Ende August trat Frans Timmermans, einer der einflussreichsten Politiker in Brüssel, als erster Vizepräsident der Europäischen Kommission zurück, um für das Amt des niederländischen Ministerpräsidenten zu kandidieren. Wie wird seine Kandidatur aufgenommen? Und wie stehen seine Chancen? In den Niederlanden wird der Name Timmermans in linken Kreisen seit drei Jahren hoch gehandelt. Nachdem sich seine Partei Partij van de Arbeid (PvdA) in einer Koalition mit der rechtsliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (Volkspartei für Freiheit und Demokratie, VVD) fünf katastrophale Jahre lang aufgerieben hatte, führte Timmermans sie 2019 in der Europawahl zu einem großartigen Sieg.
Neben den anderen, eher unbekannten Kandidatinnen und Kandidaten für das Europäische Parlament wirkte Timmermans, der drei Jahre als Staatssekretär für Europäische Angelegenheiten, zwei Jahre als Außenminister und fünf Jahre als EU-Kommissar gewirkt hatte, wie ein echter Staatsmann. Das zahlte sich aus: Er gewann persönlich mehr Stimmen, als jede andere Partei für ihre gesamte Liste und verdoppelte die Zahl der PvdA-Sitze. Zum ersten Mal seit 1989 war die PvdA die stärkste niederländische Partei im Europaparlament. Nun hofft die Linke darauf, dass Timmermans dieses Ergebnis bei den Parlamentswahlen am 22. November wiederholen kann.
Seit einiger Zeit intensivieren die niederländischen Grünen (GroenLinks, GL) und die PvdA ihre Zusammenarbeit. Die beiden Parteien beteiligten sich 2021 gemeinsam an der Koalitionsbildung und bildeten einen Block im Senaat, der Ersten Parlamentskammer. Als im Sommer 2023 die niederländische Koalition zerbrach und der langjährige Ministerpräsident Mark Rutte seinen Rückzug aus der Politik ankündigte, entstand im politischen System eine beträchtliche Lücke. Aus Sicht der PvdA war Timmermans mit seiner Erfahrung auf dem internationalen und europäischen Parkett der ideale Kandidat für das Amt. Der Sozialdemokrat, in den vergangenen vier Jahren EU-Kommissar für Klimaschutz, harmoniert zudem gut mit dem Programm der Grünen. Daher beschlossen GroenLinks und PvdA im Sommer, mit einer gemeinsamen Liste anzutreten, und kürten Timmermans ohne Gegenbewerber zum Spitzenkandidaten.
Mit dieser Liste und Timmermans Spitzenkandidatur fahren Grüne und Sozialdemokraten besser, als wenn sie getrennt anträten. Einer aktuellen Umfrage zufolge liegen die grün-sozialdemokratische Liste, die regierenden Rechtsliberalen und der sozialkonservative Newcomer Nieuw Sociaal Contract (Neuer Gesellschaftsvertrag, NSC) gleichauf. Allerdings ist dieser Erfolg weniger der Popularität von Timmermans zu verdanken als vielmehr der Glaubwürdigkeit der gemeinsamen Liste in Klimafragen.
In der breiteren Bevölkerung wird allerdings auch die „Arroganz“ von Timmermans kritisiert.
Timmermans polarisiert: Er ist beliebt bei der grünen und sozialdemokratischen Wählerschaft, der sozialliberalen Partei Democraten 66 (D66) und bei Jüngeren, Gebildeten, Migranten und Frauen. Sie erkennen die Jahre in Brüssel ebenso an wie seine Arbeit für den Klimaschutz. Auch ist er für seine Eloquenz bekannt. Ein Beispiel war sein bewegender Appell an den UN-Sicherheitsrat im Sommer 2014, nachdem von Russland kontrollierte Streitkräfte in der Ukraine das Flugzeug MH17 mit 298 Zivilpersonen an Bord abgeschossen hatten – zwei Drittel von ihnen aus den Niederlanden. Diese progressive Wählerschicht schätzt auch seine Fremdsprachenkenntnisse, denn Timmermans spricht Niederländisch, Englisch, Deutsch, Französisch, Russisch und Italienisch.
In der breiteren Bevölkerung wird allerdings auch die „Arroganz“ von Timmermans kritisiert. Oft heißt es, er habe den Kontakt zu den einfachen Leuten verloren. Dass er neun Jahre in der „Brüsseler Blase“ verbracht hat, verstärkt diesen Eindruck. Im Vergleich zu den beliebten Chefs der beiden anderen großen Parteien – dem Abgeordneten Pieter Omtzigt (NSC) und der neuen VVD-Vorsitzenden und Ministerin für Justiz und Sicherheit Dilan Yeşilgöz, einer konservativen Hardlinerin – schneidet Timmermans schlechter ab in den Bereichen allgemeine Wertschätzung, erwartete Zuverlässigkeit im Amt des Ministerpräsidenten und „Verständnis für die einfachen Leute“. Am besten werden in den Umfragen seine Führungsqualitäten bewertet (aber auch hier liegt er hinter Omtzigt und Yeşilgöz zurück).
Wie erwähnt treten drei Hauptlager gegeneinander an: die Liste aus GroenLinks und Timmermanns PvdA, die regierende VVD und die neu gegründete NSC. Der Wahlkampf kann sich in zwei Richtungen entwickeln. Sowohl die VVD als auch die grün-sozialdemokratische Liste wollen die Wahl zu einem Referendum über den künftigen Ministerpräsidenten machen: Wird es Timmermans oder die neue VVD-Vorsitzende Yeşilgöz? Beide hoffen auf einen Zweikampf. Timmermans und seine Liste wollen die linke, ökologisch orientierte, progressive und pro-europäische Wählerschaft kleinerer Parteien wie der sozialliberalen D66, der euroföderalistischen Volt und der tiefgrünen Tierschutzpartei Partij voor de Dieren (PvdD) hinter sich versammeln. Yeşilgöz und ihre rechtsliberale VVD hingegen haben es auf konservative und rechte Stimmen der rechtsradikal-populistischen Partei für die Freiheit (Partij voor de Vrijheid, PVV), der christlich-demokratischen CDA und der Bauern-Bürger-Bewegung (BoerBurgerBeweging, BBB) abgesehen.
Meinungsumfragen deuten bereits darauf hin, dass viele überlegen, aus strategischen Gründen die grün-sozialdemokratische Liste zu wählen.
Eine ähnliche Dynamik war seit 2003 in fast allen landesweiten Wahlen zu beobachten. Im Jahr 2021 schickte D66 Sigrid Kaag, Ministerin für Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, als Kandidatin für das Ministerpräsidentenamt ins Rennen. Im letzten Monat des Wahlkampfs verdoppelte ihre Partei ihre Zustimmungswerte in den Umfragen und wurde in den Wahlen zweitstärkste Kraft, was vor allem der strategischen Stimmabgabe der sozialdemokratischen und grünen Wählerschaft zu verdanken war. Timmermans hofft nun auf den umgekehrten Effekt. Meinungsumfragen deuten bereits darauf hin, dass viele überlegen, aus strategischen Gründen die grün-sozialdemokratische Liste zu wählen.
Pieter Omtzigts neu gegründeter sozialkonservativer NSC hofft allerdings auf eine andere Dynamik. Mit einem Angriff auf das Establishment, einschließlich VVD und PvdA, will der NSC die politische Kultur in den Niederlanden umkrempeln und das politische System reformieren. Omtzigt hat bereits angekündigt, dass er nicht Ministerpräsident werden will. Er möchte vor allem das Parlament gegenüber der Exekutive stärken. Bei den Parlamentswahlen die Exekutive zu thematisieren, widerspricht dieser Logik. Doch Omtzigts NSC könnte verhindern, dass es zu einem Zweikampf um das Ministerpräsidentenamt kommt, zumal die Partei alle Umfragen anführt. Und seit 1986 wird der Spitzenkandidat der größten Regierungspartei automatisch Ministerpräsident.
Daher ist es alles andere als sicher, dass Timmermans niederländischer Ministerpräsident wird, im Gegenteil: Von den Vorsitzenden der drei größten Parteien hat er die schlechtesten Aussichten. Doch Timmermans muss nicht alle Wählerinnen und Wähler überzeugen. Es reicht, wenn die gemeinsame Liste von Grünen und Sozialdemokraten zur stärksten Kraft wird. Dazu muss dreierlei geschehen: Erstens muss die gemeinsame Liste das linksprogressive Wählerpotenzial, das sich derzeit auf GroenLinks, PvdA, Volt und D66 verteilt, hinter sich versammeln. Zweitens muss sich die rechtskonservative Wählerschaft auf VVD, PVV und BBB aufspalten. Und drittens müssen Omtzigt und sein NSC, die derzeit an der Spitze liegen, an Kraft einbüßen.
Aus dem Englischen von Anne Emmert