Ist das Rennen schon gelaufen? Am 25. September wählen die Italienerinnen ihr neues Parlament, und will man der Wahlforschung Glauben schenken, dann steht das Resultat jetzt schon fest. Die Rechte kann auf einen glatten Sieg hoffen und Giorgia Meloni – Chefin der stärksten Rechtspartei, der postfaschistischen Fratelli d’Italia (FdI; „Brüder Italiens“) – könnte Italiens zukünftige Ministerpräsidentin werden.

Auf den ersten Blick erschließt es sich keineswegs, warum die Rechte schon gewonnen haben sollte. Den letzten Umfragen zufolge kommt Melonis FdI auf 25 bis 26 Prozent, die rechtspopulistische und europaskeptische Lega unter Matteo Salvini wird bei 12 Prozent gehandelt und Silvio Berlusconis Forza Italia wird ein Ergebnis von 7 bis 8 Prozent prognostiziert. Damit darf der gesamte Rechtsblock auf etwa 46 Prozent hoffen.

Allerdings kamen auch die Kräfte links der politischen Mitte zuletzt auf einen ganz ähnlichen Wert von circa 45 Prozent. Der gemäßigt linken Partito Democratico (PD) unter Enrico Letta werden 20 bis 22 Prozent vorhergesagt und ihren verbündeten kleinen Parteien weitere 6 Prozent, die Movimento5Stelle („Fünf-Sterne-Bewegung“) unter dem früheren Ministerpräsidenten Giuseppe Conte kommt in Umfragen auf 12 Prozent und die Mitte-Liste der beiden Kleinparteien Azione und Italia Viva kann mit 6 bis 7 Prozent rechnen.

Das italienische Wahlrecht belohnt Einheit und bestraft Spaltung.

Es sieht also eigentlich nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus, ähnlich wie im Jahr 2006, als die damals von Romano Prodi angeführte Mitte-links-Allianz das Mitte-rechts-Lager unter Berlusconi mit hauchdünnem Abstand besiegte. Diesmal ist allerdings kein Foto-Finish zu erwarten – aus dem schlichten Grund, dass die Rechte geeint antritt, das Mitte-links-Lager dagegen zweifach gespalten ins Rennen geht.

Das italienische Wahlrecht belohnt Einheit und bestraft Spaltung, denn 37 Prozent der Sitze im Abgeordnetenhaus und im Senat werden nach dem Mehrheitswahlrecht in den Personenwahlkreisen vergeben. Die Rechte schickt im gesamten Land je einen gemeinsamen Kandidaten ins Rennen, die Mitte-links-Kräfte dagegen treten pro Personenwahlkreis mit drei Kandidaten an: einer für die PD und ihre verbündeten Kleinparteien, einer für die Fünf Sterne und einer für die Listenverbindung Azione-Italia viva. Deshalb gilt es bereits als ausgemacht, dass die Rechte das Gros der Direktmandate erobern wird und im Parlament am Ende mit mindestens 60 Prozent der Sitze rechnen kann.

Und es ist eine Rechte, die in Europa mit gutem Grund Sorge weckt. Zwar versucht Berlusconi das europäische Ausland zu beruhigen, indem er sagt, seine Forza Italia bürge für europäische Zuverlässigkeit, schließlich gehöre sie im Europäischen Parlament zur Parteienfamilie der EVP. Allerdings ist Berlusconi, von 1994 bis 2018 Anführer der stärksten Kraft im Mitte-rechts-Lager, heute nur noch der kleine Juniorpartner und wurde von der Lega und der FdI klar überholt – diese stehen im Gegensatz zur Forza Italia nicht etwa in einer liberalkonservativen Tradition, sondern setzen auf harten Rechtspopulismus.

Meloni ist in den Augen der rechten Wählerschaft immer „kohärent“ geblieben und stand in den letzten zehn Jahren zu allen Regierungen in Opposition.

Mit diesem Kurs punktete in den letzten Jahren zunächst die Lega. Entstanden als Kraft, die die Interessen des reichen Nordens gegen das „diebische Rom“ und den „parasitären Süden“ des Landes bis hin zum Sezessionismus vertrat, unternahm sie unter Salvinis Parteiführung ab 2013 eine 180-Grad-Wende. Von einem Tag zum anderen mutierte die Lega zur ultra-nationalistischen Kraft („Italiener zuerst“) und ihre Feindbilder waren fortan Migrantinnen und Migranten sowie die internationalen „Eliten“, allen voran Brüssel. Salvini erkämpfte 2018 mit diesem Kurs 17 Prozent für die Lega, die 2013 noch bei 4 Prozent herumgedümpelt war, bildete dann die Regierung mit den Fünf Sternen unter Ministerpräsident Giuseppe Conte und übernahm das Amt des Innenministers, das er für seine migrantenfeindliche Politik der „geschlossenen Häfen“ nutzte. All das katapultierte ihn bei den Europawahlen 2019 wiederum auf sensationelle 34 Prozent, woraufhin er die Koalition mit den Fünf Sternen brach, in der Hoffnung, es käme umgehend zu Neuwahlen. Dies Hoffnung jedoch zerschlug sich, da die M5S eine Koalition mit der PD einging, erneut unter Conte.

In den folgenden drei Jahren erodierte der Konsens der Lega zugunsten von Melonis FdI. Programmatisch unterscheidet die beiden Parteien recht wenig: Sie stehen für „traditionelle Werte“ und damit gegen LGBTIQ*-Rechte, wollen die Immigration stoppen und halten nicht viel von der EU in ihrer gegenwärtigen Verfassung. Meloni aber hatte und hat auf ihrer Seite, dass sie in den Augen der rechten Wählerschaft immer „kohärent“ geblieben ist und in den letzten zehn Jahren zu allen Regierungen in Opposition stand, während die Lega sich zuletzt auch an der seit Februar 2021 regierenden Notstandskoalition der nationalen Einheit unter Mario Draghi beteiligte. Infolgedessen wurde Meloni zur neuen Hoffnungsträgerin rechts der Mitte.

Meloni führt einen für eine Populistin völlig untypischen Wahlkampf.

Meloni weiß nur zu gut, welche Sorgen sie jenseits der Grenzen vor allem in Europa auslöst und führt deshalb einen für eine Populistin völlig untypischen Wahlkampf, der vor allem darauf abzielt, beruhigende Signale auszusenden. So wird sie nicht müde zu betonen, dass Italien unter ihr weiterhin entschlossen an der Seite der Ukraine stehen und seinen europäischen Verpflichtungen nachkommen werde, und dass sie den Wählerinnen keine großen Versprechen machen könne – während Berlusconi und Salvini sich wie gewohnt mit Steuersenkungsverheißungen überbieten.

Der Wahlkampf zeigt deutlich, dass sie die besten Chancen hat, die zukünftige Regierungschefin in Rom zu werden. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums stellt sich nun die Frage, ob die Mitte-links-Kräfte ein solches Szenario hätten verhindern können.

Immerhin hatten die PD und die Fünf Sterne seit der Bildung ihrer Regierungskoalition im Sommer 2019 über drei Jahre hinweg beide auf die Schaffung einer progressiven Allianz hingearbeitet und PD-Chef Letta wollte mit der breiten Mitte-links-Allianz campo largo, „weites Feld“, bei den nächsten Wahlen antreten. Doch dann überwarfen sich die beiden Parteien im Juli 2022, als die Fünf Sterne unter dem mittlerweile zu ihrem Parteichef aufgestiegenen Conte aus der Notstandskoalition unter Draghi austraten. Lettas PD verteidigte diese Koalition dagegen mit großer Entschlossenheit – und sah nach ihrem Bruch auch die Allianz mit den Fünf Sternen über den Haufen geworfen.

Seitdem konkurrieren die beiden Parteien vor allem am linken Rand, anstatt zu kooperieren. Beide setzen auf ein progressives Profil und wollen vor allem die unteren und mittleren Einkommensgruppen ansprechen. Und auch in der politischen Mitte erfährt die PD Konkurrenz durch die Liste Azione-Italia Viva, die eine Reformlinie im Stil Emmanuel Macrons vertritt. So führen die Mitte-links-Kräfte ihren Wahlkampf vor allem untereinander, anstatt eine Allianz gegen Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia zu bilden – zur großen Freude Melonis, Salvinis und Berlusconis.