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Am 2. März erklärte die griechische Regierung, für einen Monat lang die Annahme neuer Asylanträge auszusetzen. Die Maßnahme war eine Reaktion auf die außergewöhnlichen Umstände, die durch die Ankunft tausender Geflüchteter an der griechisch-türkischen Grenze entstanden sind.
Mit der Entscheidung Griechenlands, seine Grenzen zur Türkei zu schließen, nahm ein absurdes Theater seinen Lauf: Dabei ließ der türkische Innenminister verlauten, die griechische Entscheidung sei „unrechtmäßig und beschämend“ – gleichzeitig aber hat die Türkei selbst die Genfer-Flüchtlingskonvention nur mit einer geographischen Beschränkung ratifiziert. Sie erlaubt nur europäischen Bürgern, Asyl zu beantragen. Aus diesem Grund hatten sich Menschenrechtsorganisationen geschlossen gegen die gemeinsame Erklärung der Europäischen Union und der Türkei vom März 2016 im Rahmen des sogenannten EU-Türkei-Deals ausgesprochen. Denn für nicht-europäische Asylsuchende ist die Türkei per Definition kein „sicherer Drittstaat".
Nach den jüngsten Ereignissen hält die EU an der griechischen Entscheidung fest, die Genfer-Flüchtlingskonvention auszusetzen – zumindest schweigt sie und bleibt apathisch. Dies führt zu einer absolut paradoxen Situation: Die EU – selbsternannter Eckpfeiler des Schutzes der Menschenrechte in der Welt – erklärt ihre Solidarität mit einem Mitgliedsstaat, der die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ausgesetzt hat. Währenddessen kritisiert mit der Türkei ausgerechnet ein Land, das sich in der Praxis nicht an die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention hält, dies als einen „beschämenden" Akt. Nicht unerwähnt sollte hier jedoch bleiben, dass dasselbe Land bereits mehr als vier Millionen Flüchtlinge und Migranten aufgenommen hat.
In dieser komplizierten Realität gibt es keine unschuldigen Akteure. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat die Migrationsbewegung konsequent als Vergeltungsmaßnahme instrumentalisiert, um Druck auf die EU auszuüben und Griechenland zu destabilisieren. Erdoğan hat diese Politik skrupellos so weit verfolgt, dass die Türkei sich zu einem regelrechten Schurkenstaat entwickelt hat.
Unbestreitbar ist, dass er ein machiavellistisches Spiel betreibt, indem er Menschen an die griechischen Grenzen lotst. Das sollte jedoch nicht dazu führen, dass diese Individuen jeglichen internationalen Schutzes beraubt werden. Die Menschen haben das unbestreitbare Recht, an „die Tür eines Staates zu klopfen", um Schutz zu suchen und auch an dieser „Türschwelle“ anzukommen und zwar unabhängig davon, ob sie Hilfe erhalten oder nicht. So sieht es der Grundsatz des Schutzes vor Zurückweisung vor.
Die EU – selbsternannter Eckpfeiler des Schutzes der Menschenrechte in der Welt – erklärt ihre Solidarität mit einem Mitgliedsstaat, der die Genfer Flüchtlings-konvention von 1951 ausgesetzt hat.
Gleichzeitig führte die Antwort der griechischen Regierung zu einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung: Indem die Genfer Flüchtlingskonvention ausgesetzt wurde, wurde de facto auch das Recht auf Asyl suspendiert. Dem liegt die Annahme zugrunde, es gebe einen substanziellen Unterschied zwischen dem, was 2015 als humanitäre Krise wahrgenommen wurde, und dem, was jetzt als gut inszenierter türkischer Erpressungsversuch gegenüber Griechenland wahrgenommen wird und bei dem Tausende von Geflüchteten und Migranten an die EU-Außengrenze gedrängt werden. Es ist bemerkenswert, dass sogar Alexis Tsipras, Erster Vorsitzender der Partei SYRIZA, diese Unterscheidung übernimmt.
In dieser düsteren Atmosphäre ist es der UNHCR, der unsere Grundlagen der internationalen Menschenrechtsnormen verteidigt. Die griechische Regierung stützt ihre Entscheidung auf Artikel 78, Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU, der sich auf Notfallsituationen an den Außengrenzen bezieht. Der UNHCR weist jedoch darauf hin, dass das international anerkannte Recht auf Asyl und das Prinzip der Nicht-Zurückweisung dennoch nicht einfach ausgesetzt werden kann.
Der Europäischen Union ist es gelungen, sowohl Griechenland als auch die Türkei in einem Wettbewerb des Zynismus und des Anti-Humanitarismus zu übertrumpfen. „Die Situation an unserer Grenze ist nicht nur eine Frage der griechischen Behörden, sondern liegt in der Verantwortung Europas als Ganzes", erklärte Ursula von der Leyen nach ihrem Besuch an der griechisch-türkischen Grenze. Die EU ist bereit, den illegalen Grenzübertritt um jeden Preis zu stoppen.
Europawissenschaftler, die dazu neigen, bedingungslos alles zu beschönigen, was das Siegel „europäisch" trägt, werden nun mit folgender Tatsache konfrontiert: Die EU belohnt einen Mitgliedsstaat dafür, dass er eine internationale Menschenrechtsnorm nicht etwa nur nicht garantiert, sondern ausdrücklich verletzt.
Der Europäischen Union ist es gelungen, sowohl Griechenland als auch die Türkei in einem Wettbewerb des Zynismus und des Anti-Humanitarismus zu übertrumpfen.
Der Begriff der „Solidarität" erhält hier eine neue, schmutzige Konnotation. Es ist nicht die Solidarität mit der edlen Sache, dem Schutz von Individuen vor Verfolgung, sondern eine Solidarität mit dem Schutz von Staaten gegen Individuen. Staaten, die unter dem Vorwand des unrechtmäßigen Verhaltens eines dritten Staates handeln. Griechenland wird – symbolisch und finanziell – dafür belohnt, den Wachhund des europäischen Hofes zu spielen. Natürlich sind weder Griechenland noch die Türkei die Hauptverantwortlichen – trotz ihrer jeweiligen Verantwortlichkeit dafür, die Rechtsstaatlichkeit zu demolieren. Der Hauptanstifter bleibt die EU – eine Union von Staaten mit einer Gesamtbevölkerung von einer halben Milliarde Menschen, die 2015 eine offensichtliche Aufnahmekrise in eine „Flüchtlingskrise" umgewandelt hat, nur um ihre mangelnde Bereitschaft zur Aufnahme von mehr als einer Million Neuankömmlingen zu maskieren (mit Ausnahme von Deutschland und Schweden, zumindest in den Jahren 2015-2016). Mehr denn je ist heute klar, dass die EU nicht versucht, Geflüchtete zu schützen. Ihr einziges Ziel ist es, sich mit allen erforderlichen Mitteln vor Flüchtlingen zu schützen. Dies ist ein beschämendes Kapitel in der europäischen Geschichte.
Und das Schlimmste steht noch bevor. Vigilantismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit tauchen in Griechenland wieder auf. Der Hass spaltet die griechische Gesellschaft und stellt den hart erarbeiteten sozialen Zusammenhalt eines Landes infrage, das sich gerade von einer langen und vielschichtigen Krise erholt. Eine lokale Behörde in Lesbos hat bereits Kontrollpunkte an den Grenzen zu der benachbarten Gemeinde eingerichtet, in der Migranten und Geflüchtete ankommen. Auf derselben Insel, die noch vor vier Jahren als Beispiel für Solidarität mit den ankommenden Flüchtlingen gefeiert wurde.
Mehr als je zuvor werden in Griechenland Menschenrechtsaktivisten als naive Opfer der skrupellosen türkischen Erpressung oder schlimmstenfalls als Feinde in den eigenen Reihen gesehen. Wir sind an dem Punkt angelangt, an dem die Flüchtlingsfrage einen Keil in die griechische Gesellschaft treibt. Wenn wir vor diesem Hintergrund nicht reagieren, werden die Grenzen der Ausgrenzung neu gezogen, und in diesem Fall sind nicht nur die Menschenrechtsnormen bedroht.
Aus dem Englischen von Marius Mühlhausen