechenland doch noch in die Schlagzeilen: mit der Ankündigung von Neuwahlen bereits im Juni. Auslöser der vorgezogenen Wahlen ist der deutliche Sieg der konservativen Opposition, der Nea Demokratia unter Kyriakos Mitsotakis. Syriza unter Premier Alexis Tsipras erreichte knapp 24 Prozent (sechs MEPs), Nea Demokratia übertraf die Regierungspartei mit gut 33 Prozent deutlich (sieben MEPs).
Erstmals seit dem turbulenten Regierungsantritt Syrizas 2015 konnten die griechischen Wählerinnen und Wähler ihre Meinung über die Politik Tsipras’ äussern. Von einer Europawahl konnte entsprechend keine Rede sein. Europäische Themen kamen im Wahlkampf nicht vor, und auch am Wahlabend hielt es keine Fernsehanstalt für interessant genug, die Ergebnisse anderer Länder oder gar eine Debatte über die Zukunft Europas zu senden. Der Wahlkampf war geprägt von haltlosen persönlichen Diffamierungen und Schlägen unter die Gürtellinie, ein wahrhafter Verfall politischen Anstands und des Respekts vor dem politischen Gegner. Ein ehrlicher Wettbewerb um dringend notwendige Ideen für die Zukunft des ausgebluteten Landes fand kaum statt. Wenig verwunderlich, dass 84 Prozent der Griechen mit dem Zustand ihrer Demokratie nicht mehr zufrieden sind.
Beiden großen Parteien - Syriza und Nea Demokratia - war daran gelegen, das politische Spektrum zu polarisieren. Sie ließen kaum Raum für weitere Kräfte: Weit abgeschlagen die Sozialdemokraten von KINAL als Nachfolger der PASOK, denen weiterhin keine Erneuerung gelingt. Sie stützen sich auf den schrumpfenden und alternden, aber noch immer landesweit organisierten Stamm ihrer Getreuen. Diese verschafften der Partei einen leichten Zuwachs auf 7,5 Prozent (zwei MEPs). Am rechten Rand gab es Veränderungen, wenngleich keinen Zuwachs: die Faschisten der Goldenen Morgenröte büßten fast die Hälfte ihrer Stimmen ein (4,8 Prozent, zwei MEPs). Diese gingen an eine neue ultra-nationalistische, russophile Partei namens ‘Griechische Lösung’ (4,1 Prozent, ein MEP) gegründet wegen der nationalen Empörung über den Namens-Deal mit Nord-Mazedonien.
Es sieht derzeit danach aus, als hätten die Konservativen – die auch in den Kommunalwahlen beeindruckend abschnitten – das nötige Momentum, um die nationale Wahl zu gewinnen und die nächste Regierung zu stellen. Allerdings hat Syriza am Sonntag in wesentlich geringerem Maße ihr Wählerpotential ausgeschöpft als die Konservativen, mit 64 Prozent gegenüber 81 Prozent. Trotzdem müsste es in den nächsten Wochen zu einer dramatischen Wende kommen, um Mitsotakis aus dieser Position verlieren zu sehen.
Ulrich Storck, Leiter des FES-Büro in Athen
Stockholm – Herbe Verluste bei den Grünen
Die Wahlbeteiligung in Schweden erreichte mit 53,2 Prozent den höchsten Stand seit dem Beitritt im Jahr 1995 und lag einmal mehr über dem EU-Durchschnitt. Zurückzuführen ist das auf eine zunehmend positive Einstellung der Schweden zur EU. Eine kontinuierlich wachsende Mehrheit sieht positive Auswirkungen der Mitgliedschaft bei der militärischen Sicherheit sowie in Wirtschafts- und Umweltfragen. Seit dem Brexit hat die Zustimmung zur EU nocheinmal einen Schub bekommen. Die Europa ablehnenden Parteien (insbesondere die Rechtspopulisten und die Linkspartei) haben sich dem Meinungsklima angepasst und ihre Positionen erheblich abgemildert.
Die großen gesamteuropäischen Trends haben die schwedischen Wähler bestenfalls verhalten bedient. Die regierende Sozialdemokratie blieb mit 23,5 Prozent stärkste Partei und verlor gegenüber 2014 nur 0,7 Prozent. Die beiden der EVP-Fraktion angehörenden Parteien – die Moderaten und die Christdemokraten – erreichten 16,8 Prozent beziehungsweise 8,7 Prozent, das sind drei beziehungsweise 2,8 Prozent mehr als bei der letzten Europawahl. Zugelegt haben neben dem Zentrum, einer der beiden liberalen Parteien, die der ALDE-Fraktion angehören, auch die rechtspopulistischen Schwedendemokraten (+5,7 Prozent). Ihr Ergebnis (15,4 Prozent) blieb jedoch hinter den Prognosen zurück. Sie landeten auf dem dritten Platz, verloren aber gegenüber den schwedischen Parlamentswahlen im September vergangenen Jahres 2,1 Prozent.
Nennenswerte Verluste erlitten nur zwei Parteien. Die Liberalen, die sich als die konsequentesten Pro-Europäer zu stilisieren versuchten und im Wahlkampf Werbung für Atomenergie machten, verloren 5,8 Prozentpunkte und erreichten nur knapp das Quorum von vier Prozent. Gegen den gesamteuropäischen Trend verzeichneten auch die an der aktuellen Minderheitsregierung beteiligten Grünen herbe Verluste: Mit vier Prozent weniger als 2014 kamen sie auf 11,4 Prozent und mussten zwei ihrer vier Sitze im Europaparlament abgeben. Just in dem Land, in dem die internationale Bewegung gegen die vorherrschende Klimapolitik ihren Ausgang nahm, spielte das Klimathema offenkundig keine zentrale Rolle. Dass die rot-grüne Regierung auf dem besten Wege ist, ihre hochgesteckten Klimaziele zu verfehlen, hatte nur geringfügige Auswirkungen auf das Wahlergebnis.
Die Auseinandersetzungen im Wahlkampf lieferten weitere Belege für die Kooperation zwischen der rot-grünen Regierung und den beiden liberalen Parteien in klarer Frontstellung gegen den Rechtspopulismus und konservative Positionen der Moderaten und der Christdemokraten.
Dietmar Dirmoser, Leiter des FES-Büros in Stockholm
Brüssel – EU-Parlament mehrheitlich pro-europäisch
Das Lager der proeuropäischen Parteien stellt mit knapp 500 der insgesamt 751 Sitze weiterhin deutlich die Mehrheit im europäischen Parlament. Allerdings hat sich das Kräfteverhältnis zum Vorteil der Liberalen ALDE und der Grünen Allianz verschoben. Die Mitte-Rechts-Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) mit dem deutschen Spitzenkandidaten Manfred Weber erhielt mit voraussichtlich 180 Sitzen zwar erneut die Mehrheit, lag aber wie erwartet mit knapp 24 Prozent unter dem Ergebnis von 2014. Die Mitte-Links-Fraktion der Sozialdemokraten und Sozialisten (S&D) kann mit 146 Sitzen rechnen und wird damit wohl 39 verlieren. Sie erhielt insgesamt 19,4 Prozent der Stimmen.
Die Fraktion der Liberalen landet vor allem dank der französischen En Marche von Präsident Macron auf Platz drei. Sie erreichten knapp über 14 Prozent und erhalten damit 109 Sitze im neuen Parlament. Das Bündnis der Grünen und der Freien Allianz erhielt vor allem durch das sehr gute Ergebnis der Grünen in Deutschland, Frankreich und Belgien starken Zuwachs. Mit 9,2 Prozent können sie im neuen Parlament mit 69 Sitzen rechnen.
Die 12 rechten Parteien, die zuletzt in Mailand unter der Führung von Matteo Salvini ihre Absicht verkündeten, eine gemeinsam Fraktion zu bilden, erhalten nach dem vorläufigen Wahlergebnis zusammen 78 Sitze.
Voraussichtlich werden sich zwischen den Gruppierungen noch einige Verschiebungen ergeben. Offen ist zum Beispiel, ob die ungarische Fidesz in der EVP bleibt und was mit der polnischen PiS geschieht.
Renate Tenbusch, Leiterin des FES-Büros in Brüssel