Der 24. Februar 2022 markiert ohne Zweifel einen Wendepunkt in der Geschichte des modernen Europa, wenn nicht im Gefüge der globalen Beziehungen insgesamt. Bis zu dem Tag, an dem Russland seinen Angriff auf die Ukraine startete, hatten die Europäer gehofft, nach dem Ende des Kalten Krieges könnte ihr großer Nachbar im Osten ein zuverlässiger Partner werden, dem sie vertrauen könnten. Dass Moskau die Krim annektiert und einen Krieg im Donbass provoziert, sich in Wahlen und Volksabstimmungen in anderen Ländern eingemischt und syrische Städte in Schutt und Asche gelegt hatte, war einerseits allen bewusst. Der politische Dialog hatte schon seit acht Jahren auf Eis gelegen. Andererseits trieben die Europäer weiterhin Handel mit russischen Staatsunternehmen, machten Geschäfte mit den Oligarchen und waren bemüht, bei der Lösung von Problemen in anderen Teilen der Welt mit dem Kreml zusammenzuarbeiten. Gewaltsame Veränderungen der politischen Landkarte würden sie niemals hinnehmen, aber es war zu spüren, dass sie einigermaßen naiv davon ausgingen, solche Revisionen würden das Alltagsgeschäft irgendwann nicht mehr behindern.

Hatte der Westen nicht mitbekommen, dass sich in Moskau ein politischer Wandel vollzog? Heute drängt sich der Eindruck auf, dass manche allzu langsam realisierten, dass Wladimir Putin nicht Boris Jelzin ist. Wir haben gemeinschaftlich den Hang des neuen Präsidenten und der neuen Eliten zum Imperialismus verkannt und, allgemeiner formuliert, die Sehnsucht der russischen Bevölkerung nach alter Größe nicht begriffen (die offenbar den Wunsch nach einem Leben in Wohlstand, einer offenen Gesellschaft und einem wohlorganisierten Staatswesen verdrängt hatte). Die sich mehrenden Indizien – zwei Kriege in Tschetschenien, der Krieg in Georgien, etliche schwelende Konflikte im postsowjetischen Raum, als Übertreibung gewertete aggressive Äußerungen (wie zum Beispiel bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2007) – wurden ignoriert. Die Weckrufe der beunruhigten Nachbarn Russlands verhallten ungehört. Sie warnten, Russland werde das Projekt Nord Stream garantiert missbrauchen, um den Gasmarkt zu politisieren und Mittel- und Westeuropa unter Druck setzen zu können, und fanden damit kein Gehör – ein markantes Beispiel für die westliche Fehleinschätzung.

Der Entwicklungsweg, den die Beziehungen bis dahin eingeschlagen hatten, ist zu Ende. Es ist schwer vorstellbar, dass es in den nächsten Jahrzehnten ein von Grund auf anderes Russland geben könnte, das mit der westlichen Vorstellung von den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen auf dem Alten Kontinent und in der Welt kompatibel wäre. Darum werden die NATO und die Europäische Union neue Strategien entwickeln müssen, um die Sicherheitsinteressen ihrer Mitgliedstaaten bestmöglich zu schützen.

Die Ordnung, die sich nach dem Krieg gegen die Ukraine herausbilden wird, dürfte auf Rivalität und Abgrenzung aufbauen.

Die Ordnung, die sich nach dem Krieg gegen die Ukraine herausbilden wird, dürfte auf Rivalität und Abgrenzung und weniger auf Empathie und dem Bemühen um Verständigung aufbauen. Man wird Russland weiter verübeln, dass es gegen das Völkerrecht verstoßen, Gräueltaten begangen und auf Aggression und Imperialismus gesetzt hat. 2022 stufte die NATO in ihrem Strategischen Konzept Russland als „die größte und unmittelbarste Bedrohung“ für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum ein. Es ist offensichtlich, dass die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten dies auch so sehen. Ändern könnte sich daran nur etwas, wenn sich in Russland eine demokratische und vorurteilsfreie Öffentlichkeit zu Wort melden würde – und zwar lautstark. Es ist also davon auszugehen, dass die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland in den kommenden Jahren auf einem niedrigen Niveau verharren werden. Das Misstrauen und eine Politik, die auf Resilienz und Eindämmung setzt, werden die Oberhand gewinnen.

Die Sanktionen sollten so lange in Kraft bleiben, bis Russland seine militärische Intervention in der Ukraine beendet, seine Truppen abzieht und sich bereiterklärt, die Staatsgrenzen von 1991 (dem Jahr der Auflösung der Sowjetunion) wiederherzustellen und uneingeschränkt zu respektieren. Das gilt insbesondere für die 1994 im Budapester Memorandum festgeschriebenen Grenzen und die Krim als Teil des ukrainischen Staatsgebietes. Außerdem sollte die vollständige oder auch nur allmähliche Normalisierung der Beziehungen an die Bedingung geknüpft werden, dass Russland sich bereiterklärt, diejenigen auszuliefern, denen Kriegsverbrechen in der Ukraine zur Last gelegt werden, Entschädigung für Kollateralschäden zu leisten und nicht mehr zu versuchen, direkt oder indirekt in die demokratischen Prozesse und Verfahren anderer Länder einzugreifen.

Die EU und die europäischen NATO-Mitglieder werden ihre Verteidigungsfähigkeit so ausbauen müssen, dass sie wirklich ein Gegengewicht zum russischen Militärpotenzial bildet – unabhängig davon, wie veraltet dieses Potenzial ist und künftig sein wird. Dies erfordert nach dem Ende dieses Krieges eine Aufstockung der Verteidigungsausgaben, die sich in den Folgejahren jedoch mehr als auszahlen werden.

Die Länder des Westens müssen bereit sein, nach Einstellung der Kampfhandlungen den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren. 

Die Länder des Westens müssen bereit sein, nach Einstellung der Kampfhandlungen den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren. Der Finanzbedarf wurde im Juni 2022 auf über 350 Milliarden Euro und im November 2022 bereits auf 600 Milliarden Euro geschätzt – und die Angriffe und die Zerstörung gehen weiter. Mit den vereinten Kräften von Partnern aus allen Regionen wird der Wiederaufbau mit Sicherheit gelingen, aber diese Kraftanstrengung muss eine europäische Dimension haben. Und: Von Deutschland wird garantiert erwartet, dass es an der Seite der Vereinigten Staaten die Führungsrolle übernimmt.

Die mitten im Krieg eingeleitete Heranführung der Ukraine an die Europäische Union sollte konsequent vorangetrieben werden und möglichst bald in eine Mitgliedschaft münden, ohne die Kohäsion und die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft dadurch zu beeinträchtigen.

Die Union wird die Ukraine dabei unterstützen, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft im eigenen Land zu stärken, damit sie innerhalb des EU-Systems funktioniert, und sich parallel dazu selbst einem erheblichen internen Veränderungsprozess unterziehen müssen. Die Ukraine ist inzwischen zum Wegbereiter für andere Beitrittsinteressenten wie die Westbalkanländer, die Republik Moldau und Georgien geworden, die nicht außen vor gelassen werden dürfen. Als Organisation mit über 30 Mitgliedstaaten braucht die EU einen neuen Modus Operandi und noch stärker integrierte Strukturen.

Da diese Anpassungen die Antwort auf eine Sicherheitsbedrohung darstellen werden, wird die Handlungsfähigkeit im Bereich der Sicherheitspolitik Teil der neuen Charakteristik der EU sein müssen. Die NATO stellt in der aktuellen Krise unter Beweis, dass auf sie Verlass ist, was zu einem großen Teil dem Engagement von Präsident Biden zu verdanken ist. Doch Europa muss unbedingt gerüstet sein, um auf mögliche Risiken reagieren zu können. NATO und EU müssen natürlich ineinandergreifen, sollten sich aber weder gegenseitig Konkurrenz machen noch sich überlagern.

Der NATO-Beitritt der Ukraine könnte sogar schon vor dem EU-Beitritt erfolgen.

Wenn der Krieg vorbei ist, sollte die Ukraine das Recht auf einen NATO-Beitritt haben. Ihre leistungsstarke und erfahrene Armee und die geografische Lage machen sie zu einem wertvollen neuen Mitglied. Praktisch betrachtet, könnte der NATO-Beitritt sogar schon vor dem EU-Beitritt erfolgen.

Angesichts des tiefen Grabens, der gegenwärtig in Europa zwischen dem Westen (Europäische Union, Europäischer Wirtschaftsraum, NATO, deren Mitgliedstaaten und gleichgesinnte Länder) auf der einen Seite und Russland und Belarus auf der anderen Seite ausgehoben wird, könnte es hilfreich sein, die OSZE als Kommunikationskanal zwischen den beiden Seiten wiederzubeleben, auch wenn diese Organisation seit 1989 bei der Konfliktprävention und Konfliktlösung nur noch eine untergeordnete Rolle spielt.

Alles hier Gesagte setzt voraus, dass die euroatlantische Gemeinschaft kontinuierlich weiter gefestigt wird. Dass diese Gemeinschaft in der Lage ist, einem gemeinsamen Kurs zu folgen und (mit Ausnahme Ungarns) mehr oder weniger ohne Zögern gemeinsam zu entscheiden, war für Wladimir Putin eine Überraschung und hat an Russlands bisherigen Rückschlägen an der Front ebenso entscheidenden Anteil wie die Entschlossenheit der Ukraine.

Die EU sollte sich vom Einstimmigkeitserfordernis in ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verabschieden

Es zeigt sich, dass die bestehenden Verfahrensabläufe und Mechanismen sowohl in der EU als auch in der NATO leicht an neue Erfordernisse angepasst werden können (wenn es zum Beispiel um die Finanzierung von Rüstungsgütern geht, die über die Europäische Friedensfazilität an die Ukraine geliefert werden). Euroatlantische Einigkeit wird weitgehend durch konkreten Ad-hoc-Dialog – auch in informellen Formaten – und bis zu einem gewissen Grad auch durch den moralischen Druck seitens der öffentlichen Meinung erzielt. Jetzt müssen die Entscheidungsprozesse, die in solchen Situationen greifen, institutionalisiert und gestrafft werden.

Die unabdingbare Voraussetzung dafür ist Zusammenhalt. Der Sicherheitsdialog der EU sollte eine klar strukturierte Dauereinrichtung werden. Die Union sollte sich vom Einstimmigkeitserfordernis in ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verabschieden, damit sie schnell entscheiden und auf veränderte Situationen flexibel reagieren kann. Ihr Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, der bislang durch den EU-Vertrag praktisch entmachtet wird, sollte mit echten Kompetenzen ausgestattet werden. Der Europäische Auswärtige Dienst sollte in ein eigenständiges diplomatisches Corps umgewandelt werden. Die Mitgliedstaaten sollten sich bereiterklären, die von ihren Nachrichtendiensten und ihrer Spionageabwehr gewonnenen Informationen (einschließlich sensibler Daten) ohne Wenn und Aber untereinander auszutauschen.

Darüber hinaus sollte die EU eigene militärische Kapazitäten aufbauen, bestehend aus nationalen Kampfverbänden in Form voll ausgerüsteter „schwerer“ Bataillone, die auf dem Territorium des jeweiligen Mitgliedstaates stationiert werden, sofort einsatzbereit sind und nach denselben Verfahren operieren, die in der NATO gelten. Zur Abschreckung Russlands nach dem Krieg dürften 20 solcher Einheiten ausreichen.

Dem demokratischen Westen bietet sich eine besondere Chance.

Dieses Maßnahmenpaket würde sicherlich als schwierige, anspruchsvolle Herausforderung empfunden. Die Verbündeten und die anderen Mitgliedstaaten davon zu überzeugen, würde einige Anstrengung erfordern. Gelingen könnte dies mit einer bilateralen polnisch-deutschen Initiative (beide Länder sind Partner, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln komplizierte Erfahrungen mit Russland gemacht haben) oder mit einer trilateralen Initiative über das Weimarer Dreieck – immer unter der Voraussetzung, dass alle Partner bereit sind, sich dieser Perspektive anzuschließen.

Dem demokratischen Westen bietet sich eine besondere Chance. Wie in den Jahren 1989 bis 1991 kann er sich wieder von dem Schatten befreien, der seit Jahrzehnten auf seinen Möglichkeiten und seinem politischen Handeln liegt. Zugleich kann er beinahe den gesamten Kontinent wirklich zusammenführen. Manchmal – nicht oft – können sich aus düsteren Ausgangsbedingungen vielversprechende Wege ins Helle eröffnen. Es wäre bedauerlich, wenn wir diese Chance nicht nutzen würden. Was es jetzt braucht, sind Fantasie, Führungsstärke und Mut.

Bei dem Text handelt es sich um eine gekürzten Ausschnitt aus dem Buch The Disruption of Eastern Policy: Looking East from Warsaw and Berlin.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld