Am 19. September 2023 begann Aserbaidschan eine groß angelegte Offensive entlang der Kontaktlinie zur selbsternannten Republik Bergkarabach. Die Militäroperation folgte einer etwa neunmonatigen Blockade, die die Bevölkerung von Bergkarabach an den Rand einer großen Hungersnot gebracht hatte. Nach 24 Stunden intensiver Kriegshandlungen gaben die Verantwortlichen in Bergkarabach den Forderungen Aserbaidschans nach, zu denen die Entwaffnung und Auflösung der Verteidigungsarmee ebenso gehörte wie die Aufnahme von Gesprächen mit Aserbaidschan über die „Eingliederung“ der Region im Rahmen der aserbaidschanischen Verfassung.
Die jüngste Militäroffensive hat gravierende humanitäre Folgen. Tausende von Zivilpersonen werden vermisst, viele wurden mutmaßlich getötet, ganze Dörfer sind von aserbaidschanischem Militär umzingelt und von der Außenwelt abgeschnitten. Bis zu 5 000 armenische Zivilpersonen haben im Hauptquartier der russischen Friedensmission nahe dem Flughafen von Stepanakert Schutz gesucht. Seit aserbaidschanisches Militär in den ersten Stunden der Operation Funkmasten und andere Telekommunikations-Infrastruktur zerstört hat, gibt es in der Region kaum Internet und Mobilfunk.
Die Zukunft der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach ist unklar.
Die Zukunft der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach ist unklar. Die allermeisten Menschen möchten die Region verlassen, weil ihre Grundrechte unter aserbaidschanischer Herrschaft nicht gewährleistet sind. Doch auch die Evakuierung, die einer ethnischen Säuberung gleichkommt, birgt Gefahren, da Aserbaidschan gegen Tausende armenischer Männer ermittelt und diese beim Versuch, den Latschin-Kontrollpunkt zu passieren, festnehmen könnte. Am Morgen des 21. September trafen sich in der aserbaidschanischen Stadt Jewlach Vertreter der armenischen Bevölkerung von Bergkarabach mit der aserbaidschanischen Seite. Noch während des Treffens aber nahm Aserbaidschan den Beschuss von Stepanakert (der Hauptstadt von Bergkarabach) wieder auf; aserbaidschanische Soldaten drangen in die Stadt ein, sodass das Leben von 60 000 Menschen unmittelbar in Gefahr war.
Neben den dramatischen humanitären Folgen wird der erneute Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach auch erhebliche Auswirkungen auf die Sicherheit in der Region haben. Die Entwicklungen signalisieren allen Akteuren, dass rohe Gewalt die einzige Währung ist, die zählt. Nur fünf Tage vor der neuen Offensive erklärte in den USA Yuri Kim, die stellvertretende Staatssekretärin für europäische und eurasische Angelegenheiten, in einer Anhörung des Senatsausschusses für Außenpolitik, die Vereinigten Staaten würden – kurz- oder langfristig – keine ethnischen Säuberungen oder andere Gräueltaten gegen die armenische Bevölkerung von Bergkarabach dulden. Die EU-Führung, darunter der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel, forderte mehrfach, die Blockade des Latschin-Korridors zu beenden, und betonte, wie wichtig es sei, die Rechte der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach zu gewährleisten. Die offensichtliche Missachtung dieser Forderungen durch Aserbaidschan und die demonstrative Gewalt machen deutlich, dass der Westen insgesamt die Entwicklung in der Region kaum mehr beeinflussen kann. Allerdings hat Aserbaidschan mit seiner Offensive auch die Russische Föderation gedemütigt, deren Friedenstruppen nach dem Krieg 2020 in Bergkarabach stationiert wurden, um die armenische Zivilbevölkerung zu beschützen.
Aserbaidschan kann frühere Vereinbarungen jederzeit brechen und sich sowohl über die USA als auch über Russland hinwegsetzen.
Wenn man davon ausgehen muss, dass Aserbaidschan frühere Vereinbarungen jederzeit brechen und sich sowohl über die USA als auch über Russland hinwegsetzen kann – welche Garantien gibt es dann, dass ein neues Abkommen nicht schon nach wenigen Wochen oder Monaten im Mülleimer der Geschichte landet? In den vergangenen Wochen hat die armenische Führung Russland mehrmals gezielt verärgert und Botschaften an den Westen ausgeschickt – etwa, als die Frau des Premierministers Kiew besuchte oder als das Land beschloss, das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu ratifizieren. Man hoffte wohl, die USA und die EU würden der bevorstehenden aserbaidschanischen Offensive Einhalt gebieten. Wie sich zeigte, war das reines Wunschdenken.
Die Offensive und die Auflösung der Enklave Bergkarabach durch Aserbaidschan widerspricht der Erklärung vom 10. November 2020, die auch eine Einigung über die Wiederherstellung der Kommunikationsinfrastruktur sowie die Öffnung der Verkehrswege zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave Nachitschewan über armenisches Gebiet enthielt. Das Vorgehen der aserbaidschanischen Regierung erschwert erheblich einen Abschluss der Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan.
Die zweite Demütigung Armeniens innerhalb von drei Jahren wird die innenpolitische Lage im Land weiter destabilisieren. Ministerpräsident Nikol Paschinjan hat seine Unterstützung bereits weitgehend eingebüßt. Bei den Kommunalwahlen am 17. September in Jerewan (der Hauptstadt Armeniens, in der 40 bis 45 Prozent der Gesamtbevölkerung leben) erhielt Paschinjans Partei 33 Prozent der Stimmen gegenüber rund 80 Prozent im September 2018. Die Wahlbeteiligung war mit weniger als 30 Prozent extrem niedrig. Die De-facto-Auflösung von Bergkarabach, die enormen Verluste in der Zivilbevölkerung und der mögliche Zustrom von 70 000 bis 80 000 Flüchtlingen nach Armenien werden Paschinjans Position weiter schwächen. Die Opposition hatte mit einem neu gegründeten Ausschuss bereits auf seinen Rücktritt hingewirkt, und am 19. und 20. September kam es bei Kundgebungen im Zentrum von Jerewan zu Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Polizei.
Auf lange Sicht wird die Entscheidung Aserbaidschans, Bergkarabach mit militärischen Mitteln an sich zu reißen, den Kreislauf der Gewalt zwischen den beiden Ländern weiter ankurbeln. In Armenien und in der Diaspora werden viele ihre Kräfte bündeln, um das Land zu stärken und Rache zu nehmen. Die aserbaidschanische Regierung pflegt die Vorstellung eines „westlichen Aserbaidschan“, nach der weite Teile Armeniens historisch zu aserbaidschanischem Territorium gehören. Dies und Forderungen von aserbaidschanischer und türkischer Seite, den sogenannten „Sangesur-Korridor“ zu öffnen, um Aserbaidschan mit Nachitschewan und der Türkei zu verbinden, werden dazu führen, dass die kommenden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, im Südkaukasus weiter von Eskalation, Kriegen und menschlichem Leid geprägt sein werden.
Aus dem Englischen von Anne Emmert