Seine Familie kann man sich bekanntlich nicht aussuchen. Feinde kann man sich machen. Vor ihrem Parteitag diese Woche sah sich die britische Labour Party – die sich immer als große Familie verstand, zu der auch die Gewerkschaften gehören – vor einer Zerreißprobe. Die Fliehkräfte der verschiedenen Lager zehren an der Partei und rauben ihr Kraft in den dringenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Zukunft des Wohlfahrtsstaates und den Umbau zu einer klimaneutralen Wirtschaft. Im Badeort Brighton brach während des lang ersehnten Parteitages nach der Pandemie erneut ein Sturm über die Delegierten herein, in dessen Tosen die wichtigste Nachricht des Treffens fast unterzugehen drohte: Labour will den Brexit-Schaden wieder richten. Den Brexit erfolgreich machen – so lautet die neue Vision.
Anfang September rückte die lang ersehnte Trendwende in Sicht. Pünktlich zur Mitte der Wahlperiode überholte Labour – „die Opposition ihrer Majestät“ – die regierenden konservativen Tories in der Gunst der Wählerschaft. Boris Johnsons Konservative fielen erstmals unter die 40-Prozent-Marke und Labour legte zu. Die Partei verfügt also weiterhin über ein Potential, das sie zu Recht darauf hoffen lässt, die nächste Regierung stellen zu können. Mit ihrem neuen Vorsitzenden Keir Starmer, der als Pragmatiker dem Mitte-Rechts-Lager zugerechnet wird, schien sie die Führungskrise überwunden zu haben, die zuletzt in einem Parteiausschlussverfahren gegen den ehemaligen sozialistischen Parteiführer Jeremy Corbyn gipfelte. Programmatisch hatte es seither jedoch keine Neuerung gegeben.
Labour will den Brexit-Schaden wieder richten.
Das britische Mehrheitswahlrecht kennt nur einen Sieger. Es macht die Arbeiterpartei damit zu einem Sammelbecken von Mitgliedern, die sich von sehr weit links bis sehr weit rechts im politischen Spektrum einordnen. Die Labour Party schweißt auf diese Weise „Familienmitglieder“ auf Gedeih und Verderb zusammen, die sich sonst schon lange voneinander getrennt hätten. Im durchgeschüttelten Gefüge des britischen Parteiensystems könnte ihr das zum Verhängnis werden, wenn sie es nicht schafft, interne Widersprüche zwischen den führenden Personen und der Programmatik abzubauen. Dies hatte Starmer erkannt und die Partei an der Küste zu einer Klärung zusammengerufen.
Trotz der verordneten Kur in Brighton blieb Labour gefangen in ideologischen Auseinandersetzungen, Antisemitismus-Diskussionen und identitätspolitischem Streit. Der Kongress litt unter den Nachwehen des Parteiausschlussverfahrens um Corbyn. Führende Köpfe stolperten über ihre Aussagen zu Transpersonen, und der Generalsekretär sah sich wegen Reformen in der Parteizentrale starken Angriffen ausgesetzt. Buchstäblich in letzter Minute setzte Starmer eine höchst umstrittene Änderung der Parteistatuten durch, die die Fraktion stärken und die Wahl eines Parteivorsitzenden vom Schlage Jeremy Corbyns künftig verhindern soll. Kandidierende benötigen ab jetzt die Stimmen von mindestens 20 Prozent der gewählten Labour-Abgeordneten. Starmers Flügel schien sich endgültig durchzusetzen. Auch der letzte Corbynist im Schattenkabinett, Andy McDonald, warf medienwirksam das Handtuch. Andere prominente „Familienangehörige“ wie Sharon Graham, die neue Vorsitzende der Gewerkschaft Unite, zogen es vor, angesichts der Streitigkeiten gar nicht erst anzureisen. Die jüdische Abgeordnete Louise Ellmann, die Labour aus Protest verlassen hatte, trat dagegen wieder in die Partei ein. Die Bindung Starmers zur Parteilinken, für die Corbyn stand, scheint endgültig gekappt. In einem Zeltlager vor dem Kongressgelände feierte diese ihr eigenes Festival und wirkte zumindest mit sich selbst im Reinen – ausgelagert, am Katzentisch.
Die Bindung Starmers zur Parteilinken, für die Corbyn stand, scheint endgültig gekappt.
Angesichts des „Familienkrachs“, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog, berichtete die Presse kaum über das 35 Seiten lange Papier, das Keir Starmer zur Vorbereitung des Parteitags verfasst hatte. Es soll Labour bis zu den nächsten Parlamentswahlen durch weitere Stürme navigieren. In The Road Ahead beschreibt Starmer „den Weg nach vorn“: seine Vision einer Labour Party, die bereit ist zur Regierungsübernahme. Premierminister Boris Johnson und die Tories bieten genügend offene Flanken, die es zu attackieren gilt. Die Auswirkungen des Brexits und der Pandemie sind dramatisch. Einkommensschwache Familien fürchten einen Winter ohne Heizung, dafür aber mit gekürzter Sozialhilfe. Systemrelevante Beschäftigte erreichen wegen fehlenden Benzins ihren Arbeitsplatz nicht. Vor den Türen des nationalen Gesundheitsdienstes NHS warten 5,5 Millionen Menschen auf einen Arzttermin. Für das dringendste Thema der Gegenwart, den Klimawandel, und die bevorstehende UN-Klimakonferenz COP 26 bleibt Johnson angesichts der mittlerweile bedrohlich gewordenen Brexit-Misere keine Zeit.
Die Gewerkschaften, die wichtigsten „Verwandten“ der Labour Party, hatten – auch im Hinblick auf die COP 26 in Glasgow – pünktlich zum Parteitag ihre Hausaufgaben erledigt und einen Forderungskatalog an die Regierung Johnson vorgelegt. Zu Beginn des Kongresses warteten dann alle gespannt auf die Politikvorschläge der Labour-Führung: Wie will die Partei die sozialökologische Transformation gestalten? Wie mit den Brexit-Folgen umgehen? Wie kann die wachsende Ungleichheit nachhaltig bekämpft werden? Doch anstatt darauf Antworten zu geben mündete die Diskussion in erneute Auseinandersetzungen.
Labour hat seinen eigenen Kompass gefunden: „Make Brexit work!“ heißt die Devise.
Schattenwirtschaftsminister Ed Miliband warb überzeugend für ein Green Britain, nur um von Starmer mit Blick auf seinen Vorschlag zur Verstaatlichung der Energieversorger wieder zurückgepfiffen zu werden. Überraschend offen widersprach Schattenfinanzministerin Rachel Reeves dem Parteivorsitzenden in der Frage der möglichen Wiederaufnahme der Arbeitsmigration. Während Starmer Boris Johnsons Vorschlag, 5 000 LKW-Fahrern aus der EU Sondervisa auszustellen, noch übertrumpfen will, forderte Reeves die Einrichtung einer unabhängigen Kommission, die sektorenunabhängig über die Anzahl von Arbeitserlaubnissen entscheiden solle. Andere Mitglieder des Starmer-Teams wie Angela Rayner und Andy McDonald überwarfen sich schließlich in der Frage der genauen Höhe des Mindestlohns. Wie einen Fetisch trug McDonald 15 Pfund Stundenlohn vor sich her, obwohl sehr schnell klar wurde, dass dies nur ein Vorwand für seinen bevorstehenden Rücktritt sein konnte. Von den Zeitungskiosken am Strand von Brighton schrie es tagelang „Labour vor dem Bürgerkrieg“ – keine Schlagzeile, die Regierungsbereitschaft signalisiert.
Am Ende des Kongresses gelang es Starmer mit seiner versöhnlichen und zum Teil sehr persönlichen Abschlussrede, den Wind zu drehen. Er skizzierte die sehnsüchtig erwartete neue programmatische Linie. Unter tosendem Applaus erläuterte er seinen Green New Deal, umfassende Ausbildungsinitiativen, Investitionen in den öffentlichen Sektor und die Verbesserung des Zugangs zu psychotherapeutischen Maßnahmen nach der Pandemie. Labour sei die einzige Partei, die die Krise nach dem EU-Austritt in den Griff bekommen könne. Mögen die Tories mit ihren alten Schlachtrufen von „Get Brexit done!“ und „Get back control!“ in den nächsten Wahlkampf ziehen. Labour hat seinen eigenen Kompass gefunden: „Make Brexit work!“ heißt die Devise. Sie soll die Familie zusammenhalten und durch die nächste Wetterfront führen. Als der Parteitag zu Ende war, sah man einen zufrieden wirkenden Keir Starmer am Strand von Brighton spazieren.