Die Sommersitzung der Parlamentarischen Versammlung der OSZE vom 6. bis 9. Juli in Minsk war möglicherweise eines der strategisch wichtigsten Ereignisse in der Geschichte des unabhängigen Weißrussland. Bedingt durch die Dauerkrise in den Beziehungen zwischen Weißrussland und seinen westlichen Partnern verlief die Sitzung zwar erwartungsgemäß konfrontativ. Doch ungeachtet der üblichen gegenseitigen Vorwürfe haben die Parteien mögliche Perspektiven einer Normalisierung und Gestaltung von vertrauensvolleren Beziehungen umrissen. Darauf weist eine Reihe von neuen diplomatischen Initiativen hin, die in der Sitzung ergriffen wurden.   

Dazu zählt vor allem die Initiative von Weißrussland, einen „zweiten Helsinki-Prozess“ anzustoßen. Der Helsinki-Prozess hatte in den 1970er Jahren erstmalig zu blockübergreifenden Verhandlungen und der Gründung der OSZE geführt. Alexandr Lukaschenko ließ verlauten, eine solche Initiative könne verhindern, dass der Kalte Krieg in einer noch tragischeren Form wiederauflebt. Der weißrussische Präsident betonte, dass der neue Helsinki-Prozess die strategische Vision neuer konstruktiver Beziehungen im OSZE-Raum umfassen solle.

Weissrussland bemüht sich folglich darum, für sich den Ruf eines regionalen Vermittlers und einer friedensstiftenden Plattform in Anspruch zu nehmen. Dieser Strategie der weißrussischen Staatsführung liegen zwei wesentliche Motive zugrunde, die Lukaschenkos Bereitschaft zu diplomatischen Zugeständnissen erhöhen.  

Erstens ist Weißrussland mit seinem Ruf als „letzte europäische Diktatur“ an seine Grenzen gestoßen. Diese Situation beeinträchtigt die Entwicklungsperspektiven des Landes und behindert seine Zusammenarbeit mit Industriestaaten. Zweitens ist Lukaschenko bestrebt, durch den Aufbau möglichst diverser diplomatischer Beziehungen die Sicherheit seines Landes zu erhöhen. Angesichts der äußersten Instabilität in der Region sollen möglichst viele diplomatische Fäden gesponnen werden, um die Sicherheit des Landes zu erhöhen und Gefahren aller Art entgegenzuwirken.

Mit seiner Helsinki-Initiative und der Absicht, vertrauensvollere Beziehungen mit dem Westen herzustellen hat Weißrussland in den letzten Tagen zwei umstrittene Entscheidungen in Bezug auf Russland getroffen. Vier von sechs Mitgliedern der weissrussischen Delegation unterstützten die Schlusserklärung der OSZE-Sitzung, in der „die Aggression Russlands gegen die Ukraine“ und die „vorübergehende Besetzung der Krim und Sewastopols“ verurteilt werden. Bisher ist noch nicht zu erkennen, wie sich dieses Abstimmungsverhalten auf die Beziehungen zu dem engsten Verbündeten und wichtigsten Energielieferanten auswirkt. Aber bereits kurz nach der Sitzung waren weissrussische Diplomaten darum bemüht, die Schärfe dieser Formulierung abzumildern. Ein Delegationsvertreter und Abgeordneter des weißrussischen Parlaments, Waleri Woronezki, der für die Schlusserklärung gestimmt hat, betonte, dass die weissrussische Delegation gar nicht gegen die Minsker Erklärung hätte stimmen können.

Eine weitere Entscheidung, die gewisse Folgen nach sich ziehen wird, ist die Einstellung von Weißrussland zu den gemeinsamen strategischen Manövern der russischen und weissrussischen Streitkräfte „West 2017“. Am Schluss der Sitzung erklärte das weissrussische Außenministerium, das Land werde zu den Manövern internationale Beobachter der UNO, OSZE, NATO, GUS, des russisch geführte Militärbündnis OVKS, des Roten Kreuzes aus Lettland, Litauen, Polen, der Ukraine, Estland, Schweden und Norwegen sowie die bei Botschaften in Weißrussland akkreditierten Militärattachés einladen. Bemerkenswerterweise ist Weißrussland völkerrechtlich dazu nicht verpflichtet, denn die Gesamtzahl der an den Manövern beteiligten Truppen übersteigt nicht 13 000 Mann. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass diese Entscheidung nicht nur darauf gerichtet ist, den Ruf des Landes in der internationalen Öffentlichkeit zu verbessern. Ihr liegen auch die in der weissrussischen Medienlandschaft zunehmend an Aufmerksamkeit erregende Befürchtungen zugrunde, wonach eine unkontrollierte Stationierung russischer Truppen auf dem Gebiet des Landes möglich ist. In diesem Fall sollten internationale Organisationen Garantien dafür übernehmen, dass der Zeitrahmen des Aufenthalts der russischen Streitkräfte auf dem Gebiet von Weißrussland strikt dem des Manövers entspricht.   

Insgesamt ist die Sitzung der OSZE aus Weißrusslands Perspektive zu einer strategisch ausbalancierten Veranstaltung geworden, die auf eine Annäherung zwischen Weißrussland und dem Westen abzielt. Dies bedeutet, dass dem Land zum wiederholten Mal ein Vertrauensvorschuss zugestanden wird, durch den man bemüht ist, auf Entscheidungen der höchsten Staatsführung Einfluss zu nehmen. Dieser Eindruck wird dadurch bestätigt, dass die Kritik an Weißrussland von nun an „handhabbarer“ geworden ist, und womöglich auf vorherige Absprachen begrenzt wird. So hat zum Beispiel ein Ausschuss der OSZE den litauischen Resolutionsentwurf, der eine harte Kritik an Weißrussland enthielt, abgelehnt. Interessanterweise erhob sogar der schwedische Abgeordnete Kent Härstedt in seiner Rede Vorwürfe gegen litauische Diplomaten. Dabei schien der Resolutionsentwurf des litauischen Parlamentariers Laurynas Kasciunas eine Reihe von einwandfreien Vorwürfen gegenüber dem offiziellen Minsk zu enthalten. Darin wurde Weißrussland aufgefordert, politische Gefangene zu rehabilitieren, die Todesstrafe auszusetzen, das Wahlsystem zu reformieren, Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu respektieren sowie den Bau des einzigen weissrussischen Atomkraftwerks an der Grenze zu Litauen einzustellen. Innere Unstimmigkeiten dieser Art in der Art der Kritik an Weißrussland ist westeuropäischen Parlamentariern normalerweise fremd.

Darüber hinaus wurde in der Schlussdeklaration die früher angenommene Resolution über Osteuropa mit Kritik gegen Weißrussland gestrichen. Noch zuvor hatte der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Angelegenheiten der OSZE diese beschlossen. Bei der Kritik an Weißrussland ging es um fehlende Transparenz bei den Wahlen, Beschränkungen der freien Meinungsäußerung, Festnahmen von Teilnehmern an Protestaktionen und politische Gefangene. Dies zeugt davon, dass Kritik und Maßnahmen diplomatischer Einwirkung auf Weißrussland derzeit nicht länger strategisch verfolgt werden.

Außerdem haben die ranghöchsten Beamten Weißrusslands sich mehrmals mit dem OSZE-Beauftragten für Freiheit der Medien getroffen haben, der von Minsk offiziell eigentlich nicht anerkannt wird. Er hat die Sitzung persönlich besucht und von vorläufigen Vereinbarungen über die Vorbereitung von Maßnahmen berichtet. Der Diplomat bestätigte Treffen mit einigen hochrangigen Vertretern des Staates in Brüssel, Genf und Wien.

Ungeachtet einer für Weißrussland ziemlich erfolgreichen OSZE-Sitzung und des Übermaßes an politischem Symbolismus befindet sich das Vertrauen im Verhältnis zwischen Weißrussland und der EU sowie den USA aber auf einem kritisch niedrigen Niveau. Der Schwerpunkt der Kritik an der politischen Führung von Weißrussland liegt seit mehr als 20 Jahren auf dem Problem der Menschenrechte. Darauf sollten sich die diplomatischen Bemühungen von Weißrussland konzentrieren. Entwickelte Demokratien geben deutlich zu verstehen, dass der Dialog ohne Anerkennung der grundlegenden Werte der Demokratie nicht möglich ist. Eine Wiederaufnahme der Sanktionen, die EU und USA seit 2004 bzw. 2006 jährlich verlängert haben, ist deswegen auch nicht ausgeschlossen.

Es sei darauf hingewiesen, dass Weißrussland von mehreren Diplomaten besucht wird, die mit der Staatsführung in einem offenen Konflikt liegen. Während der Sitzung traf sich der Abgeordnete des US-amerikanischen Kongresses und Ko-Vorsitzender des Ausschusses für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Chris Smith mit Präsident Lukaschenko. Smith ist der Autor von Sanktionsbeschlüssen der USA gegen Weißrussland (2004, 2006, 2011) und von Lukaschenko früher persönlich zum Feind des weissrussischen Volkes erklärt worden. Es sei daran erinnert, dass Visa- und wirtschaftliche Sanktionen gegen Weißrussland 2016 nach der Freilassung von politischen Gefangenen vorübergehend aufgehoben wurden. Dennoch richten sich die Vorwürfe internationaler Menschenrechtsorganisationen weiterhin unablässig gegen die Todesstrafe in Weißrussland, die beklagenswerte Lage der politischen Opposition, Beschränkungen der Meinungsfreiheit und andere Probleme und rücken sie somit in den Fokus der Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft. Der Kongress-Abgeordnete wies nachdrücklich darauf hin, dass nach den für Oktober geplanten Treffen mit US-Außenminister Rex Tillerson und Vizepräsidenten Pence der Beschluss über die Wiederaufnahme von Sanktionen nicht ausgeschlossen sei.