Die Bundestagswahl 2017 ist Geschichte und mit ihr die jahrzehntelang eingeübte Praxis parlamentarischer Mehrheitsbeschaffung in der Bundesrepublik. Denn soviel scheint klar zu sein: Künftig wird sich eine ausdifferenziertere Gesellschaft in einem breiteren Parteienspektrum niederschlagen. Das kann man beklagen, aber ein Blick ins europäische Ausland zeigt, dass Deutschland hier bislang ohnehin eher Ausnahme denn Regelfall war. Gesucht ist also eine Antwort auf die Frage, wie sich ein demokratischer Wettstreit unter den veränderten Bedingungen mit sechs und mehr Parteien organisieren lässt – und was das für die Regierungsbildung heißt.

Die Lage nach der Wahl scheint im erlernten Diktum der Merkel’schen Alternativlosigkeit nur eine vernünftige Option zuzulassen: die Jamaika-Koalition. Doch auch hier lohnt der Vergleich mit unseren europäischen Nachbarn, die viel Erfahrung mit alternativen Formen der Regierungsbildung haben. Ungefähr ein Drittel aller Regierungen der Nachkriegszeit waren Minderheitsregierungen. Von Portugal, Spanien und Italien über die Niederlande und Irland bis hin zu den skandinavischen Staaten kennen die allermeisten parlamentarischen Regierungssysteme Westeuropas dieses Konzept. Es waren bei weitem nicht immer nur schwache, instabile Regierungen, wie das in Deutschland gerne suggeriert wird. Vor allem die skandinavischen Staaten eignen sich als Referenz, da die Grundzüge ihres parlamentarischen Systems wie nun auch die Zusammensetzung der Parlamente dem deutschen sehr ähnlich sind.

Das Konzept der Minderheitsregierung ermöglichte in Skandinavien jahrzehntelang stabile Mehrheitsbildungen.

Das Konzept der Minderheitsregierung ermöglichte in Skandinavien jahrzehntelang stabile Mehrheitsbildungen. Der vielbeschworene skandinavische Pragmatismus ist auch eine Folge des politischen Systems. Ein Parlament, in dem eine Fraktion – meist die stärkste und ohne eigene absolute Mehrheit – die Bildung der Regierung übernimmt und oft alle Minister stellt, ist ein Parlament, in dem aus Gründen der Legitimität alle Parteien ins Regierungshandwerk eingebunden werden müssen. Dieser Zwang wird in allen drei skandinavischen Ländern noch dadurch verstärkt, dass es keine institutionalisierten Vetomächte wie eine Länderkammer oder ein Verfassungsgericht gibt. Auf der Suche nach Mehrheiten haben die Regierenden zum Beispiel die Option, Umweltgesetzgebungen in Zusammenarbeit mit den Grünen oder Liberalen, Gesetze für die innere Sicherheit mit den sozialdemokratischen oder christlichen Parteien und Arbeitsgesetze mit Linken oder Konservativen zu verabschieden. Die Gewichtung der Arbeit in Ausschüssen ist signifikant höher. Dies verlangt – und fördert – die Bereitschaft aller vertretenen Parteien, flexibel Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu finden. Ideen können nicht rundheraus abgelehnt werden, nur weil sie vom politischen Gegner stammen.

Der weniger klare Gegensatz zwischen Regierung und Opposition zwingt die Regierung jedoch dazu, ihren eigenen Markenkern klar herauszuarbeiten, bevor sie auf die Suche nach Partnern für die Umsetzung von Gesetzesvorhaben gehen kann. Aufgrund der thematischen Begrenztheit der Zusammenarbeit – meist im politischen Kernfeld des Partners – kann bei schwacher eigener Verhandlungsposition ansonsten schnell der Eindruck aufkommen, fremdgesteuert zu sein. Zudem muss das Gesetz oft vom eigenen Minister umgesetzt und in der Öffentlichkeit vertreten werden. Auf der anderen Seite sind Interessensausgleiche, sprich Kompromisse und Gegenleistungen, meist klarer für die Öffentlichkeit erkennbar, weil sie nicht über eine ganze Legislaturperiode verteilt, sondern zeitnah und in ihren Grundlinien vor der Öffentlichkeit verhandelt werden. Der Preis für ein im Parlament unpopuläres Projekt, wie beispielsweise das der Maut, ist somit ungleich höher.

Natürlich gibt es auch beim traditionellen skandinavischen Modell der Minderheitsregierung verschiedene Spielarten. Die gerade im Amt bestätigte norwegische Regierung besteht aus einer festen Zweiparteien-Koalition, die nun weder über eine eigene Mehrheit noch die stärkste Fraktion verfügt. In Dänemark sicherte sich der konservative Premier Anders Fogh Rasmussen von 2001 bis 2011 per Vertrag die Tolerierung durch die Dänische Volkspartei. Er erhob damit nicht nur eine Partei zu seinem ersten Ansprechpartner, sondern gab ihr de facto Vetorecht. Der Mehrwert einer möglichen Minderheitsregierung besteht also schlicht darin, Handlungsoptionen zwischen eigener Mehrheit, die für jede Partei selbstverständlich das natürliche Ziel bleibt, und keiner Mehrheit aufzufächern.

Gleichwohl darf man nicht verschweigen, dass ein entscheidendes Erfolgsgeheimnis des skandinavischen Modells die Anwendung des negativen Parlamentarismus ist. Ein Gesetz gilt als angenommen, sobald sich keine Mehrheit gegen den Entwurf findet. Dies ermöglicht der Opposition im Konfliktfall gesichtswahrende Auswege zwischen den Polen Zustimmung und Ablehnung. Zum einen steht nicht nur das Abstimmungsverhalten der Regierung im Fokus, und eine Stimmenthaltung wird aufgewertet. Zum anderen ist die Hürde niedriger, mit einem eigenen Vorschlag eine relative Mehrheit zu erhalten und so eine Initiative an der Regierung vorbei zu starten. Eine zersplitterte Opposition hat es jedoch deutlich schwerer, einen Regierungsentwurf zu Fall zu bringen. Es gilt der Grundsatz „Probleme suchen sich Mehrheiten“.

Es gilt der Grundsatz „Probleme suchen sich Mehrheiten“.

Die oft vorgebrachte Gefahr einer Destabilisierung der Verhältnisse ist also nicht von der Hand zu weisen, wenn Parteien ihre Position nicht inhaltlich, sondern taktisch anwenden. Sie wird aber aufgewogen durch eine höhere individuelle Verantwortung aller Parteien für das Gesamtsystem, was in der Praxis zu Selbstregulierungsprozessen führt: Im Jahr 2014 beispielsweise zwangen die rechtspopulistischen Schwedendemokraten der rot-grünen Minderheitsregierung einen Haushalt der konservativen Opposition auf, indem sie sich dem Entwurf der Konservativen anschlossen. Das vergiftete Geschenk der Schwedendemokraten brachte die Konservativen allerdings in Schwierigkeiten. Sie wurden, auch von den übrigen kleinen, nicht an der Regierung beteiligten (und zum Teil mit den Konservativen verbündeten) Parteien auf einen Verhaltenskodex verpflichtet, der etwas derartiges in Zukunft verhindern sollte. Dieses Abkommen war zwar nicht von langer Dauer, aber entscheidend ist, dass ein Prozess der Selbstregelung innnerhalb der parlamentarischen Arena stattfand und letztlich auch erfolgreich war. Ein Spiegelbild für die Demokratisierung von Parlamentsarbeit, die nicht nur als Kulisse für die Regierungsarbeit fungiert.

Das Konzept der Miderheitsregierung geriet in Schweden erst in jüngster Zeit ins Wanken, weil der Gedanke einer trennscharfen Konfrontation zwischen bürgerlichen und linken Parteien in Blöcken Auftrieb erhielt. Die Bildung einer Allianz bürgerlicher Oppositionsparteien unter dem früheren Premier Fredrik Reinfeldt erreichte zwar ihr Ziel, die Dominanz der Sozialdemokraten in Stockholm zu brechen. Der Preis dafür war jedoch, dass die eigentlichen Stärken des Regierungssystems außer Kraft gesetzt wurden: Flexibilität und hohe Transparenz beim Interessensausgleich.

Die veränderte Logik der parlamentarischen Mehrheitsfindung hat zweifellos auch ihre Schattenseiten. Und als Wundermittel gegen rechtspopulistische Umtriebe kann sie mit Sicherheit nicht gelten. Doch die hier skizzierten Argumente auf der Habenseite sollten zumindest ergebnisoffen diskutiert werden: Das Potential, sich der Logik eines fragmentierteren Parlaments anzupassen, die transparentere Form des Interessenausgleichs, eine verantwortliche Einbindung aller kleineren Parteien und damit insgesamt eine demokratisierte parlamentarische Arbeit, die weniger ritualisiert ist – das alles kann ein Weg sein, um den Kern der politischen Willensbildung aus den Talkshows wieder ins Parlament zu holen.

Grund genug, den in Deutschland gern vorgebrachten Hinweis auf den Geist von Weimar zu entkräften, liefern sie allemal. Dieser Verweis verkennt ohnehin, dass der erste Versuch einer Demokratie in Deutschland nicht an der Minderheit seiner Regierungen, sondern am Mangel von Demokraten im Parlament scheiterte. Politik wäre anstrengender – mit Sicherheit. Aber warum sollte es nicht Zeit sein, das deutsche Stabilitätstrauma zu überwinden und auch im Parlament mehr Demokratie zu wagen?