Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

Recep Tayyip Erdoğan hat es geschafft, er kann die Türkei für weitere fünf Jahre regieren. Wie ist nach Erdoğans Sieg die Stimmung im Land?

Die Stimmung ist so gespalten wie das Land selbst. Am Sonntagabend haben tausende Menschen den Wahlsieger Erdoğan am Präsidialpalast in Ankara bejubelt, bis spät in die Nacht fuhren Autokorsos durch die Straßen. Das ist aber nur der eine Teil der Türkei, denn knapp die Hälfte der Bevölkerung hat eben auch gegen Erdoğan gestimmt. Diejenigen, die auf einen politischen Wandel, auf Veränderungen hin zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit g­­­­­ehofft hatten, sind jetzt tief enttäuscht. Ein Wechsel schien greifbar nah und ist am Ende doch gescheitert. Bei den Wahlen ging es für viele nicht nur um eine neue Regierung, sondern um eine andere Zukunft, die sie für sich und ihr Land herbeisehnen.

Auch wenn der Ausgang der Wahlen in der Opposition zunächst für Enttäuschung gesorgt hat: Der Sieg von Amtsinhaber Erdoğan in der zweiten Wahlrunde fiel mit 52 zu 48 Prozent knapper aus, als viele Beobachterinnen und Beobachter erwartet hatten. Es ist der Opposition erstmals gelungen, eine breite Allianz über die politischen Lager hinweg zu bilden. Für einen Machtwechsel hat es zwar letztendlich nicht gereicht, aber der starke gesellschaftliche Wille zu einem politischen Wandel, zu Demokratie ist doch offenbar geworden – und das trotz höchst unfairer Ausgangsbedingungen.

Die Türkei befindet sich aufgrund der seit Monaten anhaltenden Inflation und des verheerenden Erdbebens in der Krise. Warum hat es das Oppositionsbündnis und sein Kandidat Kemal Kılıçdaroğlu nicht geschafft, dies in einen Sieg umzuwandeln?

Es ist wirklich erstaunlich, dass die hohe Inflation und der spürbare Wohlstandsverlust großer Teile der Bevölkerung kaum zu einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse geführt hat. Auch in den Erdbebengebieten hat die AKP deutlich weniger an Zustimmung verloren als erwartet. Die Bindung der Wählerinnen und Wähler an das Regierungslager ist trotz aller Krisen nach wie vor stark. Auch wenn das Oppositionsbündnis aus sechs Parteien etwas hinzugewonnen und das Regierungsbündnis an Zustimmung verloren hat, bleiben die Kräfteverhältnisse insgesamt sehr ähnlich im Vergleich zu der Wahl von 2018. Man darf hierbei allerdings nicht außer Acht lassen, dass der politische Wettbewerb unter höchst ungleichen und unfairen Bedingungen stattfand. Ein Teil der Opposition ist in Haft, mit einem Politikverbot belegt oder befindet sich in laufenden Gerichtsverfahren. Die Medienlandschaft ist fast vollständig von der Regierung kontrolliert, die Sendezeit, die der Opposition eingeräumt wird, ist marginal.

Die Bindung der Wählerinnen und Wähler an das Regierungslager ist trotz aller Krisen nach wie vor stark.

Kemal Kılıçdaroğlu hat sich in seinem Wahlkampf stark auf die wirtschaftlichen Sorgen der Menschen fokussiert. Ihm blieben für seine Kampagnen aber vor allem Soziale Medien und Online-Medien, die deutlich weniger Reichweite haben als die staatlichen Fernsehsender. Gleichzeitig hatte die Regierung etliche Mittel in der Hand, um Währungskrise und Wohlstandsverlust in den letzten Monaten abzumildern: Lohnerhöhungen, kostenlose Gaslieferungen für Haushalte und Neubauprojekte im Erdbebengebiet sind nur einige davon. Präsident Erdoğan hat bei seinen Wahlkampfauftritten zudem stark auf Polarisierung gesetzt und gezielt Ängste geschürt. In Wahlkampfauftritten polemisierte er gegen Minderheiten und rückte das Sechs-Parteien-Bündnis und seinen Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu wiederholt in die Nähe von Terrororganisationen. Diese Strategie scheint verfangen und größere Wechsel in das Bündnis um Kılıçdaroğlu, der für eine Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung entlang von religiösen und kulturellen Identitäten angetreten ist, verhindert zu haben.

Auch Kemal Kılıçdaroğlu versuchte zuletzt mit scharfen Tönen gegen Geflüchtete zu punkten. Ist die Türkei mit dieser Wahl weiter nach rechts gerückt?

Die eigentlichen Gewinner der Wahl sind in der Tat die rechts-nationalistischen Kräfte. Vor der Stichwahl haben beide Lager mit scharfen Tönen gegen Geflüchtete um die Stimmen des drittplatzierten Kandidaten, Sinan Oğan, geworben. Dieser wurde in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl vom ultra-nationalistischen ATA-Bündnis unterstützt. Das Bündnis spaltete sich letztendlich: Sinan Oğan stellte sich an die Seite von Präsident Erdoğan, die stärkste Partei des Bündnisses, die nationalistische Siegespartei (Zafer Partisi), unterstützte Kemal Kılıçdaroğlu. Der nationalistische Überbietungswettbewerb im Stimmenfang hat das gesellschaftliche Klima gegen Geflüchtete weiter vergiftet. Auf das Wahlergebnis scheint er hingegen keine großen Auswirkungen gehabt zu haben: Der Abstand zwischen den beiden Kandidaten verringerte sich im Vergleich zur ersten Runde kaum, reduzierte sich lediglich von 2,54 auf 2,33 Millionen Stimmen.

Der nationalistische Überbietungswettbewerb im Stimmenfang hat das gesellschaftliche Klima gegen Geflüchtete weiter vergiftet.

Auch wenn man sich die Ergebnisse der Parlamentswahl anschaut, haben hier vor allem die rechtskonservativen, nationalistischen Parteien gewonnen. In allen politischen Lagern konnten diese ihre Stimmanteile mindestens halten oder schnitten sogar besser ab als erwartet. Im AKP-geführten Regierungsbündnis sind erstmals Abgeordnete der islamistischen Neuen Wohlfahrtspartei (Yeniden Refah Partisi) und der kurdisch-islamistischen HÜDA PAR vertreten. Das türkische Parlament wird also noch einmal deutlich konservativer und nationalistischer.

Welche Auswirkungen könnte das Ergebnis auf die Entwicklung der Demokratie in der Türkei haben?

Viele Menschen sind sehr besorgt, dass jetzt mit weiteren Rückschritten mit Blick auf Menschenrechte, Demokratie und Medienfreiheit zu rechnen ist. Diese Sorgen begründen sich zum einen mit Blick auf das aktuelle Regierungsbündnis. Die erwähnten islamistischen Parteien stellen frauenfeindliche Forderungen, sie wollen unter anderem die Aufhebung eines Gesetzes zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und hetzen gegen LGBTQI+. Hinzu kommen die Erfahrungen der Wahlkampagnen der letzten Wochen. Das gesellschaftliche Klima für LGBTQI+, für Geflüchtete sowie für ethnische und religiöse Minderheiten hat sich deutlich verschlechtert. Statt zu einer Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung beizutragen, haben die Wahlen diese vertieft. Noch in der Wahlnacht gab sich der neu gewählte Präsident in seiner Balkonansprache zwar zunächst versöhnlich („niemand hat verloren, alle 85 Millionen haben gewonnen“), schlug dann aber schnell wieder schärfere Töne an. Hinzu kommt: Bereits im Frühjahr 2024 stehen die Kommunalwahlen an. Bei den letzten Wahlen in 2019 konnte die Opposition hier deutliche Gewinne verzeichnen und sich wichtige Großstädte wie Istanbul, Ankara und Izmir sichern. Die Zeit der Wahlkampagnen ist daher noch lange nicht vorbei.

Es wird sich zeigen, ob die Regierung in den kommenden Wochen einen versöhnlicheren Kurs einschlägt. Die Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, sind immens – vor allem die Währungskrise spitzt sich weiter zu, auch wenn die Zentralbank einen größeren Absturz des Lira-Kurses bisher verhindert hat. Die Regierung wird bald gezwungen sein, wirtschafts- und finanzpolitische Antworten auf die Krise zu finden. Polarisierung wird ihr hierbei nicht helfen.