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Der ehemalige deutsche Außenminister und heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier definierte die Rolle Deutschlands in Europa einmal als die eines „Chefmoderators”. Frankreich scheint nun unter Macron den neuen Part des europäischen „Chefstörers“ gefunden zu haben. Dass diese beiden Ansätze nicht gerade gut zusammenpassen, liegt auf der Hand. Vor allem für die mittel- und osteuropäischen Staaten scheint Macron der sprichwörtliche Fuchs im Hühnerstall zu sein. Die Liste jüngster Aktionen, die ihn in diesen Ländern suspekt machen, ist lang und meist mit Russland verbunden. Abgesehen von seiner Bemerkung, die NATO sei „hirntot“, rief Macron auch ohne jede Koordination mit Deutschland, die Mittel- und Osteuropäer zu einer Annäherung an Russland auf.

Zuerst forderte Macron im August 2019 auf der Botschafterkonferenz eine Neubewertung der Beziehungen zu Russland: Distanz zu Moskau sei ein großer strategischer Fehler, erklärte er. Es folgte ein französischer Fahrplan, der Abrüstung, Sicherheitsdialog und Krisenmanagement in den Mittelpunkt rückt und von dem neu ernannten Sondergesandten für Russland Pierre Vimont umgesetzt werden soll. Im Vorfeld des G7-Gipfels traf sich Macron mit Wladimir Putin und entsandte seine Europa-, Außen und Verteidigungsminister nach Moskau, um den bilateralen Dialog fortzuführen. Zudem regte er an, den russischen Vorschlag eines Moratoriums für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen zu prüfen, der von der NATO als nicht glaubhaft eingestuft wurde.

Das französische Veto zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien und Albanien spielte in den Augen mittel- und osteuropäischer Staaten Russland in die Hände.

Die letzte und entscheidende Aktion war das französische Veto zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien und Albanien, das in den Augen mittel- und osteuropäischer Staaten Russland in die Hände spielte. Macrons strategische Neuausrichtung gegenüber Moskau nährte auch Befürchtungen, dass Frankreich im Dezember 2019 auf dem Pariser Treffen im Normandie-Format die Ukraine zu Eingeständnissen drängen könnte, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen und eine scheinbar schnelle Lösung mit Russland zu erreichen. Dieses Misstrauen wurde durch Macrons Rhetorik geschürt.

Zwar behauptet Macron, „keinesfalls naiv zu sein“, doch liegt er mit seinen Aussagen teilweise auf einer Wellenlänge mit russischen Kommentatoren, vor allem wenn er sagt, in den 1990er und 2000er Jahren sei durch eine Reihe von „Missverständnissen“ der Eindruck entstanden, dass Europa als „Trojanisches Pferd für den Westen agiert, das letztendlich darauf aus ist, Russland zu zerstören“. Ein russischer Analyst erklärte gar, Macrons Ansichten zur europäischen Sicherheit und zur Weltordnung deckten sich mit denen des russischen Präsidenten, und gelangte zu dem Schluss: „Macron ist unser Mann“.

Das ist freilich eine grobe Simplifizierung von Macrons Position. In Wahrheit betont Macron, Europa könne sich im veränderten internationalen Umfeld eine konfliktbeladene Beziehung zu Russland nicht leisten, denn auf diese Art werde Europa nie strategische Autonomie erlangen und immer weiter abhängig sein von Entscheidungen der USA und Russlands.

Macron will Russland eine strategische Alternative zu China anbieten, denn Moskau werde „zwangsläufig“ vor die Entscheidung gestellt, ob es ein „kleiner Verbündeter Chinas“ bleiben wolle.

Damit Europa in einer künftigen von der bipolaren US-chinesischen Rivalität geprägten Welt als relevanter Akteur auftreten könne, so Macron, bräuchten Europa und Russland eine „gemeinsame Front“. Vor allem will Macron Russland eine strategische Alternative zu China anbieten, denn Moskau werde „zwangsläufig“ vor die Entscheidung gestellt, ob es ein „kleiner Verbündeter Chinas“ bleiben wolle. Macrons Logik erinnert an die traditionelle gaullistische Geopolitik: In einer Zeit starker Rivalitäten zwischen den USA und China muss Europa auf eigenen Füßen stehen, und dazu gehört, dass es sich mit seinem mächtigsten Nachbarn Russland versteht. Das ist laut Macron umso relevanter, als Russland wegen der „Schwäche“ des Westens in vielen Regionen mittlerweile eine Schlüsselrolle übernimmt und ein russisch-chinesisches Bündnis nicht im europäischen Interesse wäre.

Diese geopolitische Logik ist auf den ersten Blick überzeugend: Wenn eine Wiederannäherung an Russland aus geopolitischen Erwägungen notwendig ist, weil Europa Russland als Verbündeten gegen ein immer mächtigeres China braucht, warum sollte man dann nicht eine mildere Haltung gegenüber Russland einnehmen? Eine solche Denkweise birgt jedoch zwei Irrtümer in sich. Erstens wird ein bedingungsloses Entgegenkommen Europas Moskau nicht dazu bringen, sich zwischen Europa und China zu entscheiden; vielmehr wird Russland vermutlich beide gegeneinander ausspielen. Die Europäer überschätzen sich erheblich, wenn sie glauben, einen Keil zwischen Russland und China treiben zu können, indem sie bessere Beziehungen anbieten oder Sanktionen aufheben. Russland zieht traditionell bilaterale Beziehungen zu einzelnen Mitgliedsstaaten einer starken EU vor. Zweitens haben die Veränderungen im internationalen Gefüge nicht zu einer Veränderung in Russland geführt. Von innenpolitischen Repressalien über die Verletzung internationaler Normen bis hin zur Einmischung: Die russische Politik ist und bleibt eine Herausforderung für sich und lässt sich im Vergleich zu China nicht als das „kleinere Übel“ einordnen.

Die Europäer überschätzen sich erheblich, wenn sie glauben, einen Keil zwischen Russland und China treiben zu können, indem sie bessere Beziehungen anbieten oder Sanktionen aufheben.

Heißt das nun, dass Macrons Forderung nach einer Annäherung an Russland und einem Dialog von vornherein falsch und fehlgeleitet ist? Nein. Allerdings hängt sie stark von den Rahmenbedingungen ab. In seiner Rede vor den Botschaftern sprach Macron von einer „Wiederannäherung, begleitet von harten Bedingungen“. Ob sich Macrons neue Russlandstrategie bewährt, wird sich daran entscheiden, wie weit er die bestehenden roten Linien zu überschreiten bereit ist: Sanktionen, die Minsker Abkommen und Russlands Rückkehr in die G8. Fortschritte entlang dieser Leitplanken sind überaus wünschenswert, doch wie der Normandie-Gipfel gezeigt hat, könnte es schwieriger werden, als Macron sich das vorstellt.

Allerdings hat Macron Recht, wenn er sagt, dass Europa stärker in geopolitischen Dimensionen denken muss. Wenn aber die Europäer ihre Vorbedingungen für einen strategischen Dialog mit Russland lockern, könnte sich daraus keine europäisch-russische Win-win-Situation, sondern vielmehr ein doppelter Gewinn für Russland ableiten. Europa kann sich nur behaupten, wenn es die Prinzipien, Regeln und Werte, auf denen es fußt, bewahrt. Gäbe Europa diese Prinzipien aus vermeintlicher geopolitischer Not auf, beträte es unbekanntes Terrain. Vor allem für die osteuropäischen Nachbarländer hätte dieses Szenario Folgen. Wenn ein Entgegenkommen für Russland bedeutet, dessen Anspruch auf eine russische Einflusssphäre in Mittel- und Osteuropa zu akzeptieren, wäre das ein gefährlicher Präzedenzfall.

Und schließlich sollte Macon nicht Fehler der Vergangenheit wiederholen. Aus der Meseberg-Initiative Deutschlands von 2010 kann man hier einiges lernen: Ohne vorherige Koordination schloss Deutschland damals mit Russland ein Abkommen über die Einrichtung eines politischen und sicherheitspolitischen EU-Russland-Komitees, im Gegenzug für eine russische Konfliktlösung in Transnistrien. Die Reaktionen aus Brüssel und den Hauptstädten der EU-Mitgliedsstaaten waren, gelinde gesagt, verhalten. Macron muss seinen Ehrgeiz und die Einbeziehung Europas unter einen Hut bringen, wenn er die Sicherheitszusammenarbeit mit Russland verbessern will. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht er allerdings ein geeintes Europa – andernfalls wird er als Leichtgewicht gelten, und das nicht nur in Moskau.

Aus dem Englischen von Anne Emmert

Der Beitrag erschien zuerst in New Eastern Europe.