Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 lebten in Polen die politischen Auseinandersetzungen wieder auf. Die Bewertung der Geschichte der Volksrepublik Polen, Frauenrechte, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche und die Gestaltung der Wirtschaftsreformen weckten enorme gesellschaftliche Emotionen. Jeder dieser Punkte verschärfte die Spaltung zwischen links und rechts.

In einem Punkt herrschte jedoch Einigkeit: Bei der Wahl der politischen und militärischen Bündnisse, in denen sich Polen nach der Befreiung aus der sowjetischen Einflusssphäre wiederfinden sollte. Die Richtung war klar: nach Westen. Wie? So schnell wie möglich! Die ersten Regierungen der Dritten Republik Polen erkannten die Schwäche Russlands unter Boris Jelzin und sahen darin eine einmalige Chance, „in das Reich der Freiheit“ zu gelangen. Die überwiegende Mehrheit der Länder der Region nutzte diese historische Chance, wie der Beitritt jedes einzelnen der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten zur NATO beweist. Leider hat die Ukraine diese Chance nicht genutzt, was indirekt zu den russischen Aggressionen 2014 und 2022 führte.

Polen machte sich, anders als Deutschland, in den letzten dreißig Jahren keine Illusionen über Russland.

Polen machte sich, anders als Deutschland, in den letzten dreißig Jahren keine Illusionen über Russland. Der „Wandel durch Annäherung/Handel“, der das Wesen der Ostpolitik ausmachte, erwies sich nicht nur als unwirksam, sondern wurde vom Putin-Regime zynisch ausgenutzt. Als der polnische Präsident Lech Kaczyński während der russischen Aggression gegen Georgien im Jahr 2008 erklärte, „wir wissen sehr wohl, dass heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten und später vielleicht mein Land, Polen, an der Reihe sind“, hat der Westen, einschließlich Berlin, nicht auf diese Warnungen gehört. Zum Nachteil Europas.

Polen begrüßt die nun erfolgte Kehrtwende in Deutschland nicht nur mit Freude – gestützt auf die Überzeugung, dass es mit seiner Einschätzung von Putins Russland richtig lag –, sondern auch mit dem Pragmatismus, der dem Land eigen ist. Die Mitgliedschaft in der NATO und der Europäischen Union sind wesentliche Verstärker für die polnische Sicherheit – Heilmittel gegen die Traumata des Verlusts des Zweiten Weltkriegs und der politischen Unabhängigkeit, die drei Generationen von Polen geprägt haben. Viele Jahre lang wurde das pazifistische und „russlandsensible“ Deutschland vom Großteil der politischen Elite an der Weichsel als unsicherer und wankelmütiger Staat wahrgenommen, auf den man im Falle einer Bedrohung aus dem Osten sicher nicht zählen könne. Hinzu kamen Nord Stream 1 und 2, die den polnischen und mitteleuropäischen Interessen zuwiderliefen und für immer mit der Kurzsichtigkeit der Ostpolitik von Angela Merkel verbunden bleiben werden.

In Warschau stellt man sich die Frage, wie lange der von Olaf Scholz eingeleitete Wandel anhalten wird.

In Warschau stellt man sich die Frage, wie lange der von Olaf Scholz eingeleitete Wandel anhalten wird, wie lange Berlin „Polnisch“ sprechen wird, wenn es um die Bedrohung der freien Welt durch Russlands aggressives Vorgehen geht. Politiker aller Lager rätseln, wie lange Deutschland auf seinem neuen „realistischen“ Weg bleiben wird. Der Ausstieg aus den russischen Gaslieferungen und die gegen Russland verhängten Sanktionen werden sich als kostspielig erweisen. Die Frage ist, ob Deutschland den Preis dafür zahlen wird. Ein Mangel an Konsequenz wird jedoch entscheidende Folgen sowohl für das Image Deutschlands selbst als auch für das gesamte Projekt der Europäischen Union haben.

Unklar ist allerdings auch, wie Polens Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) auf lange Sicht reagieren wird. Einerseits feiert der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nach der Sonntagsrede von Scholz Triumphe, weil sein Besuch in Berlin am Vortag, wie er behauptet, „das Gewissen Deutschlands erschüttert“ habe. Andererseits sollten wir uns daran erinnern, dass Vize-Ministerpräsident Jarosław Kaczyński im Januar in der Wochenzeitung Sieci erklärte: „Die Bezeichnung ‚Viertes Reich‘ ist [...] legitim. Die Deutschen verkünden offen, dass sie es sind, die entscheiden [...]. Sie fordern die offizielle Anerkennung der deutschen Vorherrschaft. Und man kann der neuen deutschen Koalition in gewisser Weise dankbar dafür sein, dass sie die Sache klargestellt hat, indem sie das Ziel der Schaffung eines europäischen Bundesstaates erklärt hat, natürlich unter ihrer Führung.“ Es könnte sich also herausstellen, dass die polnische nationale Rechte aufhören muss, Deutschland als Bedrohung zu sehen – so wie Deutschland seine Haltung gegenüber Russland revidiert hat. Selbst PiS-Wähler könnten in einer engeren Zusammenarbeit zwischen Warschau und Berlin eine Chance sehen, ihre Sicherheit zu erhöhen.

Es ist höchste Zeit, dass der Westen – mit der Unterstützung Deutschlands – begreift, dass das Handeln Polens nicht von irgendwelchen historischen Phobien geleitet wird, sondern von realen Bedrohungen durch den Kreml, denen wir gegenüberstehen.

Gemeinsames politisches Handeln von Warschau und Berlin zur Verteidigung der Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine könnte – bei allen Unsicherheiten – den Grundstein für ein neues Sicherheitstandem auf dem Alten Kontinent legen. Ein Duo zweier Staaten, die verstanden haben, dass es bei diesem Thema keinen Freifahrtschein gibt und dass die Vereinigten Staaten nicht immer sofort zu Hilfe kommen werden. Aufgrund seiner geopolitischen Lage und Größe könnte Polen die Ankündigung der Bundeswehr, ihr Potenzial zu vergrößern, auch als Chance begreifen, die polnische Armee zu stärken. Die polnische Aufforderung, die Zahl der vor Ort stationierten Soldaten zu erhöhen und ein effektives Raketen- und Luftabwehrsystem in Polen und den baltischen Staaten zu schaffen, verhallt seit Jahren ungehört. Es ist höchste Zeit, dass der Westen – mit der Unterstützung Deutschlands – begreift, dass das Handeln Polens nicht von irgendwelchen historischen Phobien geleitet wird, sondern von realen Bedrohungen durch den Kreml, denen wir gegenüberstehen.