Ein umstrittenes Reformprojekt wird von der französischen Regierung angekündigt. Als Reaktion darauf gehen Hundertausende im ganzen Land auf die Straße. Schließlich dreht sich die öffentliche Debatte nur noch um die Frage, wer als Sieger aus diesem sozialen Konflikt hervorgeht, bis eine der beiden Seiten einen fragilen Sieg davonträgt. Für viele in Deutschland, die nach Frankreich blicken, stellt sich das Gefühl eines „Déjà-vu“ ein, viele schütteln den Kopf über ein Ritual der Konfliktaustragung, das sich seit Jahrzehnten nicht zu ändern scheint. Genau in dieses Bild passt auch der aktuelle Streit um die von Präsident Macron angestrebte Rentenreform, die auf den erbitterten Widerstand der Gewerkschaften und der linken Opposition stößt und massive Proteste ausgelöst hat. Am ersten Protesttag gingen weit über eine Million Menschen gegen die Reform auf die Straße. Für den 31. Januar werden ähnlich viele Protestierende erwartet.
Dabei scheint Macrons Reformvorhaben auf den ersten Blick keine besonders drastischen Einschnitte für die französische Bevölkerung mit sich zu bringen: Zur mittelfristigen finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversicherung, für die Frankreich im Übrigen im europäischen Vergleich mit den höchsten Anteil der nationalen Wirtschaftsleistung aufbringt, soll das Renteneintrittsalter in mehreren Schritten bis 2030 von heute 62 auf dann 64 Jahre angehoben werden. Dies soll einhergehen mit einem Vorziehen der bereits von François Hollande eingeleiteten Verlängerung der Mindestbeitragsdauer von 42 auf 43 Jahre. Begleitet werden sollen diese Maßnahmen durch Schutzgarantien für Bezieher von Niedrigrenten sowie für Versicherte, die früh ins Arbeitsleben eingetreten sind und deshalb lange Beitragszeiten haben, und für diejenigen mit besonders belastenden Arbeitsbedingungen. Es sieht also nach einer Reform mit moderaten Zumutungen bei gleichzeitigen sozial sensiblen Kompensationen aus. Und trotzdem wenden sich die traditionell zerstrittenen französischen Gewerkschaften ent- und geschlossen gegen dieses Reformvorhaben, und werden dabei von allen linken Parteien entschieden unterstützt. Wie erklärt sich dieser massive Widerstand gegen die Reformpläne der französischen Regierung? Ist dieser nur Ausdruck der traditionellen Protestkultur der französischen Arbeiterbewegung oder wird er getragen von seriösen und legitimen Bedenken?
Anders als von Macron dargestellt, war seine Wiederwahl kein Plebiszit für die Rentenreform.
Fünf Punkte befeuern die Ablehnung des Reformprojektes. Erstens war, anders als von Macron dargestellt, seine Wiederwahl kein Plebiszit für die Rentenreform. Macron sieht geflissentlich darüber hinweg, dass er in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl, bei dem für die Wahlentscheidung in erster Linie das Wahlprogramm ausschlaggebend ist, lediglich 27,85 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt. Dass er sich dann in der Stichwahl gegen Marine Le Pen durchsetzen konnte, verdankt er vor allem den Stimmen aus dem linken Lager, die damit einen Wahlsieg seiner rechtsextremen Kontrahentin verhindern wollten.
Als Zustimmung zu Macrons sozialpolitischem Wahlprogramm kann dies keineswegs gelten, wie er selbst unmittelbar nach der Wahl eingestand. In Umfragen sprechen sich etwa zwei Drittel der Befragten gegen das Rentenprojekt der Regierung aus. Auch die Ergebnisse der nachfolgenden Wahlen zur Nationalversammlung lassen sich schwerlich als Plebiszit für seine Pläne zur Rentenreform interpretieren: Vielmehr verlor seine Partei Renaissance dabei fast die Hälfte ihrer Parlamentssitze und verfügt auch zusammen mit ihren Bündnispartnern über keine absolute Mehrheit mehr
Zweitens: Gewerkschaften und linke Parteien kritisieren am Reformvorhaben weiter, dass dem Rentensystem keine finanzielle Notlage droht, mit der die Regierung ihr Vorhaben jedoch begründet. Mit der Reform sollen bis 2030 Mehreinnahmen in Höhe von 18 Milliarden Euro erzielt werden – von denen wiederum vier Milliarden in Ausgleichmechanismen investiert werden sollen. Unumstritten ist, dass es ab 2023 über Jahre hinweg ein Milliardendefizit in den Rentenkassen geben wird. Allerdings gibt es unterschiedliche Einschätzungen darüber, wie sich dieses Defizit auf die Stabilität des Rentensystems auswirken wird. Der Conseil d’orientation des retraites – ein Gremium aus Vertretern der Regierung, der Nationalversammlung und der Sozialpartner sowie Beratern der Regierung in Rentenfragen – prognostiziert in seinem jüngsten Bericht für die Jahre bis 2032 ein jährliches Defizit von etwa 12 bis 15 Milliarden Euro.
Doch hält der Bericht auch fest, dass es zu „keiner unkontrollierten Ausgabenentwicklung“ kommen wird. Bei einem Gesamtvolumen der jährlichen Ausgaben der Altersvorsorge von 350 Milliarden Euro bewegt sich das Defizit zwischen drei und vier Prozent. Auch der Anteil der Rentenausgaben an der Wirtschaftsleistung wird in den kommenden Jahrzehnten relativ stabil bei rund 14 Prozent verharren. Diese langfristige Stabilisierung ist auf zwei Faktoren zurückzuführen: Zum einen ist die demografische Entwicklung in Frankreich vorteilhafter als in anderen Ländern der EU und zum anderen werden Reformen, die schon früher auf den Weg gebracht wurden, dazu führen, dass bis 2038 das tatsächliche Renteneintrittsalter durchschnittlich bei knapp 64 Jahren liegen wird. Aus Sicht der Gewerkschaften ist die Zukunft des Rentensystems deshalb nicht wirklich gefährdet.
Schon jetzt ist ein beträchtlicher Anteil der älteren Arbeitnehmer vor dem Renteneintritt entweder langzeitarbeitslos oder berufsunfähig.
Drittens: Stattdessen führe die Reform zu einer ungleichen und ungerechten Lastenverteilung. Es sind ausschließlich die aktiven Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denen mit dem Hinausschieben des Renteneintrittsalters Opfer zur Stabilisierung des Rentensystems abverlangt werden. Von den Unternehmen oder auch den derzeitigen Rentenempfängern wird hingegen kein Beitrag eingefordert. Besonders erzürnen sich die Gewerkschaften daran, dass die bloße Anhebung des Mindestalters bei Renteneintritt von 62 auf 64 Jahre bei gleichzeitiger Beibehaltung der aktuellen Beitragsdauer überwiegend die sozial schwächeren Erwerbsgruppen treffen wird. Da bei den heute geltenden Regeln für den Bezug einer abschlagsfreien Rente neben dem Mindestalter von 62 Jahren auch 42 Beitragsjahre (bzw. ab 2027 43 Jahre) Bedingung sind, gehen qualifizierte beziehungsweise besser gestellte Erwerbstätige, die erst relativ spät in den Arbeitsmarkt eingetreten sind, bereits heute – also auch ohne Reform – deutlich später als mit 62 Jahren in Rente.
Die Anhebung des Mindestalters für den Rentenbeginn auf 64 ändert an ihrer Situation dann wenig beziehungsweise nichts. Ganz anders sieht es dagegen für diejenigen aus, die bereits früh ins Arbeitsleben eintreten und oft harte Arbeitsbedingungen haben. Nur für sie bedeutet die geplante Reform ein Herausschieben des tatsächlichen Rentenalters und eine Verlängerung der Beitragszeiten. Auch wenn die Regierung für besonders frühe Berufseinsteiger Ausgleichsregelungen vorgesehen hat, würden sich die Lasten der Reform vornehmlich auf prekäre Beschäftigte, Frauen und Arbeitnehmer der unteren Mittelschicht konzentrieren. Hier ziehen die Gewerkschaften eine rote Linie.
Viertens: Darüber hinaus wird an Macrons Plänen kritisiert, sie würden bestehende arbeitsmarktpolitische Probleme verschärfen. Zwar würde das auf kurzfristige Einsparungen fokussierte Reformprojekt von Macron die Rentenkassen schnell wieder ins Gleichgewicht bringen, dafür jedoch an anderer Stelle erhebliche Probleme verursachen. Ein Kernproblem des französischen Arbeitsmarktes mit negativen Auswirkungen auf das Rentensystem liegt in der prekären Lage der älteren Arbeitnehmerschaft. Schon jetzt ist ein beträchtlicher Anteil der älteren Arbeitnehmer vor dem Renteneintritt entweder langzeitarbeitslos oder berufsunfähig.
Das staatliche Forschungsinstitut DREES schätzt ihren Anteil auf 40 Prozent der älteren Beschäftigten. Entsprechend lag die Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen in Frankreich im Jahr 2021 nur bei 56 Prozent (in Deutschland dagegen bei knapp 72 Prozent), die der 60- bis 64-Jährigen gar nur bei 33,1 Prozent. Der Grund für diese niedrige Beschäftigungsquote liegt in einem Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren: diskriminierende Personalpolitik, Defizite bei der Prävention von Arbeitsunfällen und Arbeitsbelastung sowie Mängel in Aus- und Weiterbildung. Ohne gezielte und wirksame Maßnahmen zur Anhebung der Beschäftigungsquote für ältere Arbeitnehmer würde die Verlängerung der Regelarbeitszeit zu einem beachtlichen Zuwachs der Ausgaben der Arbeitslosen- und der Krankenversicherung führen. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge würden die durch die Rentenreform erwarteten Einnahmen zu einem beachtlichen Anteil wieder durch soziale Mehrausgaben für Leistungsempfänger der Arbeitslosen- und Krankenversicherung aufgezehrt.
Im französischen Rentenstreit prallen zwei Welten mit grundverschiedenen Lebensrealitäten aufeinander.
Fünftens: Die Kritik an dem Reformvorhaben geht allerdings nicht so weit, dass alles beim Alten bleiben soll. Die französischen Gewerkschaften haben selbstverständlich keinerlei Interesse an einem defizitären Rentensystem. Sie haben deshalb eigene Reformvorschläge gemacht, um die in den nächsten Jahren erwarteten Einnahmendefizite auszugleichen. Dabei setzen sie auf einen Mix aus finanz- und arbeitspolitischen Instrumenten, ohne dass an der Stellschraube Rentenalter gedreht wird. Eine erste Option wäre die Erhöhung von Steuern oder Beiträgen. Allein die Erhöhung des Beitragssatzes um 0,8 Prozent würde für Einnahmen von zwölf Milliarden Euro sorgen.
Einen anderen Ansatzpunkt sehen die Gewerkschaften in der Bildungs- und Arbeitspolitik. Wie bereits zuvor erwähnt haben sie dabei die äußerst niedrige Beschäftigungsquote älterer Menschen im Blick. Durch gezielte Maßnahmen zur Qualifizierung, zur Arbeitsschutzprävention, zur Anpassung der Personalpolitik und zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen sollen positive Anreize zu einer längeren Beschäftigungszeit gesetzt werden. Laurent Berger, der Vorsitzende der als gemäßigt geltenden Gewerkschaft CFDT hat darauf hingewiesen, dass allein eine Anhebung der Beschäftigungsquote der 60- bis 64-Jährigen von 33 auf 45 Prozent ausreichen würde, um die erwarteten Defizite im Rentensystem auszugleichen.
Was folgt daraus? Im französischen Rentenstreit prallen zwei Welten mit grundverschiedenen Lebensrealitäten aufeinander. Aus dem massiven Protest der Gewerkschaften spricht nicht zuletzt das Gefühl von Frust und Ungerechtigkeit, das sich in der französischen Arbeitsgesellschaft breit gemacht hat. Dieses Ungerechtigkeitsempfinden hat seine Ursachen nicht alleine in dem von Inflation, postpandemischem Trauma und der Krise der Daseinsvorsorge (Schule, Gesundheitssystem, Transport) geprägten aktuellen sozialpolitischen Kontext, den die Franzosen mit großer Sorge erleben. Es speist sich nicht zuletzt aus den konkreten Erfahrungen im Arbeitsalltag: In vielen Bereichen der Arbeits- und Lebenswelt liegen französische Arbeitsbedingungen weit unter europäischen Standards, sei es beim Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz oder in der Weiterbildung.
Hinzu kommen rigide Hierarchien und eine vertikale Managementkultur in den Unternehmen sowie das sich verstärkende Empfinden, dass die eigene Leistung nicht anerkannt wird. Dies ist der Hintergrund für den erbitterten Widerstand der Arbeitnehmer, auf den die Reformpläne der Regierung stoßen. Verlieren sie diese Auseinandersetzung, wird sich das Lager der selbstempfundenen „Modernisierungsverlierer“ vergrößern – mit folgenschweren Konsequenzen für das politische System. Wenn aus der Analyse der Gewerkschaften ein Kritikpunkt nachdenklich machen sollte, dann vor allem dieser: Mit der Rentenreform der Regierung wird der Einzug des Rechtspopulismus in den Elysée-Palast nicht verhindert, sondern wahrscheinlicher gemacht.