Lesen Sie diesen Artikel auch aufRussisch und Englisch.

Weniger als zwei Wochen nach der offiziellen Wiedervereinigung Deutschlands erklärte das norwegische Nobelkomitee, der Friedensnobelpreis 1990 werde dem Präsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow verliehen. Die deutsche Einheit wurde zum Hauptsymbol des Wandels – genauso wie die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg für eine lange Zeit den Zustand des Kalten Krieges in Europa und in der Welt verankert hatte.

Man muss sich an ziemlich weit zurückliegende Zeiten erinnern, um das gegenwärtige Geschehen rund um den Fall Nawalny und die Debatten um die Pipeline Nord Stream 2 zu erfassen. Der deutschen „Ostpolitik“ lag immer die Frage der Sicherheit zu Grunde. Seit Anfang der 1970er Jahre wurde der Erdgashandel zwischen Westdeutschland und der Sowjetunion stetig ausgebaut. Gewiss waren sowohl für die Verbraucher als auch für die Lieferanten die materiellen Vorteile wichtig. Entscheidend aber war, dass der Erdgashandel zum Management der militärpolitischen Konfrontation beitrug. Gerade deshalb genehmigte die US-Administration die Steigerung der Gaslieferungen, obwohl sie die Verlegung der Pipelines von Ost nach West misstrauisch beäugte – wie auch heute.

Nach der Beendigung des Kalten Krieges aber zerbrach diese sicherheitspolitische Prämisse. Für die Europäische Union und Deutschland waren die Erdgasprojekte nicht länger ein notwendiger geopolitischer Anker. Sie wurden stattdessen zunehmend als wirtschaftlicher Faktor betrachtet. Zudem entwickelte sich in der Europäischen Union nach dem Beitritt der osteuropäischen Staaten eine ganz andere Sicht auf das russische Erdgas. Die neuen Mitglieder sahen darin nicht einen Stabilitätsfaktor, sondern ein Instrument der feindseligen Einflussnahme und des Lobbyismus.

Es ist nur logisch, dass nun mit Nord Stream 2 eine Gaspipeline Objekt einer derart hitzigen Polemik geworden ist. Die Lieferungen von Energieträgern nach Europa, in erster Linie nach Deutschland, bildeten seit einem halben Jahrhundert das Fundament unserer Beziehungen, und zwar nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik. Dieses Modell blieb auch in der neuen Zeit nach 1991 erhalten: Deutschland war nach wie vor der zentrale Partner Russlands in der EU. Die Energieinfrastruktur spielte eine systembildende Rolle. Zuerst hielt sie die Parteien von einer übermäßigen Zuspitzung der Konfrontation ab und später wurde sie als materielles Gerüst für den Aufbau eines „Großen Europas“ angesehen. Dieses „Große Europa“ stellte man sich als eine natürliche, ja sogar alternativlose geopolitische und geowirtschaftliche Perspektive des europäischen Raums vor.

Der Dialog zwischen Russland und dem Westen, wo Deutschland als Hauptgesprächspartner auftritt, sieht heute unwahrscheinlich skurril aus.

Das Problem des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen wurzelt in der Erschöpfung dieses Konzepts. Besonders krass tritt das am Beispiel Russlands und Deutschlands in Erscheinung. Die Erfahrungen der „Ostpolitik“ Willy Brandts und seiner Nachfolger, der deutschen Einheit unter Helmut Kohl und der Initiativen im Geiste der „Annäherung durch Verflechtung“ unter Gerhard Schröder und Frank-Walter Steinmeier hätten ein unverrückbares Fundament schaffen sollen. Entsprechend ist Moskau heute aufrichtig verwundert darüber, wie schnell das „besondere Verhältnis“ schwand. Die dunklen Wolken in der Beziehung hatten sich schon länger zusammengeballt, ihren Höhepunkt aber erreichten sie im Zusammenhang mit der Vergiftung Alexej Nawalnys, der in die Berliner Charité eingeliefert wurde.

Drei Jahrzehnte nach seiner Wiedervereinigung hat sich Deutschland aus einem Staat mit eingeschränkter Souveränität zur dominanten Kraft in der EU emanzipiert. Nun muss die Frage beantwortet werden, wie sich Berlin die Formen und Grenzen des europäischen Projekts vorstellt. Unter kommerziellem Aspekt und im Kontext der Liefersicherheit bleibt die Partnerschaft mit Russland nach wie vor wichtig. Im politischen Sinne aber wurde sie eher beschwerlich. Die Reibungen zwischen Russland und der Europäischen Union nahmen zu. Die EU hielt es nicht für nötig, Moskau Sonderbedingungen anzubieten, sie erwartete vielmehr, dass sich Russland den europäischen Regeln und Normen anpassen würde. Selbst in den besonders schwierigen 1990er Jahren zeigte sich Moskau nicht geneigt, diese Erwartungen konsequent zu erfüllen. Seine Bereitschaft, den Wünschen der EU nachzukommen, sank mit dem wirtschaftlichen Erstarken noch mehr. Je stärker die Differenzen mit Moskau wurden, desto mehr fokussierte sich die „Ostpolitik“ auf andere Länder: auf Mitteleuropa, das ohnehin schon EU-Gebiet geworden war, und auf die europäisch orientierten Teilrepubliken der ehemaligen Sowjetunion.

Der Dialog zwischen Russland und dem Westen, wo Deutschland als Hauptgesprächspartner auftritt, sieht heute unwahrscheinlich skurril aus. Vor 30 Jahren standen die Werte im Mittelpunkt des Dialogs. Damals meinte man, ganz Europa einschließlich Russland solle einen einheitlichen Werteraum errichten, wobei diese Werte auf der westlich-liberalen Grundlage basieren müssten. Die öffentliche Kritik an die Adresse Russlands bestand vor allem darin, dass es von diesem Wertekanon abgehe und dadurch zeige, dass es zu einer wahren Zusammenarbeit mit dem Westen nicht bereit sei.

Die Welt tritt in eine neue Epoche ein, der ethische und wertemäßige Pluralismus wird zur allgemeinen Realität, ganz gleich, wie man dazu in Europa auch stehen mag.

Man kann den Weg, den die russische Politik in den 30 Jahren zurückgelegt hat, unterschiedlich beurteilen. Klar ist jedoch, dass Moskau die Verhaltensregeln, die man damals von europäischer Seite nahegelegt hatte, nicht einhielt. Russland wird auch künftig diesem Werterahmen nicht folgen. Das hat weniger damit zu tun, dass seine eigene Evolution unumkehrbar ist. Vielmehr gilt dieser Wertekanon heute nicht mehr als universell. Die Welt tritt in eine neue Epoche ein, der ethische und wertemäßige Pluralismus wird zur allgemeinen Realität, ganz gleich, wie man dazu in Europa auch stehen mag.

In diesem Sinne möchte Russland eigentlich zu jener Zeit zurückkehren, wo die innere Staatsordnung kein Gegenstand von Diskussionen mit auswärtigen Partnern war. Im Idealfall wäre das die Anfangszeit der „Ostpolitik“, also die erste Hälfte der 1970er Jahre. Damals hätte man sich gar nicht vorstellen können, dass solch ein kostspieliges und strategisch wichtiges Projekt wie Nord Stream 2 wegen der persönlichen Angelegenheit eines Dissidenten in Frage gestellt worden wäre, selbst wenn dieser Dissident im Westen Sympathien erweckte.

Der heutige Dialog des Westens mit Russland hat im Grunde weder Vereinbarungen noch Kooperationen zum Ziel. Der Austausch von Statements zum Fall Alexej Nawalny ist ein Schauspiel, das nicht einmal für das breite Publikum, sondern für die Darsteller auf beiden Seiten dargeboten wird. Hier ist gar kein Ergebnis zu erwarten. Allein schon die Tatsache, dass die abstruse und logisch kaum zu erklärende Episode eine akute Krise von internationalem Ausmaß ausgelöst hat, veranschaulicht den heutigen Zustand des Verhältnisses zwischen Russland und den führenden Mächten des Westens. Der irrationale Charakter des Geschehens erlaubt nicht, auf einen vernünftigen und für alle annehmbaren Ausweg zu rechnen. Der Fall Nawalny ist nicht der einzige seiner Art.

Russland muss seine Prioritäten neu ordnen und ein adäquates Verhaltensmodell in der Welt finden, deren Mittelpunkt Asien und wichtigster Partner China ist.

Die wichtigste Veränderung besteht darin, dass Russland und der Westen füreinander nicht mehr so wichtig sind. Europa ist mit sich selbst beschäftigt. Für die Vereinigten Staaten stehen die internen Probleme und die Konfrontation mit China im Vordergrund. Russland muss seine Prioritäten neu ordnen und ein adäquates Verhaltensmodell in der Welt finden, deren Mittelpunkt Asien und wichtigster Partner China ist.

Versucht man, das Wesen der russisch-deutschen Beziehungen im Jahre 2020 maximal zu vereinfachen, ergibt sich folgendes Bild: Für Deutschland als stärkstes Land Europas ist die Ausdehnung des europäischen Modells nach Osten keine Priorität mehr. Russland, das seine Beziehungen mit Europa lange Zeit über alles schätzte, baut jetzt engere Kontakte mit Asien auf. Die konkreten Umstände, die die gegenwärtige Krise ausgelöst haben, sind also nicht Ursache, sondern nur Vorwand für einen Politikwechsel. Die Prioritäten driften aus objektiven Gründen auseinander, subjektive Faktoren verstärken die Dynamik noch.

Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine Kehrtwende geben kann. Russland als Kernland Eurasiens mit europäisch geprägter Kultur und Deutschland als stärkstes Land Europas, das in den bevorstehenden Jahren unausweichlich eine neue Identität erlangen muss, werden einander wieder nötig haben. Dazu wird es aber erst kommen, wenn sich eine neue Weltordnung mit klaren Konturen abzeichnet.