Die politischen Wellen schlagen hoch in Südosteuropa, seit am 14. April die slowenische Onlineplattform Necenzurirano ein Non-Paper veröffentlicht hat. Ein solcher Text ist kein offizielles Dokument, sondern ein nicht bindendes Diskussionspapier. Die Urheberschaft wird Janez Janša zugeschrieben, Sloweniens rechtspopulistischem Premierminister mit besten Verbindungen zu Viktor Orbán. Das Papier, von dem das slowenische Außenministerium nichts gewusst haben will, soll bereits im Februar an EU-Ratspräsident Charles Michel geschickt worden sein.
Beklagt wird darin unter anderem das „Chaos“ und das Nicht-Funktionieren staatlicher Institutionen in Bosnien und Herzegowina. Das „Hauptproblem“ im Westbalkan seien die „ungelösten nationalen Angelegenheiten der Serben, Albaner und Kroaten“. Die „Lösungen“, die dann vorgeschlagen werden, mögen auf den ersten Blick nüchtern und pragmatisch klingen. In Wirklichkeit sind sie ein Skript zur Schaffung ethnisch homogener Nationalstaaten, was in den 1990er-Jahren Kriegsziel war. Sie wecken schlimmste Erinnerungen an Genozid und ethnische Säuberungen: Das Kosovo solle mit Albanien vereint werden und der serbische Teil des Kosovo einen Sonderstatus erlangen; größere Teile der serbischen Entität Bosnien und Herzegowinas sollen an Serbien fallen, während der überwiegend kroatische Teil der zweiten Entität entweder mit Kroatien vereint werden oder einen Sonderstatus bekommen solle.
Bereits im September 2020 hatte Borut Pahor, der sozialdemokratische Präsident Sloweniens, bei seinem Staatsbesuch in Nordmazedonien in einer Rede vor dem Parlament davor gewarnt, dass in der Region im Falle einer signifikanten Verzögerung des EU-Erweiterungsprozesses ethnische Grenzziehungen anstelle der existierenden drohen würden. Die historische Erfahrung, so Pahor, zeige die geringe Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Prozess friedlich vonstatten gehen könne.
Diejenigen, die nationalistische Emotionen anheizen wollen und deren Programm ethnischer Irredentismus war und ist, haben ihr Ziel erreicht.
Rückblickend und im Lichte des Non-Papers wirkt die Rede Pahors wie eine Warnung vor den Bestrebungen seines Premierministers und rechtsnationalistischer Kräfte in der Region. Nach eigenen Worten hatte Prahor auch aus Besorgnis vorab das dreiköpfige Staatspräsidium Bosnien-Herzegowinas auf entsprechende Pläne hingewiesen. Vieles rund um dieses Papier, von dem EU-Ratspräsident Michel sagt, er habe es nie erhalten, bleibt ominös. Doch wer auch immer der Autor ist, wer auch immer das Papier durchgestochen hat und auch völlig unabhängig davon, ob es denn tatsächlich nach Brüssel abgeschickt wurde und dort angekommen ist: Diejenigen, die nationalistische Emotionen anheizen wollen und deren Programm ethnischer Irredentismus war und ist – also die Ideologie, dass möglichst alle Menschen einer Ethnie in einem Staat leben sollen –, haben ihr Ziel erreicht.
Teile des Papiers sollen Necenzurirano zufolge in Budapest geschrieben worden sein. Der politische und wirtschaftliche Einfluss Ungarns hat beträchtlich zugenommen, seit Janša im März 2020 zum zweiten Mal Regierungschef wurde. Gleichzeitig entwickelte er einen autoritär-rechtsradikalen Politikstil, den die slowenische Europaabgeordnete Tanja Fajon die „Orbanisierung Sloweniens“ nennt.
Keine besonders guten Aussichten für die slowenische EU-Ratspräsidentschaft, die am 1. Juli beginnt. Denn abgesehen von der politischen Wirkung im Westbalkan ist das slowenische Non-Paper auch ein Beispiel dafür, wie rechtspopulistische Regierungen die EU von innen zu spalten versuchen. Die (berechtigte) Erregung darüber spielt zudem der nationalistischen kroatischen Regierungspartei HDZ und ihrem bosnisch-herzegowinischen Ableger in die Hände, die mit vermeintlich moderateren Konzepten hartnäckig ihre Agenda einer eigenen dritten Entität vorantreiben, weil die kroatische Bevölkerungsgruppe in der Föderation Bosnien-Herzegowina angeblich diskriminiert werde und politisch unterrepräsentiert sei.
Doch auch wenn eine Umsetzung ethnischer Grenzziehungen zum Glück nicht bevorsteht, ist der politische Schaden bereits da.
Nun sind nationalistischer Separatismus und Grenzziehungen entlang von Ethnien beileibe keine neuen Ideen, sondern vielmehr Ursachen des alten Übels, das den Balkan seit Jahrhunderten immer wieder in den Abgrund von Hass und Gewalt stürzen lässt. Aus sehr guten Gründen hat allen voran die Bundesregierung auch in der jüngeren Vergangenheit daher wiederholt Vor-stößen eine Absage erteilt, die Anerkennung des Kosovo durch Serbien mittels eines Gebietsaustausches zu erreichen. Doch längst nicht alle außerhalb der Region haben verstanden, wie gefährlich das Zündeln am Pulverfass Ethno-Nationalismus ist.
Immerhin, die Reaktionen aus Europa und den USA waren eindeutig: Die EU-Delegation und die Botschafter der EU-Staaten in Bosnien und Herzegowina bekräftigten in einer gemeinsamen Erklärung die Souveränität, Einheit und territoriale Integrität des Landes. Fast wortgleich äußerte sich die amerikanische Botschaft. Staatsminister Michael Roth schrieb auf Twitter, die Staaten des Westlichen Balkan hätten nur eine Zukunft als multi-ethnische und multi-religiöse Gesellschaften. Doch auch wenn eine Umsetzung ethnischer Grenzziehungen zum Glück nicht bevorsteht, ist der politische Schaden bereits da. Traumata kehren bei den Menschen zurück, die Belagerung, Vertreibung und Krieg erlebt haben. Das Bild der „Büchse der Pandora“, die geöffnet ist – in den Medien der Westbalkanstaaten ist es dieser Tage allgegenwärtig.
In Bosnien und Herzegowina sind viele insbesondere in der bosnisch-muslimischen Bevölkerung fassungslos, wie erneut von außen über ihre Köpfe hinweg die Zerschlagung ihres Landes skizziert wird. Dabei ist es genau dasselbe Szenario, das seit dem Dayton-Friedensabkommen von 1995 insbesondere aus der serbischen Entität Bosnien und Herzegowinas heraus betrieben wird. Es vergeht kaum ein Tag, an dem in Person von Milorad Dodik nicht das serbische Mitglied des Staatspräsidiums die Grundlagen des eigenen Staates unterminiert und einen aggressiven serbischen Irredentismus befeuert. Entsprechend fiel auch seine Reaktion auf das Non-Paper aus. Er werde, erklärte Dodik unverblümt, weiter auf eine „friedliche Auflösung“ Bosnien und Herzegowinas hinarbeiten. Die Heuchelei ist altbekannt: Diejenigen, die für die Dysfunktionalität der staatlichen Institutionen verantwortlich sind, sind auch diejenigen, die sie am lautesten beklagen.
Gerade jetzt Segregationsbestrebungen zu schüren, ergibt aus Sicht russischer Außenpolitik durchaus Sinn.
Obwohl sich der serbische Präsident Aleksandar Vučić in den Debatten um das Non-Paper bislang auffällig zurückhält, weisen politische Beobachter darauf hin, dass das Dokument eindeutig Vučićs Handschrift trage, was wiederum auf Rückendeckung aus Moskau schließen lässt. Gerade jetzt für zusätzliche Verunsicherung in Bosnien und Herzegowina zu sorgen und Segregationsbestrebungen zu schüren, ergibt aus Sicht russischer Außenpolitik durchaus Sinn.
Die Schutzmacht der (bosnisch-)serbischen Sache befindet sich derzeit im offenen Konflikt mit der EU und den USA in der Frage einer Nachfolgeregelung für den seit zwölf Jahren amtierenden österreichischen Diplomaten Valentin Inzko als Hohem Repräsentanten für die Umsetzung des Dayton-Friedensvertrages. Während von deutscher Seite der ehemalige Landwirtschaftsminister Christian Schmidt als Nachfolger ins Gespräch gebracht wurde, will Russland gar keine Neubesetzung und fordert stattdessen die Schließung des Büros des Hohen Repräsentanten. Ob das Telefongespräch zwischen der Bundeskanzlerin und Putin am 8. April in dieser Frage eine Annäherung gebracht hat, ist bislang unklar.
Derweil haben sich der oder die Autoren des Non-Papers in ihrem Elaborat schon Gedanken über die erwartbaren Reaktionen gemacht: Sollte sich im Zuge eines vertraulichen Klärungsprozesses herausstellen, dass eine Zustimmung zu dem Plan bei regionalen und internationalen Entscheidungsträgern nicht garantiert werden könne, so heißt es darin lapidar, würde „das Non-Paper bis auf weiteres ein Non-Paper bleiben“. Doch so einfach ist es leider nicht. Der Geist ist einmal mehr aus der Flasche. Die Dämonen des aggressiven völkischen Nationalismus vergiften aufs Neue den westlichen Balkan.