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Mehrere voneinander unabhängige Ereignisse in jüngster Zeit deuten darauf hin, dass die Entwicklung Europas in eine neue Phase tritt. Wie diese Phase genau aussehen wird, vermag niemand vorherzusagen. Doch die Ära, in der man ein gesamteuropäisches Haus errichten wollte mit Methoden, die unmittelbar nach dem Kalten Krieg entwickelt wurden, ist augenscheinlich vorbei.

Die Präsidentschaftswahl in der Ukraine fand einen unerwarteten Ausgang, nicht nur, weil der neue Präsident ein ehemaliger Kabarettist und Schauspieler ist, sondern auch weil sein Vorgänger eine krachende Niederlage hinnehmen musste. Egal, was die Menschen von Petro Poroschenko hielten: Er verkörperte jedenfalls eine klare politische Weltsicht und verfolgte geradlinig das Ziel, sich um jeden Preis von Russland zu entfernen und dem Westen anzunähern.

Im benachbarten Moldawien ereignete sich unterdessen ein kleines Wunder. Diverse Gegner des Staatschefs – die sich dafür eingesetzt hatten, ihr Land sowohl nach Russland als auch nach Europa zu öffnen – befreiten das Land gemeinschaftlich von dem Oligarchen, der den Staat im Grunde in Privateigentum überführt hatte. Dieser ungewöhnliche Bund wurde von Moskau, Brüssel und Washington unterstützt.

Die politische und ideologische Struktur Europas verändert sich.

Nachdem Russland 2014 wegen seiner Verstrickung in der Ukraine sein Stimmrecht in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) eingebüßt hatte, hatte diese dem Land fünf Jahre lang eine Rückkehr in die Organisation verweigert. Nun vollzog sie plötzlich innerhalb weniger Wochen eine Kehrtwende und hieß Russland wieder in ihrem Kreis willkommen.

Massenproteste in Georgien schließlich, ausgelöst vom verunglückten Auftritt eines russischen Duma-Abgeordneten im georgischen Parlament, zogen nicht etwa die übliche Propagandaschlacht in Russland, der EU und den Vereinigten Staaten nach sich, sondern lediglich müdes Schulterzucken.

Diese Ereignisse bedeuten durchaus nicht, dass nach Jahren der Krise endlich die lang erwartete Annäherung zwischen Russland und führenden europäischen Ländern begonnen hätte. Etwas anderes ist im Gange: Die politische und ideologische Struktur Europas verändert sich.

Nachdem am 1. Juli zwanzig Stunden lang vergeblich versucht worden war, neues Personal für wichtige EU-Posten zu wählen, erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron: „Wir müssen unsere Regeln ändern. ... Solange wir unsere zwischenstaatlichen Verfahren nicht reformieren, wird es uns international und vor unserer Wählerschaft an Glaubwürdigkeit mangeln, und wir werden die EU nicht vergrößern können.“

Die EU wird die Ukraine darin bestärken, eine weniger konfrontative Beziehung zu Russland zu finden, was erfreulicherweise auch dem Wählerwillen entspricht.

Die jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament gaben der neuen Realität eine äußere Form. Diese ist nicht, wie viele befürchtet hatten, dem Triumph antieuropäischer Kräfte geschuldet. Ursache ist vielmehr die Fragmentierung der politischen Landschaft, die Verfahren behindert. Darüber beschwerte sich Macron nach Gesprächen mit einem nicht enden wollenden Strom von Beteiligten, die alle gehört werden mussten. Das ist vermutlich erst der Anfang, und der EU steht noch ein umfassender Umbau bevor. Dieser Umbau muss nicht bis ins Kleinste geplant sein – vieles wird sich spontan und von selbst ändern.

Die EU wird nun Jahre damit verbringen, ihre internen Probleme zu lösen. Kraft, Bereitschaft und Ressourcen, sich mit der externen Struktur zu befassen, werden dadurch erheblich geschmälert. Die Hauptaufgabe besteht jetzt in einer Minimierung von Risiken und Aufwand.

Man wird somit die Ukraine darin bestärken, eine weniger konfrontative Beziehung zu Russland zu finden, was erfreulicherweise auch dem Wählerwillen entspricht. Die Geschehnisse in Moldawien entsprangen dem Bestreben, staatlichen Institutionen zumindest teilweise wieder Geltung zu verschaffen, damit sie selbstständig funktionieren. Georgien wiederum ist geographisch weit weg und hat keine Priorität.

Es ist nicht so, dass das Interesse Europas völlig erlahmt wäre, es wird nur in eine andere Kategorie überführt. Nach der Logik der europäischen Idee waren die Länder in der „Nachbarschaft“ der EU ein wichtiger Teil des Projekts: Eine für die Stärke der Union wichtige Leistungskennzahl war die stetige Erweiterung der Eurosphäre. Daraus ergab sich eine langwierige Auseinandersetzung mit Russland, das ständig und immer heftiger reagierte, weil es sich in die Tiefen Eurasiens zurückgedrängt fühlte.

Nur zwei Staaten im Europarat stiften ständig Unruhe, sodass ihre Teilnahme ihm echte Substanz verleiht: Russland und die Türkei.

Nun hat sich die Motivation verändert. Die EU vertritt eine defensive Position, die mit den Worten des transatlantischen Verbündeten als „EU first!“ beschrieben werden könnte. Dahinter steht kein Isolationismus, sondern Pragmatismus. Im Falle der EU – einem integrierten Bündnis, das auf gemeinsamen Werten gründet –, bedeutet dieser Pragmatismus, dass die Union ihre Kernideen revidiert und die Ausübung von Macht, auch weicher Macht, in den Hintergrund rückt.

In diesem Kontext sind die Geschehnisse in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates besonders interessant. In Russland wie auch in der Ukraine (die die Rückkehr der russischen Delegation abgelehnt hatte) wird der Sinneswandel der PACE gern mit rein finanziellen Beweggründen erklärt, denn Russland entrichtet für die Mitgliedschaft jedes Jahr 33 Millionen Euro. Aber es geht nicht nur ums Geld. Russlands Rückzug aus dem Europarat – mit dem das Land gedroht hatte, sollte es seine vollen Rechte nicht zurückbekommen – hätte die gesamte Organisation ihrer Existenzberechtigung beraubt.

Die meisten Mitglieder des Europarats sind entweder in der EU oder sie stehen ihr nahe wie die Balkanländer. Die Probleme Armeniens und Aserbaidschans, ja sogar die der Ukraine, sind zu klein, als dass man eine so große Organisation dafür in Stellung bringen müsste. Nur zwei Staaten im Europarat stiften ständig Unruhe, sodass ihre Teilnahme ihm echte Substanz verleiht: Russland und die Türkei. Der Austritt Russlands hätte für den türkischen Präsidenten Recep Erdoğan einen Präzedenzfall geschaffen, den er zu seinem Vorteil hätte nutzen können.

Für einen eventuellen Konflikt mit Russland gibt es anders als im Kalten Krieg keine klare Struktur; vermutlich wäre er launenhaft und unbeständig.

Die Dekonstruktion des „Europäischen Hauses“ macht es erforderlich, diverse Segmente der europäischen Welt zu sanieren. Das gilt umso mehr, als es für einen eventuellen Konflikt mit Russland anders als im Kalten Krieg keine klare Struktur gibt; vermutlich wäre er launenhaft und unbeständig.

Früher galt als Hauptinstrument für diese Art der Kommunikation die OSZE, doch die Zeiten haben sich geändert. Es mag überraschen, doch der Europarat könnte die Rolle der OSZE als einziges Gremium, das alle an einen Tisch bringt und somit als kleinster gemeinsamer Nenner agiert, für sich beanspruchen. Der Europarat wird nicht mehr gebraucht, um Mitglieder zur Einhaltung bestimmter Normen zu zwingen. Er wird gebraucht, um Gemeinsamkeiten zu finden in einer Zeit, in der Europa zunehmend zersplittert.

Wird der strategische Dialog wieder aufgenommen, so wird er jedenfalls zwischen Russland und den Vereinigten Staaten stattfinden. Für alle anderen Fragen aber reicht der Europarat völlig aus, nicht zuletzt, weil Washington mit seinen derzeit eigenwilligen Volten darin keinen Sitz hat.

Die ungewöhnlichen Ereignisse der jüngsten Zeit markieren den Beginn einer neuen Ära, die wieder mehr Selbstbestimmung einfordert. Zuallererst betrifft das Länder, die auf beiden Seiten Nachbarn sind: Sie haben sich daran gewöhnt, im Zentrum einer erbitterten Schlacht zu stehen, und zur Politik gehörte dort stets, dass man sich geopolitisch entscheiden musste, was allzu oft eine Strategie für die eigene Entwicklung ersetzte.

Die Beziehung zwischen Russland und der EU tritt in eine neue Phase ein, in der irgendwelche Ziele so lange irrelevant sind, bis der weltweite Umbau der politischen Landschaft – sowohl global als auch in einzelnen Ländern – zumindest vage Konturen für die Zukunft erkennen lässt. Der Bau eines Hauses mag eingestellt werden, aber vielleicht kommen wir ja jetzt auch ohne Befestigungsmauern zurecht.

Aus dem Englischen von Anne Emmert

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